Tichys Einblick
Als ich in die SPD eintrat …

Gedanken am gefühlten Ende einer großen politischen Leistungsgeschichte

Die Angst der SPD vor dem großen Wurf, vor dem Risiko, vor der gesellschaftlichen Vision mag in den begrenzten Denkräumen der Bonner Republik richtig gewesen sein, aber in Zeiten der allumfassenden Umbegrenztheit von Wirtschaft, Kommunikation und Kultur geht es wieder darum, das „Große und Ganze“ im Blick zu haben.

imago images / Emmanuele Contini

Als ich in die SPD eintrat, war ich 16 Jahre alt. Das Jahr zuvor hatte ich bereits bei den Jusos mitdiskutiert, meine ersten Plakate geklebt und das erste Mal in der Kneipe „Lessereck“ ein kurzes Referat zu den politischen Entwicklungen des letzten Monats gehalten. Das war 1989. Meine Partei hatte fast eine Million Mitglieder. Ich war glücklich und überzeugt. Das war meine Partei. Die Partei der kleinen Leute. Die Partei, die sich dafür einsetze, dass meine Familie, meine Eltern, meine Großeltern, die als Elektriker, Tischler, Postbeamte und Sekretärinnen arbeiteten, ordentlich und gut vertreten wurden. Im „Lessereck“ war der Ton ruppig, es wurde Holsten getrunken und gequarzt. Die Lampen hingen tief, das Licht war gelblich. Als Jusos trafen wir uns alle zwei Wochen im örtlichen Haus der Jugend und diskutierten angeregt über das Verhältnis von Realos und Stamokap. Ich plakatierte für Lafontaine und irgendwann gesellten sich noch Scharping und Schröder vor einem roten Hintergrund auf die Stellwände … ich empfand das Motiv als stark. Es war stark.

Die SPD hat mich auf meinem Lebensweg unterstützt. Das Versprechen von gleichen Lebenschancen für alle, die sich darum bemühen, mehr als eingelöst. Als Arbeiterkind und als Kind einer deutschen Mutter und eines italienischen Vaters. Meine Eltern haben sich engagiert und vor allem: gearbeitet. Ich sehe das müde Gesicht meines Vaters immer noch vor mir und spüre, wie die kalte Winterluft in die Genossenschaftswohnung weht, wenn mein Vater von der Spätschicht nach Hause kommt. Ich muss heute und morgen nicht zur Spätschicht. Die Genossenschaftswohnung habe ich verlassen. Diese persönliche Entwicklung geschah in diesem Land und deshalb sage ich voller Überzeugung, dass ich sehr stolz auf ein Land bin, dass eben diese Lebensgeschichten ermöglicht. Auch durch Parteien, die wussten, wie es sich anfühlt, wenn ein Urlaub nicht selbstverständlich ist, wenn neue Schuhe nicht nur schön, sondern auch haltbar sein müssen, wenn das angekündigte Gespräch mit dem „Chef“ meine Eltern nächtelang nicht schlafen ließ. Nicht 1920, sondern 1990. Die SPD war Teil des Lebens. Das Vor-Vertrauen „sich für uns einzusetzen“ war da … und wurde eingelöst.

Nun habe ich gelesen, dass sich Olaf Scholz um die Parteivorsitz der SPD bewerben will. Es mag sein, dass diese Bewerbung nicht zum Parteivorsitz führt. Meine Erfahrung zeigt jedoch, dass die große, rote Partei erneut glaubt, den Weg der vermeintlichen Vernunft zu gehen. Nicht anecken, nicht polarisieren, das Bewährte pflegen. Der Weg hat in das Fiasko geführt, das als solches auf der großen Bühne nicht benannt wird (auf der lokalen Ebene umso mehr). Einige Regionalkonferenzen werden es richten. Lasst uns reden, heißt heutzutage: Nichts machen. Die Gründe für den Niedergang wurden schon viel zu oft beschrieben: Opfer des eigenen Erfolges (siehe oben), Schutzstrategie einer Funktionärskaste und inhaltliche Austauschbarkeit. Sie sind alle richtig. Letztlich ist die SPD in ihren Führungsgremien zu einer Behörde geworden, die nichts mehr spürt, nichts mehr fühlt und sich auf „Vorschriften“ und „Gesetzmäßigkeiten“ bezieht. Sigmar Gabriel hat recht („Leistungsbereite Arbeitnehmer finden sich nicht mehr wieder.“). Die SPD gewinnt ihre kläglichen +/- 12 Prozent nicht mehr aufgrund des Spitzenpersonals, sondern trotz. Es ist das Verdienst der rührigen Genossinnen und Genossen in den Ortsvereinen und Distrikten, dass überhaupt noch etwas funktioniert. Von der Spitze kommt allzu oft der Verweis auf die große Geschichte (mit inzwischen dem Hinweis, dass es ja die SPD war, dass die „grüne Agenda“ bereits und in den 1960er Jahren eröffnet habe). Klar ist, dass jedes Unternehmen, welches sich plötzlich „Seit 1862“ auf seine Werbung druckt, kurz vor dem Ende steht. Tradition ist kein Verdienst der Jetzigen!

Dass Olaf Scholz der nächste Parteivorsitzende wird, halte ich für möglich. Es ist das Augenschließen kurz vor dem Zusammenbruch. Es ist das „Weiter so“. Es ist auch das Eingeständnis, dass sämtliche Modernisierungsversuche gescheitert sind. Dies kann durchaus eine Strategie sein. Sie wendet sich an alle, die direkt oder indirekt von und mit der SPD leben, die engagierte Gruppe von Gewerkschaftern und idealistischen Milieus mit einem sozialen Gewissen. Das kann aber – als überzeugter Sozialdemokrat – keine Option sein. Denn Organisationen wachsen oder sie verschwinden.

Das setzt voraus, dass gerade der Bereich Bildung und Kinder- und Jugendbetreuung der Kern sozialdemokratischen Handelns sein muss. Dies ist jedoch schwer, wenn jede McDonalds-Bude inzwischen mehr Würde ausstrahlt als eine moderne Bildungseinrichtung. Wie soll man in einer schäbigen Umgebung wertvolle Gedanken haben? Was sagt eine marode Schule über die Wertschätzung der jungen Generation aus … hier sind die Ansatzpunkte einer sozialdemokratischen Wirksamkeitspolitik. Es ist aber auch die Frage der Definition von „Gemeinschaft“.

Allzu oft spricht man in sozialdemokratischen Kreisen von „gesellschaftlichen“ Entwicklungen. Gesellschaften sind stets konstruiert und zutiefst logisch konzipiert. Ihr Kern ist das Verständnis von der vernunftoptierten Handlung des Menschen. Menschen sind aber nicht nur logisch. Sie sind noch viel stärker geprägt vor dem, was der Begründer der deutschen Soziologie (und spätere Sozialdemokrat) Ferdinand Tönnies als „Gemeinschaft“ beschrieb. Es ist die gefühlte Verbundenheit zu meinen Leuten. Zu meiner Familie, meinen Freunden, meinen Arbeitskollegen, meiner Stadt, ja meinem Viertel. Es ist auch Aufgabe der Sozialdemokratie, darauf Antworten zu geben, wie man gerade „den kleinen Leuten“ Zuverlässigkeit und Sicherheit bietet. Gemeinschaften leben davon, klare Regeln zu haben, Rechte zu garantieren, aber auch Pflichten einzufordern. Sie geben deshalb Halt. Gemeinschaften leben auch davon, dass sie sich voneinander unterscheiden. Diese Unterscheidbarkeit gibt Orientierung und Überblick in einer haltlosen Welt. Das Anerkennen und sichern von Gemeinschaft ist kein zivilisatorischer Rückschritt, sondern Teil der Lebenswirklichkeit. Politisch gestalten, heißt das wahrzunehmen, was da ist und nicht in Wunschvorstellungen zu vergehen.

Denn heute ist das Soziotop von Arbeitern, Genossenschaftswohnung, Sportverein und Gewerkschaft nur noch eine Minderheitenerscheinung. Aber die eigentliche Problemlage hat sich nicht verändert: Es geht um Verlässlichkeit, Schutz und Sicherheit. Die „kleinen Leute“ gibt es auch noch heute – es sind heute die, die ihr Reihenhaus über 30 Jahre abstottern, die eine bezahlbare Bildung für ihre Kinder wünschen, die 90 Minuten zu ihrer Arbeitsstelle fahren, weil ansonsten eine vierköpfige Familie keine bezahlbare Wohnung findet, die Menschen die in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen verwahrt und nicht betreut werden. Die Gemeinschaften von heute, sind vor allem gedachte Gemeinschaften, die ein Lebensgefühl umfassen – die Grünen beweisen es nur zu gut. Gefühle entstehen aber aus Fakten, die die SPD nicht mehr eindeutig liefert. Es erfordert vor allem ein klares Benennen der Missstände und (gefühlten) Ungerechtigkeiten. Das gelingt nicht, wenn man Mit(-Verursacher) der Ungerechtigkeiten ist.  Die Sozialdemokraten waren immer die Kümmerer. Kümmern heißt ernst nehmen. Kümmern heißt ändern.

Die SPD verfügt – ob man sie teilt oder nicht – über eine grandiose Leistungsidee. Die Angst der SPD vor dem großen Wurf, vor dem Risiko, vor der gesellschaftlichen Vision mag in den begrenzten Denkräumen der Bonner Republik richtig gewesen sein, aber in Zeiten der allumfassenden Umbegrenztheit von Wirtschaft, Kommunikation und Kultur geht es wieder darum, das „Große und Ganze“ im Blick zu haben. Realistisch unrealistisch zu sein und die Wirklichkeit der „kleinen Leute“ in ihrer Gemeinschaft anzuerkennen.

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