Tichys Einblick
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Der 1. August: Schicksalstag der Rechtschreibung

Über das Problem Rechtschreibreform sind in der breiteren Öffentlichkeit bis heute zu wenige Informationen bekannt. Zeit, den 1. August als Anlass zu nehmen, um über einige Hintergründe zu berichten.

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Es gibt Tage, die gleich auf mehrere Arten in der deutschen Geschichte eine Rolle spielten. Der 9. November ist ein Beispiel (1918, 1938, 1989), vgl. auch Wikipedia.

Der 1. August ist wiederholt in die Geschichte der deutschen Sprache verwoben, und zwar im Zusammenhang mit der Rechtschreibreform. Das hängt unter anderem mit dem formalen Beginn der Schuljahre zusammen. Der offizielle Beginn für die Rechtschreibreform war am 1.8.1998; die Politik wollte die Reform aber schon zuvor in den Schulen durchdrücken und tat dies in zehn Bundesländern ab 1.8.1996, als anderswo noch überhaupt kein Reformschrieb angewendet wurde. Der 1.8.1998 wurde dann als Starttermin von der Presse verschlafen; die Nachrichtenagenturen und viele Zeitungen stellten erst am 1.8.1999 um. Dann aber stiegen wieder Zeitungen aus der Reform aus, so die FAZ am 1.8.2000. Nach einer größeren Krise der Reform, bei der zahlreiche Zeitungen zur alten Rechtschreibung zurückgekehrt waren (darunter die von Springer), war der 1.8.2005 ein Tag ihrer Wiedereinführung. Weitere erste Auguste spielten eine Rolle in der wirren Geschichte der Reformiererei.

Eine Geschichte der Reform wurde 2016 veröffentlicht in der Zeitung „Deutsche Sprachwelt“ (DSW): Thomas Paulwitz: „Irrungen und Wirrungen: Ein Rückblick auf die Rechtschreibreform“, Teil 1 in DSW 65, Herbst 2016, S. 3, Teil 2 in DSW 66, Winter 2016 / 2017, S. 4. Die Pläne waren bis Dezember 1994 geheimgehalten worden (Paulwitz, DSW 65, S. 3); ab dann beginnt die Geschichte.

Schon das Sprechen von „der“ Rechtschreibreform ist vereinfachend, denn es gab teilweise Zurücknahmen, Weiterreformierereien, Alternativenzulassungen, Protestbewegungen von Germanisten, Schriftstellern, Eltern und anderen, eine Volksabstimmung in Schleswig-Holstein und das Ignorieren deren Ergebnisses, Gerichtsentscheide und vieles mehr; die Sache legte einen chaotischen Weg zurück. Es gibt viele Gründe, die Rechtschreibreform abzulehnen.

1. Zunächst sei im Vorübergehen erwähnt, dass man dies tun kann, weil man emotional an die alte Schreibung gebunden ist. An Liebgewonnenem festzuhalten, ist in der Demokratie ein legitimes Anliegen. Es gibt jedoch auch handfestere Gründe.

2. Es lagen sehr undemokratische und unfaire Umstände bei der Einführung der Reform vor; sie wurde durchgedrückt wie der Euro. So unterzeichneten z. B. am 1. Juli 1996 Staatsvertreter eine „Gemeinsame Absichtserklärung“ zur Neuregelung der Orthographie, und nur einen Tag später erschien ein neues Wörterbuch des Verlags Bertelsmann. Da man ein Buch nicht über Nacht schreiben kann, war das natürlich nur durch Querverbindungen (so wollen wir es mal nennen) zwischen Politik und Wirtschaft möglich. Paulwitz, DSW 65, S. 3, berichtet, dass bei der „Absichtserklärung“ ein starker Druck zum Unterzeichnen herrschte, „weil Bertelsmann schon gedruckt hatte“. Wer an der Reform verdiente, und wer bezahlen durfte, ist kein irrelevantes Thema.

3. Zudem herrscht seitdem Uneinheitlichkeit in der Rechtschreibung. Die Einheitlichkeit im Schrifttum ist abgebrochen.

4. Wirklich ernst sind die Probleme mit dem Funktionieren der Sprache seit der Reform. Darauf liegt im folgenden der Schwerpunkt.

Die Bereiche der Rechtschreibreform

Es lassen sich sechs Bereiche unterscheiden:

1. Laut/Buchstabenzuordnungen. Diese berührten z. B. das Thema ß / ss, z. B. in Wörtern wie „Schlussszene“. „Merkel muß weg“ schreibt man eigentlich mit ß. Das Wörtchen „daß“ hätte nach den Prinzipien des Deutschen sein ß behalten müssen, denn in zahlreichen Partikeln und ähnlichen Wörtern wird die Kürze des Vokals nicht dargestellt, sondern orthographisch so verfahren, als ob der Vokal lang wäre: mit, ab, um, an, in, ob usw. Bei „Bouclé“ / „Buklee“ zeigt sich: Kleinste Unwichtigkeiten werden reguliert, wobei es nicht einmal nötig ist, das Wort zu kennen (Bezeichnung für ein Kleidungsstück). Das ist deutscher bürokratischer Wahn. Die ph und th in Fremdwörtern aus den Griechischen wurden einst nach einem klaren System gesetzt, und es bestand deswegen auch Übereinstimmung mit den Orthographien des Englischen und Französischen. Heute herrscht Willkür in der Verteilung von ph und f, th und t.

2. Groß- und Kleinschreibung. Dieser Bereich bescherte uns Schreibungen wie „vor Kurzem“, „seit Langem“, wobei man sich fragt, was das Kurze oder das Lange eigentlich ist.

3. Getrennt und Zusammenschreibung. Hier entstanden Schreibungen wie „Der Stoff ist Krebs erregend“. Dabei ist der Stoff nicht erregend. Zahlreiche Wörter der deutschen Sprache, wie „krebserregend“, wurden durch Getrenntschreibung abgeschafft, konnten als Einträge in Wörterbüchern nicht mehr auftreten. Die Betonungsverhältnisse fallen ganz anders aus je nach dem, ob ein Einzelwort vorliegt oder eine Wortgruppe. Kinder lernen nicht richtig sprechen, wenn Wörter zerrissen werden; in diesem Punkt ist die Reform geradezu gefährlich. Zum Teil sind diese Fehlgriffe wieder abgeschafft worden. Sie legen aber ein Zeugnis von der Kompetenz der Reformer ab.

4. Zeichensetzung, vor allem Komma-Verluste. Ständig rasselt man aufgrund fehlender Kommata in falsche Lesungen hinein. In der Wahlzeitung des Asta, Uni Hamburg, Januar 2018, schrieb die Campus-Linke: „Die Uni soll stressfrei sein und studieren soll auch Spaß machen!“ Man liest den Satz zunächst so, als ob die Uni auch studieren solle. Nun ist die Kleinschreibung von „studieren“ auch nach der Rechtschreibreform falsch, aber daß das Komma fehlt, ist nach ihr richtig, und das Komma hätte den Lesevorgang gerettet. Ein weiteres Beispiel: „Der Außenpolitik-Experte forderte nachdrücklich die Hinrichtung des letzten Mai verhafteten Regimekritikers auszusetzen“. Beim Lesen dieses Satzes denkt der Mensch sehr lang, der Politiker fordere eine Hinrichtung. Erst durch das Wort „aussetzen“ wird klar, daß das gar nicht der Fall ist; zu dem Zeitpunkt hat jedoch schon eine falsche Satzmelodie vorgelegen, und das Gehirn des Hörers kann nur noch in begrenztem Maße zurück und sein Verständnis korrigieren. Besser wäre es, es stünde wie nach alter Rechtschreibung ein Komma: „Der Außenpolitik-Experte forderte nachdrücklich, die Hinrichtung …“. Dann führt das Lesen zum Verstehen. Hier wiederum ist die Rechtschreibreform tatsächlich gefährlich. Denn Sprache ist zum Verstehen da; wenn das nicht mehr gewährleistet ist, ist das ein Problem für die Sprachgemeinschaft. Die Rechtschreibreform hinterläßt Schäden im Radio, und zwar weil dort Texte verlesen werden, bei denen Kommata fehlen und daher regelmäßig die Satzmelodie danebengeht. Diese Schäden erleiden wir Tag für Tag.

5. Bindestrich-Setzungen. Diese sind zum Teil eine Folge der zahlreichen sss, die die Sprache nun aufweisen würde. Es wird oft durch ss-s die bizarre Optik der Dreifachschreibung einer Scheinlösung zugeführt, z. B. in Nuss-Schinken statt Nussschinken (vorher Nußschinken).

6. Sonstiges.

Es gibt sonstige Punkte. Es wurden unter der „Rechtschreibreform“ auch Änderungen der Sprache eingemogelt, so z. B. beim Wort „selbständig“, das zu „selbstständig“ (mit stst) geändert wurde.

Rechtschreibreformen und undemokratische Systeme

Eine Untersuchung der Rechtschreibgeschichte der Länder der Welt zeigt: Es gibt einen Zusammenhang von Rechtschreibreformen zu Diktaturen und unfreien Systemen. In Rumänien beispielsweise führten die Kommunisten nach ihrer Machtergreifung eine Rechtschreibreform an der rumänischen Sprache durch. Die Sowjetunion machte nach der Oktoberrevolution ebenfalls eine. In Japan wurde von der Besatzungsmacht USA die Zahl der Kanji (bestimmter Schriftzeichentyp) auf 1850 beschränkt, was eine Art Morgenthau-Plan für die japanische Sprache darstellte; später wurde wieder mehr Zeichen zugelassen. Rot-China führte unter Mao ebenfalls eine Zeichenreform durch, die übrigens Taiwan nicht mitmachte, wodurch sich die Insel bis heute vom Festland unterscheidet. In Südamerika führte eine Diktatur eine Rechtschreibreform am Spanischen durch, wodurch sie zum Gespött der umliegenden Staaten wurde.

In Fall der deutschen Sprache ist die geplante Rechtschreibreform der Nazis relevant. Sie wurde von Hitler als „nicht kriegswichtig“ eingestuft und daher gestoppt; eine Million bereits gedruckter Bücher mußte wieder eingestampft werden. Der Reichserziehungsminister Rust war mit dieser Reform beauftragt gewesen. Sie zeigt obendrein auffällige inhaltliche Übereinstimmungen mit der jetzigen Rechtschreibreform. Rust wollte z. B. aus „potentiell“ und „national“ „potenziell“ und „nazional“ machen. Heute haben wir „potenziell“ und „national“. Der Entwurf von 1941 sieht außerdem vor, „für stimmloses s nach kurzem Vokal im Inlaut und Auslaut ss, nach langem Vokal ß zu schreiben, z. B. Fluss, Flüsse, Fuß, Füße, miß- wird mit ss, nis wie bisher geschrieben.“ (zitiert nach Hanno Birken-Bertsch / Reinhard Markner: Rechtschreibreform und Nationalsozialismus, S. 54). Dies ist verblüffenderweise exakt das, was jetzt umgesetzt ist.

Rechtschreibreformen werden teilweise noch nach vielen Jahrzehnten rückgängig gemacht. Das geschah in Rumänien mit der oben bereits angesprochenen Reform. Typisch ist auch, daß bei einer Reform Exilanten nicht mitmachen, so z. B. aus Lettland geflohene Menschen bei der Vereinfachung von 1956 zum Buchstaben r in der lettischen Sprache (Lettland war der Sowjetunion einverleibt worden). Vgl. Holst, Lettische Grammatik, S. 82, 84.

Reformen und Rechtschreibreformen

Reformen in Deutschland haben es oft so an sich, daß hinterher die Lage schlechter ist als vorher. Es ist so weit gekommen, daß einem bei dem Wort „Reform“ reflexartig der Angstschweiß auf der Stirn erscheinen kann. Man kann scherzhaft formulieren: Statt eine Reform zu machen, sollte man lieber etwas ändern. Ihr könnt ja alles ändern, aber macht bloß keine Reform. Ein Problem unserer Zeit ist auch eine große Regulierungswut – die sich eben im vorliegenden Fall an der Sprache austobt.

Auch heute setzen sich zahlreiche Menschen mit der Rechtschreibreform (und mit anderen Aspekten der deutschen Sprache) auseinander. Erwähnt sei die Internet-Plattform „Schrift und Rede“. Nochmals hinzuweisen ist auf die vierteljährlich erscheinende Zeitung „Deutsche Sprachwelt“ (DSW). Zudem existieren Bücher wie z. B. die Klassiker von Theodor Ickler oder auch Uwe Grund: „Orthographische Regelwerke im Praxistest – Schulische Rechtschreibleistungen vor und nach der Rechtschreibreform“. Eine Stellungnahme meiner Person von 2005 ist im Internet hier lesbar.

Am 19. Oktober 2016 wurde von zahlreichen Prominenten die „Frankfurter Erklärung“ unterzeichnet, die mögliche Wege einer Lösung aufzeigen will und fordert, daß Schreibweisen nach der alten Rechtschreibung nicht als „falsch“ gelten dürfen (DSW 66, S. 4).

Ein Desiderat ist eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Reform – mit Belegen ausgestattet, chronologisch dargestellt, in Form einer wissenschaftlichen Arbeit. Leider wäre die Durchführung eines solchen Projektes aufwendig, und leider wird eine Finanzierung durch die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) wohl kaum möglich sein; es ist ja nicht im Interesse mancher Kreise zu verbreiten, z. B. daß Inkompetenz eine Rolle spielte und Konzerne involviert waren.

Die Politik sollte handeln

Die heutige Reform wird von zahlreichen Menschen nicht beachtet. Das gilt natürlich viel im Privatleben. Aber es gilt viel auch im öffentlichen Kontext. In alter Rechtschreibung erscheint z. B. die Wochenzeitung „Junge Freiheit“ und die Vierteljahreszeitung „Deutsche Sprachwelt“. Bis Juni 2018 war hier auch die Satirezeitschrift „Titanic“ einzuordnen. Günter Grass und viele andere Schriftsteller haben verfügt, daß ihre Werke nur in der Rechtschreibung erscheinen sollen, in der sie geschrieben sind.

Als Roman Herzog Bundespräsident war, sagte er, die Rechtschreibreform sei „unnötig wie ein Kropf“. Die Reform ist aber nicht nur unnötig, sondern in großen Teilen sogar schädlich – was ein Unterschied ist. Die oben ausgeführten Punkte zeigen: Das Thema Rechtschreibreform ist nicht durch und wird es aufgrund der schlechten Qualität der Reform auch nie sein, solange die Reform existiert.

Die Einsicht ist bei manchen Verantwortlichen schon seit langem vorhanden:– Hans Zehetmair, bayrischer Kultusminister: „Aus heutiger Sicht und noch deutlicherer Kenntnis der deutschen Wesensart würde ich die Sache heute ganz zum Scheitern bringen. Wir hätten die Rechtschreibreform nicht machen sollen.“ (Passauer neue Presse, 2003.)– Johanna Wanka, Präsidentin der Kultusministerkonferenz: „Die Kultusminister wissen längst, daß die Reform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“ (Der Spiegel, 2006.) Der Amtseid besagt aber, daß Schaden vom deutschen Volk abzuwenden ist. Man muß also für eine Umkehr bereit sein.

Hinter der Rechtschreibreform steckte ein Knäuel an Motiven, unter anderem finanzielle und umerzieherische, dann auch das an sich legitime Motiv, sozial Schwächeren den Zugang zur Bildung zu erleichtern (was aber nicht funktionierte) sowie auch das Motiv, ausländischen Mitbürgern die Sprache zu erleichtern. Sprache und ihr Umfeld lassen sich aber nur in begrenztem Maß vereinfachen. Es besteht eine Alternative: Die Rechtschreibung muß gut gelehrt werden, und sie muß gut gelernt werden. Lernen darf nicht verpönt sein. Gleichzeitig sollte man Rechtschreibfehler nicht zu ernst nehmen.

Die Rechtschreibkenntnisse nehmen, wie man gemessen hat, ab. Angeblich besteht kein Zusammenhang mit der Rechtschreibreform, in Wirklichkeit besteht er natürlich doch. Das Verstehen von Texten nimmt ab. Auch hier besteht angeblich kein Zusammenhang, in Wirklichkeit aber doch einer. Es gibt heutzutage Leute, die haben zwar Abitur, aber schreiben auf eine Art, die einen ganz anderen Eindruck macht. Es gibt einen alten Witz, nachdem ein schlechter Autofahrer seinen Führerschein wohl in der Lotterie gewonnen hat. Das ist nach wie vor nicht möglich; allerdings sind Abiture anscheinend doch als Gewinne inzwischen üblich.

Was das Motiv angeht, Ausländern den Zugang zur deutschen Sprache zu erleichtern: Dies ist nicht gelungen. Die deutsche Sprache hat nun mal eine gewisse Schwierigkeit, sie gehört aber zu unserer Kultur und ist, wird sie gut angewendet, von einer außerordentlichen Leistungsfähigkeit. Der Weg muß der sein, daß die Ausländer sich der Sprache und Schreibung anpassen, nicht umgekehrt. Ein Deutscher kann auch nicht erwarten, wenn er in den Iran, nach Großbritannien oder nach Thailand auswandert (drei Länder mit nicht ganz einfacher Rechtschreibung), daß aufgrund seiner etwaigen Schwierigkeiten die Orthographie geändert wird.

Hoffentlich entwickelt sich in Deutschland ein Mut zum Weg zurück. Die Frage stellt sich, ob sich Parteien oder Politiker finden, die den Handlungsbedarf erkennen. Das Beste wäre eine komplette Abschaffung der Reform. Das sollte nicht jenseits vom Vorstellungsvermögen sein. Die Sommerzeit wurde in Großbritannien wieder abgeschafft, und die EU erwägt dies ebenfalls, das „Gendern“ der Sprache ist in Frankreich per Académie française abgeschafft (vgl. Bericht in DSW 70, S. 6), G8 in Gymnasien ist vielerorts wieder zu G9 gemacht. Unsere Sprache ist wichtig, wir müssen etwas für sie tun.