Tichys Einblick
Deutschland und Russland

Der Fall Nawalny – Lackmustest deutscher Schwäche

Moskau demonstriert Stärke und Berlin Ratlosigkeit. Deutschland braucht eine neue Kursbestimmung

imago images / Future Image

Im Osten nichts Neues – so könnte man die Haltung der russischen Führung im Fall des Giftanschlags auf das Leben des russischen Dissidenten Alexej Nawalny beschreiben. Die Botschaft hat sich vom ersten Tage an nicht verändert: „Auf russischem Boden wurde Nawalny nicht vergiftet. Deshalb sind auch keine Ermittlungen von russischer Seite notwendig. Der Bitte, Ermittlungsergebnisse der deutschen Behörden zu übermitteln, wurde nicht entsprochen.“ Die Wahrheit indes ist wohl anders. Das einwandfrei festgestellte Nervengift stammt aus russischer Produktion. Und ist aufgrund seines Charakters nicht ohne Täterschaft der Kreml-Spitze einsetzbar. Hinzu kommt, dass es nicht zum ersten Mal zum Einsatz kommt.

Die EU reagierte jetzt mit „Sanktionen“, die in Wahrheit nur symbolischen Charakter haben. Keiner der betroffenen Top-Geheimdienstler in Moskau wird Westreisen vermissen. Dem Einfrieren von Guthaben auf westlichen Banken dürfte man vorgebaut haben. Wer sonst, wenn nicht diese Leute, weiß, wie es geht. Jetzt wird wohl Moskau, wie angekündigt, ein paar leichte Nadelstiche ähnlicher Art gen Westen senden. Beim nächsten beidseitigen Trinkspruch dürfte die Sache wohl vergessen sein. Über ein mögliches Ende des Nordstream-II-Projektes redet jetzt schon niemand mehr.

Apropos reden: Der russische Außenminister Sergej Lawrow demonstrierte dieser Tage, was Stärke und ein gesundes Selbstbewusstsein ist, als er meinte, man solle „vielleicht die Gespräche mit Deutschland für eine Weile unterbrechen, bis man dort wieder vernünftig werde.“ Machtbewusster und arroganter hat sich nur selten in der Geschichte ein Spitzenpolitiker gegenüber einem anderen Land eingelassen. Aber ebenso bezeichnend ist es, dass es bis jetzt keinerlei Reaktionen aus Berlin auf diese Unverschämtheit gegeben hat. Und wie sollte diese denn auch aussehen? Sollte Deutschland etwa die diplomatischen Beziehungen zu Russland einfrieren?

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Eine aberwitzige Vorstellung. Allein schon aufgrund der bereits jetzt vorhandenen Energie-Abhängigkeit der Deutschen von ihren russischen Partnern. Hinzu kommt, dass jede deutsche Regierung Rücksicht auf die Befindlichkeit der eigenen Bevölkerung nehmen muss. Und da zeigen alle Umfragen, dass die Deutschen weitaus mehr Angst vor den Umtrieben des amerikanischen Präsidenten Donald Trump als vor dem Abenteurer im Kreml oder dem chinesischen Diktator Yi haben.

Das Agieren der USA als Großmacht mit weltweiten Interessen stößt in Deutschland auf wenig Verständnis, und schon gar nicht auf Lust, sich daran zu beteiligen. Ohne Schulterschluss über den Atlantik reduziert sich das wiedervereinigte Land in der Mitte Europas sehr schnell auf weniger als eine Mittelmacht. Die wirtschaftliche Stärke und Bonität ruht mehr auf den Trümpfen der Vergangenheit als auf Zukunftsperspektiven. Die beiden starken Säulen unserer Volkswirtschaft, die Automobilindustrie und der Maschinenbau sind in die Jahre und ins Wanken gekommen. Bei der Digitalisierung liegt Deutschland uneinholbar zurück.

Herausforderungen wie der jetzigen Corona-Krise kann nur durch Aufnahme gewaltiger Schulden entgegengewirkt werden. Die für die Souveränität eines Landes kennzeichnende Konfliktbereitschaft ist ohne die USA schlicht nicht gegeben. In Washington aber hat die Ablösung von Europa längst begonnen. Was bleibt also übrig als gegenüber Moskau höchsten die Lippen zu spitzen, ohne jemals pfeifen zu können. Niemand sollte übrigens annehmen, dass sich unter einem Präsidenten Biden die Gegensätze mit den USA vermindern würden. Im Gegenteil. Zur Zeit der Demokraten im Weißen Haus, in denen der Herausforderer Trumps noch Vice-Premier an der Seite Obamas war, war die Stimmung zwischen Washington und Moskau wesentlich eisiger als heute.

Bezeichnend war die Haltung Trumps im Fall Nawalny. Er wisse zu wenig über das Geschehen, um sich eine Meinung bilden zu können. Und das war dann alles. Auf der Sorgenliste jedes amerikanischen Präsidenten steht für die nächsten Jahrzehnte zweifellos China. An diesem Gegner richten sich die amerikanischen Interessen aus. Der Gegensatz zu Russland wird zwar nie verschwinden, rangiert aber an hinterer Stelle und ist ein aktives Handeln zum Schutz der ohnehin als unsichere Kantonisten eingeschätzten Europäer nicht wert. Hinzukommt, dass bedeutende Teile der wirtschaftlichen Elite der Bundesrepublik auf die russische Karte setzen, wie auch die Bereitschaft zu einem Konflikt mit der Atommacht Russlands nur rudimentär bei den Deutschen vorhanden sein dürfte.

So gesehen entpuppt sich die Affäre Nawalny zynischerweise als ein Lackmus-Test für die derzeit vertrakte Situation Deutschlands. Doch muss das wirklich so sein? Henry Kissinger bemerkte einmal zu Recht, Deutschland ist zu groß für Europa und zu klein für die Welt. Diese Tatsache führte im vergangenen Jahrhundert zu zwei schrecklichen Kriegen. Vielleicht findet Deutschland jetzt seinen Ruhepunkt in der Geschichte, indem es sich ausschließlich auf seine wirtschaftlichen Interessen ohne Ansehen seiner Partner konzentriert – also eine Art Pendlernation ohne allzu große moralische Ambitionen. Die Folge wäre ein sachlich freundliches Verhältnis mit den USA und ein intensiv freundschaftlicher Umgang mit Moskau. Denn eines wollen die Russen bestimmt nicht, militärisch gegen Deutschland vorgehen oder es gar besetzen. Betrachtet man die Dinge von dieser Seite, wird einem plötzlich die übereinstimmende Haltung von AfD und Linkspartei verständlich, wobei die AfD Moskau am Ende näher stehen dürfte. Kritik ohne Moral bei gleichzeitig wirtschaftlicher Kraft dürfte dort mehr zu Hause sein als bei den linken Träumern.

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