Tichys Einblick
Unbeschränkte Möglichkeiten

Big Brother playing

Wie nicht nur Meinung, Vorlieben und Verhalten, sondern auch Wünsche, Träume und Ängste lückenlos ausgeforscht werden können.

© Rawpixel/Getty Images

Ach, wie ist das ärgerlich, die Befragten haben wieder einmal die Institute gefoppt und bei der wöchentlichen Telefonumfrage, dem „exit poll“, der „nur 5 Minuten“ für eine Meinungserhebung eben nicht nur nichts als die Wahrheit, die volle Wahrheit, gesagt. Sie haben nicht verraten, wofür sie im stillen Kabinchen stimmen werden, wo sie ihr Kreuzchen machen, oder was ihnen wirklich auf der Seele liegt. Dann scheiterten die zu bester Sendezeit ausgestrahlten Hochglanz-Politbarometer, die schönen, auf milliarden Pixeln der Touchscreens verbreiteten Statistiken kläglich, und der eigentlich schon 2. Klasse beerdigte Konkurrent z.B. einer berühmten Präsidentschaftsanwärterin (die schon Monate vor der Wahl mit ihrem Team die Vorhänge im Weissen Haus ausgemessen und die Porzellanbestände inspiziert hatte) oder der Kandidat der kleinen Splitterpartei wurden überraschend gewählt. Der „underdog“ sprengte plötzlich die Ketten der so mühevoll erarbeiteten Grafiken.
Wäre das schön, wenn man diese Unsicherheit in den schwarzen Kabinetten der Meinungsermittler endlich beenden könnte. Man kann. Die Erlösung ist in Sicht, der technische Fortschritt und die Skrupellosigkeit derer, die wissen wollen, wie John Doe und Liesschen Müller wirklich ticken, machen es möglich.

Kleine Schlaglichter darauf wirft wie immer die freche Plattform der Sicherheitslücken, die grade neue Insider-Informationen zum Kampf gegen den weltweiten Terror veröffentlicht hat. Die US-Geheimdienste könnten Fernseher, Autos oder Telefone über das Internet anzapfen und unter ihre Kontrolle bringen. Ganz schön ausgekocht, und natürlich legitim, denn hier geht es ja nur darum herauszufinden, wer Böses im Schilde führt. Otto Normalverbraucher bleibt unbehelligt. Wer seinen Orwell gelesen hat, den sollte das auch nicht weiter beeindrucken, der hat gelernt, dass man sich in Reichweite der Geräte entsprechend still verhalten oder verstellen muss. Bitte keine Wutausbrüche, spontane Unmutsäusserungen oder abfällige Gesten, es könnte bemerkt werden.

In Geräte-Nähe Vorsicht

Wer wissen will, wie das Wahlvolk wählen wird, wie z.B. bestimmte Minderheiten in Ländern mit hoher Zuwanderung wirklich über ihre Gastländer oder deren Regierende denken, ob sie hinter vorgehaltener Hand tuscheln und sich das Mund zerreissen, oder gar ausfällig und aggressiv werden, der muss andere Seiten aufziehen. Die Sozialen Medien überwachen – zu lassen – reicht nicht aus. Genau das wissen die Geheimdienste, und sie wissen auch, dass die Bösewichter der Welt das wissen, dass sie wissen, dass sie das wissen … Deshalb haben sie sich überlegt, wo denn der Mensch all diese Schutzreflexe möglicherweise ablegt und ganz entspannt er selbst ist. Nicht unter der Dusche, wie man vielleicht denken mag, nicht beim Kaffeekränzchen bei Großmutter oder beim fröhlichen Kebap-Grillen im Görlitzer Park.

Beim Spielen. Aber nicht beim Fußball oder beim Mikado, bei Malefiz oder Monopoli. Nur beim elektronischen Spiel, da kann man digital das wahre Ich anzapfen. Wenn das Kleinhirn mit der Bewältigung primitiver dynamischer Anstrengungen vollauf beschäftigt ist, wenn der „gamer“ gerade den hundertsten digitalen Gegner bekämpft oder die schwierigsten Hürden auf dem Bildschirm umrundet, dann ist er wirklich ehrlich, offen und verwundbar. Der Spielende lässt alle Vorsicht fahren, denn er wähnt sich alleine mit seinem Spass, seiner Konzentration und der Spielekonsole, seinem gameboy oder der Spiele-App.

Wen könnte so ein harmloser Zeitvertreib schon interessieren? Weit gefehlt, denn hier schlägt die Neugier derer, die nie genug wissen, zu. Auch die noch so unschuldig daherkommende, bunte Spielewelt kann verraten, wie Sie im tiefsten Inneren denken und handeln – werden.

Das hatten schon die verulkten Fürsten in den frühen Fastnachtsspielen oder die heutigen Politiker anlässlich des lustigen Starkbieranstichs auf dem bayerischen Nokherberg im Prinzip verstanden: das Volk spricht freier von der Seele weg, wenn es glaubt, einem Spaße aufzusitzen.

Zunächst einmal die „hardware“: Wer jemals einen digitalen Spion aus dem Hause Microsoft oder Sony bei sich installiert hat, weiß, wie diese Geräte funktionieren, und welche unheimliche Macht ihnen innewohnt. Nicht nur fordert das Gerät beim Einschalten Zugang zum drahtlosen Internet, es weiß diesen auch durch unmissverständliche Drohungen zu erzwingen: „dringendes Internet-update zum Zwecke der Wartung erforderlich“, ohne Wartung – keine Betriebsbereitschaft. Spiele neuerer Machart brauchen keine Kabel oder „Spaßhebel“ (joysticks) mehr, sie werden durch Winken, Hopsen oder Zappeln des Spielers gesteuert. Und sie beherrschen perfekt viele Sprachen und Dialekte, geschrieben oder gesprochen.

X-Box-Alert

Damit sie mit kalten Kamera-Augen die Umgebung und die Bewegungen des Spielers erkennen können, haben die Maschinen „software“ eingebaut, die nicht nur den gesamten Raum erkennt und abbildet, sondern auch die Individuen und deren Sprechweise unterscheiden kann. Man mag es schick finden, wenn einen die „X-Box“ beim Betreten des Raums freundlich mit Namen begrüßt und anschließend Bilder der Begegnung ins Internet hochlädt, die potentiellen Konsequenzen erscheinen gruselig. Spätestens wenn einen ein Computer darauf hinweist, dass das Sofa beim letzten Spiel aber noch 10 cm weiter Rechts gestanden habe, zieht man den Stecker und prüft nochmal, ob das grässliche Ding auch wirklich aus ist.

Nun noch zur „software“ und deren fast unbeschränkten Möglichkeiten. Natürlich kann es den Geheimdiensten der Welt egal sein, ob sie mit ihrem digitalen Rennwagen nach links oder rechts in den virtuellen Graben abschmieren. Wenn Sie aber in der politischen Einstellung scharf „links“ oder „rechts“ abbiegen, was dann?

Sie spielen schon zum hundertsten Mal „die Siedler“, und haben eine seltsame Vorliebe dafür, gleich zu Beginn des Spiels anstatt eines Fürstentums lieber einen virtuellen Bauernstaat zu gründen? Dann sind Sie wohl eher Marxist. Im Piraten-Rollenspiel werden die gefangenen Gegner gleich allesamt zu den Fischen geschickt? Sehr bedenklich. Sie nehmen lieber den blonden Avatar als den brünetten? Suchen sie es sich aus, die Varianten der Meinungsermittlung sind Legion.

Schon die Wahl der „roten“ oder „blauen“ Seite, der „Alliierten“ oder der „Achsen“-Mächte, kann sie bei militärischen Strategiespielen schwer belasten. Gar nicht zu reden vom Sieg der jeweiligen Seite, oder wie Sie den herbeiführen … Wie lautete doch der Werbeslogan des grossen Herstellers ? It’s not a trick, it‘s a … Sie haben nichts zu verbergen? Trotzdem: ob man sich diese Form des kurzweiligen, sinnlosen Zeitvertreibs wirklich weiter gönnt, sollte gut überlegt sein.

Emil Kohleofen ist freier Publizist.