Tichys Einblick
Frankfurter Tagung zur Immigration

Der Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit aus der fränkischen Provinz

Erdogans Wahlerfolg in Deutschland sollte erst recht Anlass sein, offen über Probleme der Einwanderung zu debattieren. Doch Wissenschaftler, die dies tun, sind mit einem frontalen Angriff konfrontiert. Der Bayreuther Aufruf ist ein Tiefpunkt der akademischen Kultur.

IMAGO / Zoonar

Am vergangenen Wochenende fanden in der Türkei und somit auch hier – für die in Deutschland lebenden Inhaber türkischer Pässe – Wahlen statt. Wie schon bei den letzten Wahlen stimmten die Deutschtürken – soweit sie sich an der Wahl denn beteiligten – mit großer Mehrheit (annähernd 65 Prozent) für Erdogan. Erdogan, der aus dem zweiten Wahlgang Ende Mai wohl abermals als Sieger hervorgehen wird, hat in der Türkei ein illiberales, tendenziell autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das sich u. a. in einem maßlosen Nationalismus manifestiert. Überdies schränkt es die Chancen der Opposition, sich überhaupt öffentlich Gehör zu verschaffen, zunehmend ein.

Von daher ist der Ausgang der Wahl in der Türkei selbst auch keine große Überraschung. Erstaunlicher, wenn auch nur auf den ersten Blick, ist freilich, dass so viele in Deutschland lebende Türken für den amtierenden Präsidenten gestimmt haben. Dies mag zum Teil eine Trotzreaktion sein, mit der die Erdogan-Wähler zum Ausdruck bringen wollen, dass sie die guten Ratschläge, die ihnen deutsche Politiker etwa von den Grünen und manche Journalisten ungefragt aufdrängen, kalt lassen, und dass sie stolz darauf sind, anders zu sein als die „dekadenten“ Deutschen oder „Almans“, die schon lange keinen charismatischen nationalen Führer und echten „strongman“ vom Schlage des türkischen Präsidenten mehr hervorgebracht haben – wobei sie über die einschlägigen düsteren Kapitel der deutschen Geschichte meist wenig nachdenken.

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Die politische Kultur der Türkei ist eben auch aus historischen Gründen eine andere als die deutsche, das muss man vielleicht akzeptieren, so wie wir bis vor kurzem ja auch ohne große Vorbehalte akzeptiert haben, dass ein Mann wie Putin in Russland seine ganz eigenen Methoden hatte, politische Gegner aus dem Weg zu räumen, ohne uns groß darüber zu beklagen. Manche Politiker, darunter auch frühere deutsche Kanzler feiern ja noch heute den Sieg der UdSSR im „Großen Vaterländischen Krieg“ in der russischen Botschaft.
Wir brauchen eine offene Diskussion über den Einfluss der türkischen Religionsbehörde und generell des konservativen Islam in Deutschland

Aber ohne Zweifel spielt bei der Sympathie der Deutschtürken oder ihrer Mehrheit für Erdogan auch der Einfluss des organisierten Islam eine Rolle, der im Fall der Türken zu großen Teilen durch die türkische Religionsbehörde Diyanet in Ankara – über ihren deutschen Ableger Ditib – gelenkt wird. Man kann davon ausgehen, dass die meisten religiös konservativen türkischen Wähler in Deutschland, soweit sie keine Kurden sind, Erdogan gewählt haben, und darin von Seiten der hier amtierenden Geistlichen mutmaßlich meist bestärkt wurden.

Das eigentliche Problem besteht aber nicht darin, dass hier lebende türkische Staatsbürger für Erdogan gestimmt haben – das ist ihr gutes Recht und wir sollten uns vermutlich wirklich mit unseren Ratschlägen an diese Wähler zurückhalten – sondern dass dieselben Männer und Frauen kraft der doppelten Staatsbürgerschaft, die sie nicht selten besitzen, mit ihren Sympathien für die islamistische türkische Regierungspartei AKP auch die deutsche Politik zunehmend prägen. Die etablierten Parteien, vielleicht mit der partiellen Ausnahme der FDP, nehmen auf dieses Wählerreservoir immer mehr Rücksicht. Das gilt seit der „Großkanzlerin“ Merkel und Armin Laschet – einige der Älteren werden sich erinnern, dass er einmal glückloser Kanzlerkandidat der CDU war – nicht zuletzt für die CDU. Und das ganz besonders in NRW, Laschets Heimatland, wo vor kurzem sogar Meldestellen für „antimuslimischen Rassismus“ (ein in sich schon absurder Begriff) eingerichtet wurden; offenbar, so ist es zu vermuten, mit dem Ziel, Kritiker eines antiwestlichen, konservativen Islam von Anfang einzuschüchtern, wenn nicht gar ganz zum Schweigen zu bringen.

Damit macht man sich im Grunde genommen, teils aus Naivität, teils aus Opportunismus die Agenda der AKP und Erdogans zu eigen. Es wundert einen dann auch nicht, dass liberale Muslime, die für einen aufgeklärten Islam und die Historisierung der eigenen Tradition werben – und es gibt sie durchaus – in der deutschen Politik wenig Rückhalt finden. Würde man sie stärker unterstützen. würde man riskieren, die Stimmen der Masse der muslimischen Wähler zu verlieren, also lässt man es lieber.

Prof. Schröter in Frankfurt hat gewagt, Fragen auf die Tagesordnung zu setzen, die man offenbar besser gar nicht erst stellen sollte

Umso verdienstvoller war es gerade mit Blick auf diese unübersehbaren Probleme, dass Susanne Schröter, Professorin der Ethnologie in Frankfurt a. M. auf einer Tagung Ende April nicht nur in Gestalt von Ahmad Mansour einen dieser liberalen Muslime zu Wort kommen ließ, sondern sich auch bemühte, jene Fragen der Migrationspolitik, die seit der späten Merkelzeit meist nur noch beschwiegen werden – z. B. „Wie viel kulturelle Integration brauchen wir?“ und „Wie viel Immigration lässt sich überhaupt noch zahlenmäßig bewältigen?“ – zu erörtern. Dass die Vertreter der politischen Kräfte, die solche Fragen generell tabuisieren wollen, die Konferenz am liebsten verboten hätten, muss kaum betont werden.

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Das gelang ihnen zwar nicht, aber das Schicksal war ihnen dennoch günstig gesonnen. Boris Palmer, seines Zeichens Bürgermeister von Tübingen und berufsmäßiger Provokateur, fiel – durch persönliche Angriffe aufs Blut gereizt – aus der Rolle, und versuchte den Gebrauch des verruchten N-Wortes als Bezeichnung für Afrikaner zumindest in bestimmten Kontexten wortreich zu verteidigen. Das war sicher sehr unklug und man kann nicht leugnen, dass seine Einladung von Anfang an ein wenig riskant war. Andererseits gehörte er in der Vergangenheit eben zu den ganz Wenigen bei den Grünen, die überhaupt bereit waren, offen über Probleme einer vollständig unkontrollierten Immigration zu sprechen. Wir sollten auch nicht vergessen, dass eine Dame, die Deutsche auch schon mal „Kartoffeln“ genannt hat – was sicher nicht als Kompliment gemeint war – dennoch oder vielleicht sogar gerade deshalb Integrationsbeauftrage der Bundesregierung wurde. Die Kritik an Palmer – die in seinem Fall nicht per se unberechtigt ist – erst recht aber an der Veranstalterin der Tagung besaß daher von Anfang an einen Zug ins Heuchlerische, Pharisäerhafte.

Es kam aber noch schlimmer, denn der Vorstand des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2019 mit reichlich Forschungsmitteln in Millionenhöhe geförderten Exzellenzclusters Africa Multiple in Bayreuth fühlte sich bemüßigt, sich in die Diskussion einzumischen. Der Vorstand veröffentlichte im Rahmen eines offiziellen Internetauftritts auf den Web-Seiten der Universität Bayreuth eine scharfe Stellungnahme. Dort sind dann Sätze zu lesen wie: „Zugleich ist es nicht das erste Mal, dass Schröter die Verbreitung diskriminierender, islamfeindlicher und rassistischer Ideologien unter dem Deckmantel der „objektiven Wissenschaft“ begünstigt“. Frau Schröter, einer Kollegin, wird also ganz offen Rassismus unterstellt, um ihre Reputation als Wissenschaftlerin ein für alle Mal zu zerstören und sie im akademischen Umfeld zur Unperson werden zu lassen. So sieht in Bayreuth offenbar die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Positionen aus, die man nicht schätzt. Gilt es Konkurrenten beim Kampf um Forschungsgelder aus dem Weg zu räumen, ist offenbar jedes Mittel recht.

Ein Frontalangriff auf die Wissenschaftsfreiheit im Namen des Kampfes gegen „Nekropolitik“

Dabei blieb es nicht, der Vorstand des Cluster ruft ganz offen dazu auf, Frau Schröters Forschungszentrum zu schließen, dessen Aktivitäten „unverhohlene Demonstrationen weißer deutscher Nekropolitik“ seien, so heißt es wörtlich. Nekropolitik ist ein Schlagwort, das der afrikanische Politikwissenschaftler und Theoretiker Achille Mbembe im Anschluss an Foucault popularisiert hat. Es meint eine Politik, die ihre Macht durch Entscheidungen über Leben und Tod und am Ende auch durch das bewusste Töten von Menschen demonstriert, im Extremfall bis hin zum systematischen Genozid. Für Mbembe ist zum Beispiel die Politik Israels gegenüber den Palästinensern in der Gegenwart die „vollkommenste Form der Nekropolitik“ (Zeit, 31. Juli 2020) Jedenfalls hat Mbembe, der andererseits allerdings darauf beharrt, dass er das Existenzrecht Israels durchaus anerkenne, in der Vergangenheit auch schon Selbstmordattentate in einem, sagen wir, diffus-schillernden, wenn nicht sogar günstigen Licht dargestellt, wenn sie sich gegen die „Nekropolitik“ einer kolonialen Macht, wie sie Israel im Verhältnis zu den Palästinensern aus seiner Sicht darstellt, richten.

Wenn der Vorstand eines großen Forschungsprojektes, das von der DFG finanziert wird, sich den Begriff „Nekropolitik“, der sich, das ist in der Praxis leider so, oft mit einer massiven Relativierung und Verharmlosung des Holocaust verbindet, ohne erkennbare Vorbehalte und nähere Erläuterungen zu eigen macht, ist das von daher keineswegs unbedenklich. Man will den Bayreuther Wissenschaftlern nicht unterstellen, dass sie sich Mbembes überzogene Kritik an Israel als „mörderischer Kolonialmacht“ oder gar seine verklausulierten Sympathien für den Terror als Mittel der „Befreiung“ damit implizit ebenfalls in vollem Umfang zu eigen machen wollen, aber am Ende bleibt der Eindruck, dass der Ausdruck „Nekropolitik“, wenn er so vorbehaltlos verwandt wird, mindestens so gefährlich, wenn nicht deutlich gefährlicher ist als das fatale N-Wort, das der weithin kritisierte schwäbische Bürgermeister versucht hat, zu verteidigen. Wenn Palmer eine „umstrittene“ Figur ist, wie es heute so gerne heißt, dann ist Achille Mbembe trotz oder sogar wegen seiner intellektuellen Brillanz das sicherlich erst recht, und das nicht ohne Grund. Darüber scheint man aber in Bayreuth nicht nachgedacht zu haben, übrigens wohl auch nicht bei der dortigen Universitätsleitung.

Vollends indiskutabel wird die Bayreuther Resolution aber, wenn Frau Schröter und anderen unterstellt wird, sie würden „‘objektive Wissenschaft’ und ‘Wissenschaftsfreiheit’ als weiße bürgerliche Privilegien“ instrumentalisieren, um damit „rassistische Standpunkte […] zu artikulieren“. Diese denunziatorische, diffamierende Sprache verrät, dass die Autoren der Bayreuther Resolution Wissenschaftsfreiheit, so wie sie unser Grundgesetz versteht und garantiert, sehr skeptisch sehen. Man muss sich das Recht auf Wissenschaftsfreiheit, so argumentieren sie im Grunde, überhaupt erst durch die richtige Gesinnung erwerben und eigentlich steht sie auch nur bestimmten Personengruppen zu, eben den vermeintlichen Opfern der Geschichte und ihren westlichen Alliierten, die die gesamte Universität und die westlichen Wissenssysteme heute radikal „dekolonialisieren“ wollen. Das ist eben jene identitätspolitische Intoleranz, die bereits die akademische Kultur in den USA weitgehend zerstört hat. Umso erschreckender ist es, zu sehen, wie viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auch von anderen Universitäten als Bayreuth, zum Beispiel auch aus Freiburg im Breisgau, und schwerpunktmäßig aus den Fachbereichen Afrikanistik und Islamwissenschaft (die sich freilich heute im deutschen Sprachraum ohnehin oft als konsequente Apologie des Islam versteht und damit faktisch eine Art konfessioneller Loyalitätsbindung aufweist), die Bayreuther Resolution unterzeichnet haben.

Mit dem Bayreuther Aufruf hat die akademische Kultur in Deutschland einen absoluten Tiefpunkt erreicht, anders kann man es nicht sagen. Man kann nur hoffen, dass man im FDP-geführten Wissenschaftsministerium in Berlin erkennt, wie groß die Gefahren sind, die von einer solchen Kultur der Denunziation und der Diffamierung ausgehen, und man solchen Entwicklungen energisch entgegentritt. Wir brauchen jedenfalls jenseits des Streites über die Wissenschaftsfreiheit eine Islamwissenschaft, die wagt, dem AKP-Islam, den Erdogan massiv und erfolgreich auch in Deutschland propagiert, mit rationaler Kritik zu begegnen und eine Afrikanistik, die die Beziehungen zwischen Europa und Afrika in historischer Perspektive nicht einfach nur moralistisch als Kampf zwischen guten afrikanischen Herrschern wie den ruhmreichen Königen von Benin etwa, denen wir so viele großartige Kunstwerke verdanken, und bösen europäischen Kolonialherren darstellt. Sind die Voraussetzungen dafür in Bayreuth und andernorts in Deutschland gegeben? Man hat Zweifel.