Tichys Einblick
Ein Risiko ist noch keine Gefahr

Das Vorsorgeprinzip ist ein gefährliches Dogma

Die Folgen der Pandemie-Restriktionen verdeutlichen die Gefahren des Versuchs, jedes Risiko zu vermeiden. Dennoch ist das Vorsorgeprinzip gesellschaftlich breit akzeptiert. Wer aber den Unterschied zwischen Gefahr und Risiko ignoriert, führt das Land nur in einen ewigen Stillstand.

imago Images

Obwohl nahezu jeder Thesaurus das so vermittelt, sind „Gefahr“ und „Risiko“ kein synonym zueinander stehendes Begriffspaar. Und das nicht allein deswegen, weil das Eingehen von Risiken häufig auch mit dem Ziel der Verbesserung von Zuständen geschieht. Prinzipiell gestattet eine Aussage über die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses, also das „Risiko“, keine Rückschlüsse auf die von diesem ausgehende Gefährdung. Denn letztere hängt immer von Faktoren ab, die der risikobehaftete Vorgang selbst nicht beeinflusst.

Der selektive Charakter des noch immer für Angst und Panik sorgenden Erregers SARS-CoV-2 verdeutlicht dies einmal mehr in exemplarischer Weise. Ist doch eine Infektion mit diesem Virus für die weitaus meisten Menschen völlig ungefährlich. Wie unzureichend in einem solchen Fall die Erzwingung allgemeiner Verhaltensänderungen durch generelle Freiheitseinschränkungen die durchaus gut definierbaren, tatsächlich gefährdeten „Risikogruppen“ schützt, zeigen die Zahlen deutlich auf. Bei mehr als 8.800 in wenigen Wochen wahrscheinlich an Covid-19 Verstorbenen von einem „Erfolg“ zu sprechen, kann nur als blanker Zynismus gewertet werden. Zumal dieses inakzeptable Resultat mit der Umwandlung einer Gesundheitsfrage in eine handfeste ökonomische und soziale Notlage einhergeht.

In diesen wie in anderen Fällen ist die Gleichsetzung von denkbaren Risiken (Infektion) mit echten Gefahren (schwerer Krankheitsverlauf bis hin zum Tod) aber nicht allein Folge intellektueller Schludrigkeit, sondern häufig auch gewollte Bauernfängerei. Die die Politik mit dem sogenannten „Vorsorgeprinzip“ sogar zu einer Handlungsmaxime erhoben hat. Gemäß diesem Dogma sind nämlich Maßnahmen zur Risikovermeidung selbst dann zu ergreifen, wenn man hinsichtlich der gegebenenfalls wirklich zu beklagenden Schäden über kein oder nur wenig Wissen verfügt. Angesichts einer prinzipiell unvorhersehbaren Zukunft ist letzteres im Grunde immer gegeben. Das Vorsorgeprinzip ermöglicht es Regierungen und Parlamenten also, sich immer am schlimmsten vorstellbaren Szenario zu orientieren, ganz unabhängig von dessen Realitätsbezug. Wodurch jedes Ereignis, jede Neuerung, jede Veränderung und selbst das Festhalten am Gegenwärtigen automatisch als unmittelbare Bedrohung charakterisiert werden kann, ganz wie es ideologisch gerade passt. Akademisch geweihte „Experten“, die zu diesem Zweck nützliche, phantasievoll ausgeschmückte Horrorvisionen konstruieren, finden sich jedenfalls für alle Themen.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Schon hinter der Verwendung des Begriffes „Vorsorge“ für diese institutionalisierte Schwarzseherei steckt eine häufig unverstandene, manchmal aber auch gewollte manipulative Sinnverdrehung. Schließlich ist „Vorsorge“ im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus positiv konnotiert. Nur bedeutet Vorsorge nicht, Risiken zu verringern, sondern Vorkehrungen für den Fall zu treffen, in dem sie eintreten. Schließlich verlängert eine Lebensversicherung nicht das Leben und eine Feuerversicherung löscht keinen Brand. Ein Sicherheitsgurt verhindert auch keinen Unfall, er mindert lediglich die Folgen einer Kollision. Vorsorge erleichtert das Eingehen von Wagnissen und hält gerade nicht dazu an, solchen aus dem Weg zu gehen.

Das „Vorsorgeprinzip“ aber meint in Wahrheit „Verhütung durch Unterlassen“. Es verlangt, gar nicht erst in ein Auto zu steigen, um jedes Unheil garantiert auszuschließen. Es verlangt, kein Haus zu bauen, da ein solches nur so ganz sicher niemals ein Opfer der Flammen wird. Es verlangt, nicht zu leben, um dem Tod zu entgehen. Ein Konzept, an dem sich das noch immer andauernde Corona-Regime mustergültig orientiert.

Da wird dann eben handstreichartig und ohne Möglichkeit der Gegenwehr ein ganzes Land sozial und ökonomisch paralysiert, werden Grundrechte ausgesetzt, wird massiv in die Privatsphäre der Menschen eingegriffen. Ohne mit der Wimper zu zucken, formulieren Landesminister und ihre Verwaltungsbeamten Verordnungen, die selbst bekannte dystopische Zukunftsromane in den Schatten stellen. „Zwischen Personen ist im öffentlichen und privaten Bereich grundsätzlich ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten.“, schreibt beispielsweise das Land Brandenburg seinen Bürgern wortwörtlich vor und in den anderen Bundesländern gelten ähnliche Regeln. Ein wohl historisch beispielloser Akt der Entmündigung, den nicht einmal die schlimmsten Diktatoren der Vergangenheit und Gegenwart je in Erwägung gezogen haben.

Umfrage
Viele Deutsche fürchten Überwachung durch Corona-App
Die Absicht, Risiken vorbeugend auszuschließen, zwingt nun einmal dazu, schon die bloße Existenz anderer Menschen mit größter Sorge zu betrachten. Man muss sich bereits fürchten, weil diese atmen und dadurch mitunter Krankheitserreger verbreiten. Oder weil sie Nahrung benötigen und deswegen Tiere und Pflanzen nach ihrem Geschmack züchten und verspeisen. Ganz schlimme Folgen lassen sich auch der Verwendung allerlei technischer Systeme zu Bedarfsbefriedigung andichten, etwa dem Internet als Plattform für den grenzenlosen, ungefilterten und direkten Austausch von Informationen. Die Phantasie der Besorgten kennt kein Limit und bleibt vom realen Geschehen unberührt. Man denke nur an die als „Hochrisikotechnologie“ verbrämten Kernkraftwerke, deren tatsächliches Schadenspotential sich selbst im Falle größerer Havarien als äußerst gering erwiesen hat. Weder in Harrisburg noch in Fukushima sind Todesfälle durch Kernschmelzen zu beklagen und sogar in Tschernobyl beläuft sich die entsprechende Zahl lediglich auf einige Dutzend. Ein anderes Beispiel stellt die Grüne Gentechnik dar, die bislang schlicht niemandem auf diesem Planeten geschadet hat. Tatsächlich mangelt es der verbreiteten Vorstellung von einer Gefährdung der Konsumenten durch den Einsatz gentechnisch optimierter Organismen in der Lebensmittelproduktion an jeglichem wissenschaftlichen Beleg.

Auch die Idee vom Klimaschutz beruht nicht etwa auf unbezweifelbarer empirischer Evidenz. Sondern einzig auf der Imagination dessen, was vielleicht passieren könnte, wenn die Menschheit dereinst passiv in den Himmel starrt und alles, was an schlechtem Wetter nicht ausgeschlossen ist, teilnahmslos über sich ergehen lässt.

Da stellt natürlich der Untergang aller Zivilisation jenen Maßstab dar, an dem sich eine dem Vorsorgeprinzip verpflichtete Administration zu orientieren hat. Und der keinen anderen Weg zulässt, als ein Gemeinwesen zu umfassender Askese zu zwingen. Ganz wie in der Corona-Pandemie erfolgreich erprobt, nur eben auf Dauer und nicht zeitlich begrenzt.

Klimaschutz und Epidemie-Lockdown verdeutlichen den totalitären Anspruch der Verfechter des Vorsorgeprinzips in seinem ganzen Ausmaß. Was gerne als „verantwortliches“ oder gar „generationengerechtes Handeln“ verbrämt wird, dient in Wahrheit nur autoritären Machtphantasien. Die Umdeutung persönlicher Lebensrisiken zu kollektiven Gefährdungen gestattet die umfassende Aushebelung von Freiheitsrechten als Antwort auf nahezu jede Herausforderung. Natürlich wird dabei die Gegenrechnung tunlichst vermieden. Was der Verzicht in der Gegenwart an Wohlstand, an Sicherheit, an Gesundheit kostet, bleibt ebenso unberücksichtigt, wie die Chancen und Optionen, die man durch ihn künftigen Generationen nimmt.
Implizit spricht das Vorsorgeprinzip den Menschen die Fähigkeit ab, eigenverantwortlich über den für ihre spezifische Situation geeigneten Umgang mit Risiken zu entscheiden. Weil es das Nebeneinandervieler unterschiedlicher, individuell optimierter Strategien nicht toleriert. Sondern allen dieselbe Zwangsjacke anzulegen gebietet. Es ignoriert die Existenz von Kreativität und Erfindergeist, die doch bislang noch jede Schwierigkeit aus dem Weg geräumt haben. Es unterbindet Innovationen, da sein einseitiger Blick auf die unweigerlichen Schwächen technischer Fortschritte deren Nutzen übersieht. Und die Aussicht auf Verbesserung durch experimentelle Entwicklung schlicht ignoriert.

Das Corona-Regime mit seinen Kontaktsperren, Geschäftsschließungen und Veranstaltungsverboten transportiert das Denken, das seit geraumer die Chefetagen deutscher Unternehmen und die Konferenzsäle der Politik in allen Zusammenhängen beherrscht, nun für alle sichtbar in den öffentlichen Raum und den Alltag eines jeden Bürgers. Diese Gesellschaft lähmt sich umfassend unter dem durch das Vorsorgeprinzip gestützten Primat der Phobien, ganz gleich, ob es um Investitionen in die Zukunft geht, um die Umwelt oder die Gesundheit. Man fürchtet den Tiger im Käfig, als wäre er bereits ausgebrochen, und sperrt sich lieber vorsorglich selbst ein, statt für den Fall des Falles auf die vorhandenen Gewehre zu vertrauen. Vielleicht aber verhilft die Pandemie schließlich doch zu der Einsicht, dass dieser Weg niemals Probleme löst, sondern solche nur verlagert und potenziert. Die größte Gefahr birgt eben häufig der Versuch, jegliches Risiko zu meiden.

Anzeige