Tichys Einblick
Sie kennt auch Franzosen und Algerier

Alice Schwarzer: „Wir müssen zwischen Islam und politisiertem Islam unterscheiden“

Im Lauf der Zeit habe sie sich häufig zwischen alle Stühle gesetzt. Im vergangenen Jahr erschien ihr Buch „Meine algerische Familie“, seit dem vergangenen Monat gibt es das Buch auch in französischer Übersetzung. Wir haben Alice Schwarzer in Lyon getroffen und mit ihr über Frauen, Kopftücher und den „politisierten Islam“ gesprochen.

© Kai Horstmeier

Sie ist eine „Grande Dame“. Und wer etwas anderes meint, hat sie noch nicht getroffen. Sie hat Simone de Beauvoir gekannt, als sie in Paris lebte, sie ist Urgestein. Wer kennt sie nicht? Alice Schwarzer, inzwischen auch schon 76 Jahre alt, ist vieles – vor allem aber ist sie: herzlich, weltoffen, lustig und intelligent. Eine Bereicherung, sich mit ihr zu unterhalten. Sie sagt von sich selbst, sie habe alle Vorurteile kennengelernt: „Feministin und frustriert, sowas.“ Im Lauf der Zeit habe sie sich häufig zwischen alle Stühle gesetzt, sagt sie. Im vergangenen Jahr erschien ihr Buch „Meine algerische Familie“, seit dem vergangenen Monat gibt es das Buch auch in französischer Übersetzung. Wir haben Alice Schwarzer in Lyon getroffen und mit ihr über Frauen, Kopftücher und den „politisierten Islam“ gesprochen.

Tichys Einblick: Frau Schwarzer, was bringt eine Deutsche dazu, ein Buch über eine algerische Familie zu schreiben?

Alice Schwarzer: Ich habe ja zweimal länger in Frankreich gelebt, Mitte der Sechziger und Anfang der Siebziger, und Algerien ist ja sozusagen für Frankreich das, was Vietnam für die ganze Welt war. Die algerische Unabhängigkeit und was dem vorausgegangen ist. Die Kolonie und danach… Das war in Frankreich sehr präsent, und da ich mit Franzosen gelebt habe, hatte ich auch mit Männern zu tun, die dort im Krieg waren, die dort Furchtbares erlebt haben, oder Furchtbares getan haben. Ich hatte mit Menschen zu tun, die Algerien verlassen mussten, weil sie Algerier-Franzosen oder Juden waren. Also für mich ist das ein Land, das mir immer sehr nah war. Und das mich auch politisch interessiert hat. Immerhin ein Land, das sich 1962 aus eigener Kraft vom Kolonialherren befreit hat, und das in den Sechzigern und Siebzigern das Mekka der Revolutionäre der Welt war. Großer Aufbruch. Und das in den Neunzigern das, was die Algerier die furchtbaren, die „schwarzen Jahre“, nennen, erlebt hat; das, was Syrien und andere Länder später erlebt haben. Da haben die Islamisten, der politisierte Islam, versucht, die Macht zu ergreifen. Und als das nicht gelang, haben sie einen Bürgerkrieg angezettelt, an dessen Ende über 200.000 Tote standen. Davon ist das Land bis heute traumatisiert, also wir haben es in Algerien mit den beiden großen Themen zu tun: dem Postkolonialismus und dem Islamismus, mit den beiden großen Themen unserer Zeit.

„Emanzipierte Frauen waren nicht die Traumfrauen der Islamisten“

Mein jüngerer persönlicher Bezug: 1989 habe ich in Tunis ein Seminar für Journalistinnen im Maghreb gemacht, und darunter waren auch Algerierinnen. Und darunter war auch Djamila, meine zentrale Bezugsperson für dieses Buch. Meine Kollegin. ‘89 hat man schon gespürt: Bald geht was los, dann kam der erste Golfkrieg, und dann kam der Versuch ’91 der Islamisten, in Algerien die Macht zu ergreifen. Als Erstes haben sie Journalisten umgebracht, jeden Dritten, 178 insgesamt. Und natürlich waren emanzipierte Frauen auch nicht die Traumfrauen der Islamisten, die waren auch dran. Und meine Kollegin Djamila steht für beides. Sie geriet sehr schnell in große Lebensgefahr. Ich habe sie dann fünf Jahre lang nach Köln geholt, da hat sie überlebt, wofür mir ihre Familie verständlicherweise sehr dankbar war. Die kamen sie dann besuchen, ich besuchte die Familie und fing an, mich mit der ganzen Großfamilie zu befreunden. Drei Generationen. Der älteste Bruder hat als Schüler noch Widerstand gegen die Kolonialherren geleistet. Djamila ist in den goldenen sechziger, siebziger Jahren mit Angela-Davis-Frisur und in Jeans rumgelaufen. Und die Jüngeren, ihre Nichten, wenn die im Ausland sind, dann tragen die High-Heels und Minirock. Einige haben auch gewagt, in den „schwarzen Jahren“ kein Kopftuch zu tragen. Darüber können wir reden, das ist mein Bezug. Ich bin mit der Familie befreundet, es gibt ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis.

Tichys Einblick: Was haben Sie dort konkret erlebt, inwieweit hat das Ihre Sicht auf muslimische Frauen geprägt oder verändert?

Alice Schwarzer: Das hat meine Sicht auf muslimische Frauen überhaupt nicht verändert. Man muss sich vorstellen, das Buch ist eine Art Reportage, die fast den Charakter eines Romans hat, die unterbrochen wird von Monologen der Protagonisten. So entsteht ein Mosaik von Stimmen. In all seiner Gemeinschaftlichkeit, seiner Widersprüchlichkeit, Männer, Frauen, Alte, Junge, Gläubige, Lockere, Nicht-so-Gläubige und so weiter… Dieses Buch ist das konkrete Erlebte.

„Muslime sind die ersten Opfer der Islamisten“

Ich beschäftige mich ja seit 1979, als ich ein paar Wochen nach der Machtergreifung Khomeinis im Iran war und begriffen habe, was da abgeht, ich konnte da ja noch nicht wissen, dass es eine weltweite Offensive der Islamisten gibt. Aber es war klar, was die da tun werden, das haben sie ja sehr offen gesagt. Selbstverständlich. Steinigung bei Ehebruch, Steinigung bei Homosexualität, selbstverständlich, Hand abhacken bei Diebstahl, das steht so im Koran. Es war klar, was da kommt, und ich habe das auch in der „Emma“ und der „Zeit“ geschrieben und habe mir damals schon den tapferen Ruf einer „Schah-Freundin“ – was ich natürlich nicht bin – und einer „Rassistin“ erworben. „Islamophob“, der Begriff ist ja eine neue Prägung. Das heißt, ich habe seit meiner Zeit in Frankreich engste Kontakte zu Frauen in muslimischen Ländern. Also, mich hat da nichts überrascht. Was mich interessiert hat, war zu zeigen, dass die „Normalen“, was immer man unter „Normal“ versteht, dass die normalen Muslime die ersten Opfer der Islamisten sind, des politisierten Islam. Für uns ist das auch nicht nett mit den Attentaten, das ist sogar sehr traurig, aber das steht ja in keinem Verhältnis zu den Hunderten und Tausenden Terrortoten in den muslimischen Ländern. Und am konkreten Leben zu zeigen, wie Muslime in Geiselhaft genommen werden von diesen Rechten. Ich würde sagen, dass der politisierte Islam der Faschismus des 21. Jahrhunderts ist. Es ist schon sehr erstaunlich, dass man im Westen so oft den Schulterschluss mit diesen Leuten sucht. Und vor allem seitens von Linken ist das ja verwunderlich. Darüber wundern sich am allermeisten die Muslime selber.

Tichys Einblick: Sie haben kürzlich von „Islam-Linken“ im Zusammenhang mit dem französischen Philosophen Finkielkraut gesprochen. Wie ist das denn gemeint?

Alice Schwarzer: „Islamo-Gauchiste“, das ist der Teil der Linken, der mit den Islamisten sympathisiert. So ist das gemeint. So meint das der Finkielkraut, und so meine ich das jetzt. Ich dachte, dass man in dieser Hinsicht, dass man einfach begreift… Ich gebe Ihnen das konkrete Beispiel: Meine Drei-Generationen-Familie, da waren die Eltern noch Analphabeten, die Mutter von Djamila, der Vater musste in Frankreich arbeiten gehen. Das waren die Söhne der Bauern, denen man das Land weggenommen hatte. Die Kinder, und erst recht die Enkelinnen, haben zum Teil schon studiert. Das ist ein enormer Schritt. Und die sind zum Teil gläubig, alle sagen, sie sind gläubig. Man kann in Algerien eigentlich nicht mehr sagen, man ist nicht gläubig, ich würde sagen, gut die Hälfte „meiner Familie“ ist wirklich tief gläubig, inklusive fünfmal am Tag Beten und so, was man übrigens, wenn man in den muslimischen Familien lebt, nicht sieht. Beten wird – von den Algeriern zumindest –, und ich vermute auch mal von den anderen, als strikte Privatsache betrachtet. Es verschwindet irgendwann einmal jemand im Nebenraum und kommt irgendwann wieder. Ich habe wochenlang in muslimischen Familien gelebt und nie Irgendjemanden Beten sehen. Nicht, weil niemand gebetet hat, sondern weil man sich dafür zurückzieht. Und das mit sich und seinem Gott ausmacht. „Meine Familie“ und die Nichten der zentralen Figur Djamila, die jetzt Ende 30, Anfang 40 sind und selber Kinder haben, die haben in den Neunziger-Jahren studiert. Die haben es wirklich gewagt, jeden Tag unverschleiert zur Universität zu gehen. Da hingen riesige Schilder „Frauen, die kein Kopftuch tragen, denen hacken wir den Kopf ab“ und so weiter; und die beiden sind auch nur knapp einem ihnen geltenden Attentat entkommen. Der Polizist hat gesagt, „jetzt fahrt mal hier weg mit dem Auto, ihr könnt hier nicht stehen bleiben“, und dann ging die Bombe unter ihrem Auto hinter ihnen hoch. Sehr mutige Frauen. Die sagen, lieber wäre ich tot gewesen, als das Kopftuch zu tragen. Ihre Tante trägt ein Kopftuch, zwei Schwestern von Djamila, sie hat sieben Brüder und zwei Schwestern, sind von der Mutter arrangiert verheiratet worden. Die haben ihren Ehemann am Tag ihrer Hochzeit zum ersten Mal gesehen. Djamila lebt wie eine Frau in Deutschland, hat nie geheiratet, sie ist selbständige Journalistin, also da gibt es eine Vielfalt, die gegenseitig toleriert wird, die aber auch zeigt, wie gewaltig die Spannung sein muss. Es gibt die sozio-kulturellen Traditionen, die noch sehr patriarchal sind. Bis heute gilt in Algerien das islamische Familienrecht, das Frauen zu Unmündigen macht. Und gleichzeitig sind die modernen Medien präsent, da gucken die jungen Frauen Netflix und die Algerier ohne Ende französisches Fernsehen. Also, die sind zwischen zwei Welten, und das ist alles sehr interessant sich das aus der Nähe, im Gelebten, anzusehen. Wir reden so viel über „die Muslime“. Das Buch versucht, eine Familie, die ziemlich typisch ist und vielfältig, es versucht, ihr konkretes Leben zu zeigen.

„Ich bin über die Unruhen in Algerien nicht überrascht“

Tichys Einblick: Aus gegebenem Anlass – ein paar Worte zur politischen Situation in Algerien …

Alice Schwarzer: Ich bin nicht überrascht. Das Buch ist Anfang letzten Jahres in Deutschland erschienen. Darin prognostiziere ich bereits die Unruhen, die jetzt stattfinden. Dazu muss man keine Hellseherin sein. Es war klar, dass Bouteflika sich wieder präsentieren wird, es war klar, dass er eigentlich eine Marionette ist und von undurchschaubaren Kräften manipuliert wird. Und es war ebenso klar, dass die Algerier das nicht mehr mitmachen. Allerding muss ich Eines sagen, das überrascht mich positiv: In den vergangenen Jahren waren die Menschen in Algerien ziemlich resigniert, es gibt eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, es gibt soziale Ungerechtigkeit, es gibt die Erstarrung des Regimes, das sich nicht bewegt, es gibt eine zunehmende religiöse Rigidität, die nicht identisch ist mit dem politischen Islam, von dem haben die Algerier die Schnauze ultra-voll. Aber trotzdem ist sie eine große Einengung. Es war klar, es würde sich etwas bewegen. Was mich jetzt überrascht und berührt, ist die Vitalität und die Leidenschaft des Protestes. In „meiner Familie“ gehen alle auf die Straße. Und die Frauen machen „Juh-Juhs“, diesen Freuden-Jodler. Ich bin jetzt in permanentem Email-Austausch mit „meiner Familie“, sie schreiben alle, die Demonstrationen sind sehr heiter, die Stimmung ist familial, sie sind sehr optimistisch und gleichzeitig haben sie Angst. Natürlich haben sie Angst davor, womit ihnen das erstarrte Regime die ganze Zeit droht. Das ist das Chaos, und wenn es das Chaos gibt, dann greifen die Islamisten wieder zur Macht.

„Etiketten wie Rechts oder Links sind nichts wert“

Tichys Einblick: Wie ordnen Sie sich selbst politisch ein?

Alice Schwarzer: Also wissen Sie, ich habe in den letzten zwanzig Jahren gelernt, dass dies Etiketten „Rechts-Links“ sowieso wenig wert sind. Und ich gucke mir einfach an, was machen die Parteien, was machen Menschen genau. Was mich angeht, bin ich natürlich uneingeschränkt für Gleichheit der Geschlechter, ich bin uneingeschränkt für Demokratie, Rechtsstaat und soziale Gerechtigkeit und gegen Missbrauch von Machtverhältnissen. Wohin Sie das stellen wollen, ist Ihnen unbenommen.

Tichys Einblick: Ein Wort zum Abschluss?

Alice Schwarzer: Ich bin der Meinung, dass, wenn man dieses Buch über das gelebte Leben von Muslimen liest, dann kann man solche Sätze nicht mehr sagen wie „Der Islam ist nicht demokratiefähig“. Es gibt Hunderte Interpretationen von Islam. Das ist natürlich völliger Quatsch: Ein aufgeklärter Islam, also „meine Familie“, träumt von einer Republik, von Freiheit. Ich nenne immer ein Beispiel, damit das klarer wird. In den sechziger und siebziger Jahren, da bin ich ja schon Zeitzeugin, hatten wir schon weit über eine Million Türken. Also erstens haben die Türkinnen natürlich kein Kopftuch getragen, da war mal ein älteres Mütterchen aus Anatolien … so wie in Bayern oder im Hessischen oder im Bergischen. Kopftücher gab es nicht, Kopftücher gibt es erst seit der Renaissance des politisierten Islam; Khomeini 1979 im Iran. Da ist das Kopftuch zur Flagge des politischen Islam geworden. Und zweitens: Es geht noch viel weiter. Über Islam hat man überhaut nicht geredet. Wenn in der Fabrik ein deutscher Arbeiter den anderen gefragt hat „Du, hör‘ mal, der Mohammed, was glaubt der eigentlich, oder ist der, weiß ich auch nicht, orthodox oder was? Die Türken waren keine Muslime für uns. Sie haben sich selber nicht so verstanden, ihre Religion war kein Thema, weder für sie selbst, noch für uns. Sie waren ein bisschen anders, das war eine soziale Frage, sie waren Gastarbeiter, sie kamen, es ging ihnen schlechter als den Deutschen, sie aßen ein bisschen viel Knoblauch, das tat man damals bei uns noch nicht. Und die Musik war ein bisschen lauter, und die Frauen wurden auch ein bisschen strenger gehalten, als die eigenen. Aber Islam war kein Thema. Der einzige Weg, wie wir aus dem Dilemma herauskommen, ist, dass wir endlich zu unterscheiden lernen zwischen dem Islam als Religion, die uns nichts angeht, und dass wir in unserer Demokratie die Möglichkeit schaffen, und das tun wir ja auch, dass jeder glaubt, was er will oder was er nicht will, und dem politisierten Islam, der keine Religion ist, sondern eine rechte Strategie.


Alice Schwarzer mit Bettina Flitner (Fotos), „Meine algerische Familie“, Kiepenheuer & Witsch, 2018