Tichys Einblick
Bericht zur Obdachlosigkeit

„Wir sind nicht mehr in der Lage, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen“

Rund 263.000 Personen waren zum Jahresbeginn 2022 in Deutschland „wohnungslos“ gemeldet. Das geht aus dem „Wohnungslosenbericht“ der Bundesregierung hervor. Für den hat die Regierung zehn Monate gebraucht.

Pressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesministerin Geywitz nach der Sitzung Bündnis-Tag zum bezahlbaren Wohnraum - 12.10.2022

IMAGO / Mike Schmidt

In Sachen Obdachlosigkeit wird sich demnächst in Deutschland Großes tun. Den zweiten „Wohnungslosenbericht“ wird nicht mehr das Sozial- sondern das Wohnungsministerium von Klara Geywitz (SPD) veröffentlichen. Das wollte jährlich 400.000 neue Wohnungen schaffen. Dieses Jahr waren es weniger als 300.000 neue Wohnungen, kommendes Jahr werden es etwa 250.000 sein und ab 2024 noch weniger. Das sagt Axel Gedaschko der Rheinischen Post. Er ist der Präsident des Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen.

Gedaschko stellt der Bundesregierung ein schlechtes Zeugnis aus: „Wir sind in Deutschland aktuell nicht mehr in der Lage, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.“ Als Ursachen nennt er die Energiekrise, die steigenden Preise und Zinsen sowie die Materialknappheit. „Dennoch gießt die Regierung weiter Öl ins Feuer“, warnt Gedaschko. Der Bund fördere den Neubau so gut wie gar nicht mehr. Trotz vorhandener Baugenehmigungen würden Projekte nicht umgesetzt. Die Kaltmieten stiegen so auf 17 bis 20 Euro: „Aktuell wird noch das fertig gebaut, was in der Pipeline ist. Und dann wird es immer weniger werden. Es ist ein brutaler Stopp, aber mit Ansage.“

Zeit, etwas zu tun. Etwa einen Wohnungslosenbericht vorzustellen. Im Dezember 2022 – mit Zahlen vom 31. Januar 2022. Folglich berücksichtigt der Bericht nicht die längst zweistellige Inflation, nicht den Krieg in der Ukraine, nicht die gut eine Million Flüchtlinge, die unmittelbar auf diesen Krieg zurückzuführen sind, nicht die Erleichterungen in der Einwanderungspolitik und nicht die knapp 200.000 Erstanträge auf Asyl, die nach offiziellen Zahlen alleine bis zum Oktober gestellt wurden. Aber trotzdem verspricht Sozialminister Hubertus Heil (SPD): „Mit dem heutigen Bericht wird erstmals ein gesamtdeutscher Überblick über die Situation wohnungsloser Menschen vorgelegt.“ Außerdem legt der Sozialdemokrat einen Acht-Jahresplan vor, mit dem die Wohnungslosigkeit ganz beseitigt werden soll.

Vorerst leben aber in Deutschland 37.400 Menschen auf der Straße, 49.300 Menschen kommen bei Freunden oder Verwandten unter und 178.100 leben im System der Wohnungshilfen. Zumindest nach den offiziellen Zahlen. Denn gerade die „Coucher“, die bei Freunden oder Verwandten unterkommen, sind nur bedingt statistisch zu erfassen. Ebenso wie die buchstäblich Obdachlosen. Dazu kommen Menschen, die wegen drohender Obdachlosigkeit länger in „Schutzeinrichtungen“ bleiben als notwendig – etwa in Frauenhäusern, Gefängnissen oder Aufnahmelagern. Sie erfasst Heils Bericht auch mit einem knappen Jahr Verspätung statistisch nicht.

Knapp zwei Drittel aller Wohnungslosen sind Männer, etwas mehr als ein Drittel Frauen. Zwei Prozent sind laut Wohnungslosenbericht divers. Frauen suchen und finden öfter als Männer die Möglichkeit zur Übernachtung bei anderen. Auf der Straße oder auf fremden Sofas übernachten laut Bericht zu 66 bis 75 Prozent Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Bei den Leuten, die in entsprechenden Einrichtungen untergebracht sind, ist das Verhältnis umgekehrt: Dort finden zu 69 Prozent Ausländer und Staatenlose Unterschlupf und nur 31 Prozent der Plätze werden von Deutschen belegt. Sie alle bleiben dort im Schnitt 149 Wochen – also knapp drei Jahre.

Für die Studie wurden Wohnungslose nach ihren Lebensumständen befragt. Mehr als die Hälfte hat nach eigenen Angaben Gewalt erfahren, seit sie ihre Wohnung verloren haben. Das trifft vor allem die Menschen, die auf der Straße übernachten müssen. Wohnungslose Frauen sind demnach anteilig stärker von Gewalt betroffen als Männer. Allein 36 Prozent der obdachlosen Frauen wurden laut Befragung bereits Opfer sexueller Gewalt. 13 Prozent werden zur Prostitution gezwungen. Eine Erfahrung, die nur 1 Prozent der betroffenen Männer gemacht hat.

Was tut die Bundesregierung nun gegen Wohnungslosigkeit? Sie verspricht, dass sie bis 2030 behoben ist. Sie hat die Lissaboner „Declaration on the European Platform on Combatting Homelessness“ der EU unterschrieben, die genau das fordert. Aber was tut die Ampel konkret, um die Wohnungslosigkeit zu beenden:

„Eine solche Strategie und dessen Umsetzung kann aufgrund der föderalen Kompetenzordnung der Bundesrepublik Deutschland jedoch nur in Form eines intensiven Ressorts und föderale Ebenen übergreifenden Prozesses erarbeitet werden, der zudem die zivilgesellschaftlichen Akteure einbezieht.“

Klingt so, als ob noch viele Selters-Fläschchen in Konferenzräumen geöffnet werden, bevor konkret etwas passiert. Also außer die Neubauhilfen zusammenzustreichen. Das hat die Ampel ja schon erledigt. Und für die Auswertung von ein paar Zahlen für den Wohnungslosenbericht hat das Sozialministerium lediglich zehn Monate gebraucht. Aber alles halb so schlimm. Wer dieses oder nächstes Jahr in die Insolvenz muss, wer die steigenden Mieten nicht mehr zahlen kann und 2022 oder 2023 auf die Straße muss, dem seien die tröstenden Worte des Kanzlers Olaf Scholz (SPD) mit auf den Weg gegeben: „You’ll never walk alone.“

(mit Material von dts)

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