Tichys Einblick
REPORTAGE

Am Berliner Hauptbahnhof zeigt sich das Schicksal der Ukrainer – und Nancy Faesers Kontrollverlust

Es sind hauptsächlich Mütter mit Kindern und alte Menschen, die aus der Ukraine in Berlin ankommen. Aber am Hauptbahnhof zeigen sich immer wieder auch offensichtlich nichtukrainische Mitreisende – von den Behörden registriert werden sie nicht. Eine Reportage

Im Bereich der Berliner Verkehrsbetriebe am Hauptbahnhof findet die Erstversorgung der Flüchtlinge statt.

IMAGO / Jens Schicke

Berlin. Der Hauptbahnhof kennt keine Pause. Hier kommen rund 15.000 Menschen täglich aus der Ukraine an. An den Gleisen fährt jede halbe Stunde ein neuer Zug ein. Jede halbe Stunde stehen Kinder an den Waggonfenstern, die ihre Nase an die Scheiben pressen – als suchten sie ihre Heimat und ihre Zukunft zugleich. Gestern waren sie noch Kinder. Hier in Berlin angekommen sind sie nun Flüchtlinge.  Putin hat diese Kinder heimatlos gemacht.

Der Zug hält an, die Türen gehen auf. Hauptsächlich Mütter mit ihren Kindern oder ältere Menschen steigen aus. Viele haben nur einen Koffer und eine bis zwei Taschen mit sich. Kuscheltiere oder Haustiere schauen aus ihren Taschen heraus. Schnell kommen freiwillige Helfer in gelben und orangenen Westen, geben den Ankömmlingen Orientierung, steuern sie durch den Hauptbahnhof, tragen ihr Gepäck.

Julian ist heute zum ersten Mal hier als Helfer unterwegs. Eine geflüchtete Frau hatte ihn darum gebeten, mit ihr einkaufen zu gehen. Nicht um ihr beim Einkaufen zu helfen, nein, sie brauchte jemanden zum Reden. Die Helfer sind am Hauptbahnhof mehr als nur Gepäckträger und Richtungsweiser. Sie müssen ganz spontan jederzeit zu Seelsorgern werden. Überall spürt man die hohe Sensibilität.

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Gleichzeitig sorgen sie für Sicherheit, so wie Wolfgang, der besonders wachsam ist. Denn am Hauptbahnhof tummeln sich skrupellose Verbrecher, welche die Notsituation ausnutzen wollen: darunter Menschenhändler, die ankommenden Frauen dubiose Wohnungsangebote oder Mitfahrgelegenheiten anbieten. Dahinter steckt der Versuch, Flüchtlinge in Zwangsprostitution zu verwickeln.

Dies bestätigen auch Sicherheitskräfte vor Ort, die den Journalisten strikt verbieten, einen „safe place“ für Kinder zu fotografieren. Der Grund: Pädophile haben hier versucht, sich an Kindern zu vergreifen. Um den Kinderraum herum ist Sicherheitspersonal stationiert, die einzig für das Beschützen der Kinder zuständig sind.

Der gebürtige Berliner Wolfgang kommt aus der ehemaligen DDR, also aus jenem kommunistischen Staat, der zur Sowjetunion gehörte, von der Wladimir Putin träumt, sie geografisch wieder zu errichten. Dort hat Wolfgang auch russisch gelernt, was er jetzt nutzt, um Flüchtenden vor Putins Krieg zu helfen. „Am liebsten würde ich mit einem „Mörder Putin“-Schild vor der russischen Botschaft stehen“, platzt Wolfgang raus, der seit zwei Wochen mitanpackt. „Wenn ich zuhause bin, muss ich manchmal weinen“, offenbart er.

Wütend ist er nicht nur auf Putin, sondern auch auf den Berliner Senat, der über zwei Wochen gebraucht hätte, um etwas am Bahnhof für die Flüchtlingssituation zu organisieren. „Das war erstmal alles privat organisiert.“ Ob die Organisation vom Senat nun besser sei, wüsste er nicht: „Vor wenigen Tagen gab es hier ab 22:00 Uhr nichtmal etwas Warmes zu trinken, dank dem Senat.“

Deutschlands Kontrollverlust – „Hier wird niemand registriert“


Am Hauptbahnhof gibt es keine Kontrollen. Hunderte Menschen steigen aus einem einzigen Zug aus. Ein Teil der Flüchtlinge fährt für Unterkünfte weiter in eine andere deutsche Region. Dieser Teil soll im Bahnhofsgebiet verweilen und begibt sich in eine Halle, wo es Essen und Trinken gibt – auch für die Haustiere. Der andere Teil, der vorerst in Berlin übernachtet, landet im „weißen Zelt“ draußen vor dem Bahnhof – dort stehen Busse bereit sowie Helfer, die Unterkünfte in Berlin vermitteln. „Es gibt keine Kontrollen, auch nicht stichpunktartig, hier wird niemand registriert“, erzählt Wolfgang.

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Die Registrierung ist ausgesetzt sowie freiwillig. Personen, die keine Flüchtlinge aus der Ukraine sind, können sich also von nun an überall in Deutschland bedenkenlos bewegen, so als wären sie gar nicht hier. In der Versorgungshalle fallen zwei Tschetschenen auf. Sie sind die einzigen, die in der Halle lachen. Hier, wo jeder am Rande seiner Kräfte ist. Völlig obskur. Ob sie Flüchtlinge aus der Ukraine seien, frage ich sie, doch sie wollen nicht mit mir reden, sie grinsen weiter.

Auffällig ist auch: Zwischen all den Kindern steigen einige Männer aus Afrika wie Nigeria und Marokko aus den Zügen. Ob sie eine ukrainische Staatsbürgerschaft haben? Die meisten Männer, gleich ob über 30 Jahre alt, behaupten, sie seien „Studenten“ aus der Ukraine. Überprüfen ließ mich das nur ein 23-jähriger Mann, Mohammed, der Medizin in Zaporijia studierte, um danach nach Marokko zurückzukehren.

Vom Bahnsteig gehen viele dieser Männer prompt zum Ausgang oder reisen weiter – sie gehen nicht zur Versorgung wie andere Flüchtlinge. Dass die Innenministerin Nancy Faeser keinen Flüchtlings-Plan hat, spiegelt sich hier am Berliner Hauptbahnhof wider, wo man mitten in der größten Flüchtlingswelle Europas seit dem Zweiten Weltkrieg steht. Auf der Webseite des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) steht derzeit eingeblendet: „Sie können sich in allen deutschen Städten registrieren und erhalten Hilfe.“ Doch Verbrecher werden sich wohl kaum selbst registrieren.

Das Schicksal der Ukrainer 


Die Versorgungshalle ist vierundzwanzig Stunden überfüllt, hier versteht man kaum sein eigenes Wort. Überall sind Tische und Bierbänke aufgebaut. Steht jemand auf, setzt sich jemand neues hin. Es ist eine Art Flüchtlingsbahnhof im Hauptbahnhof. Bevor man sich einen Kaffee holt, kommt man erst an einen Stand mit Kleidung, dann an einen Stand mit Tierfutter vorbei. Auf einer der Bänke sitzt eine junge hübsche Frau, sie heißt Nadia. Drei Tage lang ist sie von Kiew nach Berlin geflüchtet. Immer noch sind ihre Mutter und Schwester dort. Viele ihrer Freunde kämpfen an der Front für ihr Land, „ohne nachzudenken“, schwärmt sie.

Schnell kommen die Emotionen über sie. Nadia weint. Einerseits weil sie, so erzählt sie, berührt sei von den Hunderten Solidaritätskundgebungen und Helfern. Andererseits, weil sie große Angst um ihre Familie in Kiew habe. Ein Video, das sie von ihrem Fenster aus filmte, zeigt, wie am helllichten Tag eine Rakete an ihrem Haus vorbei zieht und in der Nachbarschaft einschlägt. Nadia zittert, als sie von den Kriegserlebnissen spricht. Vorerst wohnt sie bei einer Freundin in Berlin. Sie hofft, dass sie ihren Beruf als Musiklehrerin weiter ausüben kann. Noch mehr hofft sie, dass Putin gestoppt werden kann.

Ebenso in dieser lauten Halle steht ein Mitglied von „Fridays for Future Ukraine“. Auch er ist geflohen – doch nicht nur vor Putin, erzählt er, sondern auch gewissermaßen vor der ukrainischen Armee. Männliche Staatsbürger von 18 bis 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen, sie müssen kämpfen. „Ich kann keine Menschen töten“, gesteht er. Versteckt habe er sich im Kofferraum. Statt sein Land zu verteidigen, möchte er lieber das Klima retten. Denn für ihn hänge Putins Krieg direkt mit der Klimakrise zusammen, aufgrund des Öl- und Gasimports. Und Demos sind ungefährlicher als der Dienst mit der Waffe.

Auf die Frage, was gerade wichtiger sei, die Klimakrise oder der Krieg, entgegnet er: „beides“. In diesem überfüllten Raum von erschöpften und traumatisierten Kriegsflüchtlingen, die alles zurücklassen mussten, erscheint die Klimakrise gerade doch sehr weit entfernt. Während ich zu den sich auf den Bierbänken ausruhenden Menschen schaue, steht mir gegenüber ein hochmotivierter junger Mann, der mir seine Fridays-for-Future-Flagge stolz vorführt. Stolz zeigt er mir auch sein gestern stattgefundenes Treffen mit Luisa Neubauer. Ob gerade hier irgendjemanden die FFF-Flagge statt die Ukraine-Flagge interessiert?

Kinder sind die größten Opfer des Krieges

Die Ukrainer fliehen entweder allein, so wie Nadia, oder mit Familienangehörigen. Eine junge Teenagerin mit langen blonden Haaren steht draußen vor dem weißen Zelt. Bogdana ist mit ihrer Großmutter geflüchtet. Ihre Mutter ist bereits vor einem Jahr verstorben. Einen Vater hat sie auch nicht mehr. Und nun hat sie auch noch ihr Zuhause verloren. All die Menschen am Bahnhof eint dieser Verlust. Besonders die Kinder. „So friedlich und harmonisch habe ich noch nie zuvor Kinder spielen sehen“, sagt verwundert die Betreuerin. Die Flucht verbindet die Kinder, sie vertragen sich und spielen so, als pflegten sie schon jahrelange Freundschaften. Dabei kennen sie sich erst wenige Minuten. Im weißen Zelt hängen an den Wänden kleine Kunstwerke. Trotz Erschöpfung malen Kinder die ukrainische Flagge. Dass sie ihre Heimat zurücklassen mussten, ist ihnen nach Kriegsbomben und dreitägiger Flucht nicht entgangen – gleich, ob sie erst sechs Jahre alt sind.

Die dramatischen Eindrücke stehen im Hauptbahnhof aber auch einer kleinen anderen Welt gegenüber. Wie beispielsweise der FFF-Aktivist, der sich das Klima zur Hauptaufgabe macht, während in Europa wieder Krieg herrscht und die Gefahr des dritten Weltkrieges real ist. Auf die frisch angekommenen Flüchtlinge wartet man auch vor Stände für „LGBTQ+“ und „BLACK POC SUPPORT“. Also um Nicht-Weisse und sexuelle Randgruppen. Andrang gibt es hier nicht. Ein Stand-Helfer begründet die Aktion damit, dass „POC und LGBTQ+ Personen stärker von diesem Krieg betroffen“ seien. Ist das so? Die Ukrainer wissen offensichtlich nicht, worum er an diesem Stand überhaupt geht.

Am Bahnhof generiert sich ein anderes Bild: Vor allem sind die Kinder am stärksten betroffen. Sie sind die Schwächsten und Unschuldigsten in diesem Putin-Krieg. Von dem einen auf den anderen Tag werden sie entwurzelt, bevor sie überhaupt Wurzeln schlagen können. Abrupt werden sie aus ihrem Heim, ihrer Umgebung und ihrem sozialen Umfeld gerissen. Hier malt kein Kind eine FFF- oder Regenbogen-Flagge. Hier greifen die Kinder zu den Stiften, die die Farben der ukrainischen Flagge tragen, oder die der polnischen aus Dankbarkeit für die Fluchthilfe.

Putin nahm den Kindern ihre Perspektive. Kein Kind weiß, ob es die Ukraine als Land jemals noch geben wird. Eine Mutter ist mit ihrem Sohn allein im weißen Zelt. Es wird seinen Grund haben, wieso ihr Sohn den Landumriss der Ukraine malte. Bevor sie in den Bus steigen, hängt ihr Sohn sein Kunstwerk an die weiße Zeltwand. Schnell wird noch ein Foto gemacht, das wohl für immer an diesen Tag der Flucht und des Verlustes erinnern wird.

Zurück im Hauptbahnhof, trifft schon wieder ein neuer Zug ein. Hunderte Menschen strömen heraus. Viele Kinder, viele Mütter, viele ältere Menschen und einige Männer, die Nichtflüchtlinge sein könnten. Wieder gehen Hunderte ihrer Wege, ohne registriert zu werden. Oben stehen bloß vier Polizisten, die nur zuschauen dürfen. Denn ihre Innenministerin Nancy Faeser ist nicht vorbereitet. Die Hauptstadt wird zum Zufluchtsort und Sicherheitsrisiko zugleich.

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