Tichys Einblick
Immer wieder allein

Außer Deutschland fühlt sich niemand an EU-Asyl-Recht gebunden

In der Eurokrise wurde bestehendes Recht rasch und anstandslos außer Kraft gesetzt, nur jetzt bei der Asylpolitik soll jedes Komma, von eigentlich nicht mehr haltbaren rechtlichen Regeln, weiter gelten.

PATRICK HERTZOG/AFP/Getty Images

Der gegenwärtige Streit zwischen CDU und CSU über die Immigrationspolitik wird für die Union wohl doch, egal wie er ausgeht, der Anfang vom Ende sein, so wie seinerzeit der Streit über die Agenda 2010 in der SPD. Selbst bei einem Personalwechsel an der Spitze der CDU, der sich einstweilen noch nicht abzeichnet, scheint der Vorrat an Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Schwesterparteien aber wohl auch zwischen den unterschiedlichen Flügeln in der CDU selbst – von denen der konservative freilich einstweilen sehr selten die Deckung verlässt – aufgebraucht zu sein. Dabei geht es in dem Streit zur Zeit vor allem auch um die Auslegung des EU-Rechtes. Hat Deutschland die Möglichkeit, seine Grenzen im Alleingang für Migranten zu schließen, die schon in einem anderen Land registriert worden sind oder zumindest hätten registriert werden müssen? Oder ist das ein Verstoß gegen EU-Recht, der zudem noch kontraproduktiv wäre, weil dann Länder wie Italien ihre Migranten nur umso schneller unregistriert auf einen Zug nach Deutschland setzen würden?

Die einschlägigen EU-Verordnungen sind so kompliziert, dass sie für den Laien kaum zu durchschauen sind, aber renommierte Juristen wie Daniel Thym aus Konstanz vertreten immerhin die Ansicht, dass im Normalfall ein Migrant, der in Italien den Boden der EU betreten hat, ein Anrecht darauf hat, dass die deutschen Behörden seinen Anspruch auf Asyl auch hier vor Ort (noch einmal) prüfen.[1] Es könnte ja zum Beispiel sein, dass er in Italien menschenunwürdig behandelt wurde, wie das in Ländern wie Griechenland in der Vergangenheit durchaus vorgekommen ist.  Schickt man die Migranten dann doch in das Land zurück, über das sie in die EU eingereist sind, muss das innerhalb einer relativ kurzen Frist geschehen und das Land muss sich bereit erklären, die betreffenden Personen zurückzunehmen, was in der Regel freilich nicht der Fall ist, wie man ergänzend feststellen muss, so dass schon an dieser Stelle das sogenannte Dublin-System offenbar nicht wirklich funktioniert.

Es stellt sich natürlich auch die Frage, was passiert, wenn das gemeinsame EU-Asylsystem gänzlich zusammenbricht, wie das ab Herbst 2015 für anderthalb Jahre faktisch der Fall war. Hat dann nicht die Bundesregierung das Recht, ja vielleicht sogar die Pflicht, wieder auf rein nationales Recht zu rekurrieren, um den Bestand des Staates Bundesrepublik Deutschland und seine elementaren Interessen zu schützen? Diese Position ist seinerzeit von einem so angesehenen Mann wie dem früheren Verfassungsrichter Udo di Fabio, aber auch vom Bonner Staatsrechtler Christian Hillgruber vertreten worden.[2] Bei dem gegenwärtigen Streit zwischen der CSU und Merkel geht es nicht zuletzt auch darum, wie ernst die gegenwärtige Lage ist, die sich gegenüber 2016 immerhin etwas beruhigt hat, und ob es nicht trotz der zur Zeit geringeren Zahl von Asylsuchenden dringend geboten ist, jetzt schon Vorsorge für den Fall einer neuerlichen Eskalation zu treffen, die ja jederzeit eintreten kann. Merkel und die ihr nahe stehenden Juristen argumentieren freilich, dass bei einer kompletten Außerkraftsetzung des bestehenden EU-Asylrechtes Deutschland womöglich den größten Preis zahlen würde. Als besonders wohlhabendes Land mit einem hohen Maß an Rechtssicherheit für Bürger wie Migranten gleichermaßen, würde es immer mehr Migranten anziehen, wenn die Nachbarländer die Standards ihres Asylrechtes immer weiter absenken und diese vielleicht auch gar nicht mehr registrieren. Dieses Argument ist sicherlich in der Theorie zunächst einleuchtend. Auch stimmt es, dass Europa die drohende Massenimmigration auf Dauer eigentlich nur gemeinsam unter Kontrolle bringen kann, nicht durch nationalstaatliche Alleingänge – wenn denn die bevorstehende Völkerwanderung überhaupt noch kontrollierbar ist, was vollständig ungewiss bleibt.

Das „Rette sich wer kann“ als Grundprinzip der EU-Politik

Was deutsche Juristen und Politiker, die so argumentieren, jedoch ausblenden, ist der Umstand, dass praktisch alle Nachbarländer Deutschlands ihr Asylrecht in den letzten Jahren verschärft haben. Die Verfahren sind kürzer geworden, die Leistungen wie etwa in den Niederlanden für abgelehnte Bewerber geringer, und in einer Reihe von Fällen gibt es durchaus auch Rückweisungen an der Grenze. Dänemark etwa versucht dies zumindest, wohl auch nicht ganz ohne Erfolg und selbst Schweden drosselt mittlerweile den Zustrom von Migranten, nachdem es lange Zeit großzügiger war als fast alle anderen europäischen Ländern. Österreich hat bekanntlich eine Obergrenze für die Aufnahme von Migranten eingeführt, die bislang wohl auch noch nicht überschritten wurde. Vor allem hat Frankreich die Grenze zu Italien für Asylsuchende weitgehend gesperrt. Dabei werden recht rabiate Methoden angewandt, selbst gegenüber minderjährigen Flüchtlingen, die nach herkömmlicher Rechtsauffassung in jedem Fall ein Recht darauf haben, in Frankreich einen Asylantrag zu stellen, selbst wenn sie aus Italien kommen.[3]

Im übrigen mag die Sperrung der französischen Grenze auf einem Abkommen mit Italien beruhen – auf das mutmaßlich erheblicher Druck ausgeübt wurde – aber damit wird das Recht des individuellen Migranten, in Frankreich Asyl zu beanspruchen, eben außer Kraft gesetzt. Ist das EU-rechtlich zulässig? Hier bestehen selbst bei erwachsenen Migranten Zweifel. Diejenigen Juristen, die wirksame deutsche Grenzkontrollen für per se widerrechtlich halten, müssen das jedenfalls verneinen, es sei denn, sie wären der Ansicht, dass für Deutschland grundsätzlich ein anderes, strengeres Recht gelte als für den Rest der EU. Nur Frankreichs Verhalten orientiert sich eben an der eigenen Staatsräson, auch und gerade unter dem Muster-Europäer Macron, der für viele in Deutschland ein wahrer Messias ist, und es tut dies, ohne dass das von Brüssel bislang beanstandet würde. Frankreich setzt sich also, wenn man die bestehenden Regeln streng auslegt, über EU-Recht hinweg und schafft damit gewissermaßen selbst neues Recht. Man muss zugeben, dass das wohl nur deshalb halbwegs wirksam ist, weil die Grenze zwischen Italien und Frankreich meist im Gebirge verläuft. Wer sie auf Schleichwegen überschreiten will, hat also einen schwierigen Weg vor sich und wird auch oft scheitern. Nach dem 10. Versuch, wenn nicht früher, gibt er dann vielleicht auf, bleibt in Italien oder setzt sich in den Zug nach Deutschland, das liegt ja nahe.

Die Brüsseler Postdemokratie destabilisiert die Demokratie in den Nationalstaaten

Indem Deutschland sich darauf festlegt, nationale Alleingänge zur Begrenzung der Zuwanderung in der Asylpolitik auch dann zu vermeiden, wenn alle anderen diesen Weg schon beschritten haben – wobei die Willkommenskultur von 2015 freilich auch eine Art politischer Alleingang mit gravierenden Folgen für ganz Europa war – , schwächt es natürlich seine Verhandlungsposition stark, hier haben die CSU-Politiker und Christian Lindner von der FDP ohne Zweifel recht. Aber es wird an diesem Fall auch etwas anderes deutlich. Die EU hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten den Nationalstaaten immer mehr Kompetenzen entzogen; sie können, soweit sie zur Eurozone gehören, keine eigene Geldpolitik mehr betreiben, sie müssen sich in ihrer Antidiskriminierungspolitik an Brüssel orientieren, in der Umweltpolitik und eben auch in der Asylpolitik. Es gibt eine ganze Reihe von Bereichen, in denen dieser Prozess der Homogenisierung des Rechts und der Politik im Prinzip eigentlich sinnvoll sein mag, etwa beim Umweltschutz (bei der Geldpolitik freilich dezidiert nicht), zum Problem wird er aber, wenn dadurch die Nationalstaaten Handlungsmöglichkeiten verlieren, ohne dass die EU selbst wirklich im notwendigen Umfang handlungsfähig wird. Auf dem Gebiet der Asylpolitik ist das ohne Zweifel der Fall. Zwar trägt Brüssel das federführend von Merkel für die gesamte EU ausgehandelte Flüchtlingsabkommen mit der Türkei mit und ähnliches gilt mit Einschränkungen für die Abkommen Italiens mit diversen libyschen Machthabern, aber eine funktionierende gemeinsame EU-Migrationspolitik, die ja auch wirksame und gerechte Verteilungsmechanismen einschließen müsste, gibt es dennoch nicht und es wird sie so bald auch nicht geben. Die Interessengegensätze sind einfach zu groß, man folgt dem Sankt Floriansprinzip. Das wird sich so schnell nicht ändern lassen, zumal es auch große ideologische Gegensätze gibt, wie die jüngsten Angriffe des Luxemburgischen Außenministers und großen Moralisten Asselborn auf österreichische Vorschläge zur Asylpolitik zeigen.[4] Und hier ist die Sonderrolle der Ostmitteleuropäer noch nicht einmal mit berücksichtigt.

Es zeigt sich, wie stark destabilisierend der EU-Einigungsprozess auf die nationalstaatlichen Demokratien wirken kann. Wähler erwarten von den Parteien, die sie unterstützen, eben doch eine gewisse Kompetenz zur Lösung von Problemen, und vollständig unkontrollierte Zuwanderung wird eben als Problem gesehen – zu Recht. Wenn die Politiker ihnen dann entgegenhalten: wir können diese Probleme nicht lösen, denn das kann nur Brüssel und auf das, was dort geschieht, haben wir nur einen begrenzten Einfluss, dann werden sie sich vielleicht doch überlegen, ob es nicht besser ist, auf Parteien zu setzen, die bereit sind, flexibler mit dem EU-Recht umzugehen oder sich ganz darüber hinweg zu setzen. In Osteuropa ist es ja schon geschehen und in Italien geht die Entwicklung in eine ähnliche Richtung, von den schon genannten französischen Alleingängen ganz abgesehen. Ob die sogenannten „Populisten“, die dann an die Macht kommen, dann wirklich erfolgreicher sind, ist keineswegs sicher. Aber wenn sie scheitern, kann man sie immerhin wieder abwählen. In Brüssel kann man niemanden abwählen, schon deshalb nicht, weil es keine klar zu verortende Verantwortung für Entscheidungen gibt, dazu sind die Prozesse, die zu Entscheidungen führen, zu intransparent und zu sehr durch kollektive Verantwortlichkeiten geprägt, hinter denen sich einzelne Personen und Regierungen immer verstecken können, wie es Merkel ja jetzt auch tut.

Das Symbol der Demokratie sei der Umzugswagen, mit dem in England nach einer verlorenen Wahl die Möbel des Verlierers aus Downing Street abtransportiert werden, meinte im Kampf um die britische EU-Mitgliedschaft ein prominenter Brexiteer, Michael Gove. In Brüssel gibt es keine von Wählern bestellten Umzugswagen, das könnte mit dazu führen, dass auf nationaler Ebene nicht mehr nur einzelne Politiker, sondern ganze Parteien ihre Sachen sehr viel häufiger zusammenpacken müssen als in der Vergangenheit. Irgendein Ventil braucht der Unmut der Wähler. In Brüssel läuft der Zorn ins Leere, also richtet er sich gegen die heimischen Politiker. Um nicht selbst davongespült zu werden, hat sich die CSU jetzt zur Stimme dieses Zorns gemacht Dieses Manöver wird vielleicht scheitern, aber auf die Dauer wird das so perfekte postdemokratische Brüsseler System – das viele Politiker ja gerade deshalb schätzen, weil es dort keine echte Rechenschaftspflicht für irgend etwas oder irgend jemanden gibt –  die deutsche Parteiendemokratie eben doch nachhaltig beschädigen und zerlegen, soweit das mit dem Aufstieg der AfD nicht schon geschehen ist. Dies geschieht, gerade weil die politische Klasse Deutschlands sich dem Projekt EU in einer Weise verschrieben hat wie wohl in keinem anderen europäischen Land. Sie steht und fällt mit diesem Projekt und zur Zeit fällt sie. Deshalb wird die EU-europäische Gemeinsamkeit jetzt vielleicht auch so verzweifelt verteidigt, obwohl absehbar ist, dass in vielen zentralen Fragen eine Einigung, bei der auch deutsche Interessen angemessen gewahrt werden, faktisch unmöglich ist – zumindest solange, wie Deutschland erklärt, sich auch dann noch buchstabengetreu an das EU-Recht halten zu wollen, wenn das faktisch keiner sonst mehr tut. Außerdem kann und muss man daran erinnern, dass in der Eurokrise bestehendes Recht sehr rasch und ganz anstandslos außer Kraft gesetzt wurde, wie etwa bei der faktischen (wenn auch versteckten) monetären Staatsfinanzierung durch die EZB oder der Aufhebung der Deutschland schützenden Klauseln des Maastricht-Vertrages, nur jetzt bei der Asylpolitik soll dann jedes Komma von eigentlich nicht mehr haltbaren rechtlichen Regeln weiter gelten.

[1] https://verfassungsblog.de/der-rechtsbruch-mythos-und-wie-man-ihn-widerlegt/

[2]https://verfassungsblog.de/nochmals-die-politik-offener-grenzen-ist-nicht-rechtskonform/

[3] https://www.politico.eu/article/migration-french-border-police-abuse-detain-migrants-before-sending-them-back-to-italy-oxfam/

[4] https://www.krone.at/1722929