Tichys Einblick
45 Enthaltungen reichen

45 Abgeordnete können Geschichte schreiben

Eine halbe Hundertschaft Bundestagsabgeordneter würde reichen, um alle Kalkulationen der Parteioberen von Union und SPD auszubremsen. Gibt es so unabhängige Parlamentarier?

© Omer Messinger/Getty Images

Gehen wir die Sache als Otto-Normalbürger ganz naiv an. Es gibt einen Artikel 38 des Grundgesetzes. Dort steht in Absatz 1: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Und es steht dort in Absatz 2: „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat …“

Bleiben wir weiter naiv und denken uns erstens: Abgeordnete, auch wenn sie ein bestimmtes Parteibuch tragen, sind dem ganzen (!) Volk verpflichtet. Es gibt auch kein „imperatives“ Mandat. Das heißt, nicht das SPD-Volk kann befehlen (das lateinische Wort „imperare“ heißt „etwas oder jemanden beherrschen“), ob eine bestimmte Bundesregierung bzw. eine bestimmte Koalition zustandekommt. Und meinen wir zweitens: Das kann via Entscheid der SPD-Mitglieder schon gleich gar nicht geschehen, weil an dieser parteiinternen Abstimmung Minderjährige (ab 14!) und Inhaber fremder Pässe teilnehmen dürfen.

Für den Fall, dass der SPD-Mitgliederentscheid zugunsten einer GroKo ausfällt, erwarten die Merkels, Nahles‘ und Seehofers gleichwohl, dass ihre CDU/CSU/SPD-Bundestagsabgeordneten Merkel zur Kanzlerin wählen. Merkel wäre damit indirekt übrigens auch mit den Stimmen Minderjähriger und Nicht-Deutscher ins Amt gehievt worden. Paradoxerweise würden dann womöglich auch alle CDU/CSU-MdBs so abstimmen, wie es dem „imperativen“ Votum des SPD-Parteivolkes entspricht.

Nun gut, ganz so einfach ist das Thema nicht. Es gibt da viele Aspekte. Dass bei der Aushandlung des Koalitionsvertrags breitere Gremien der Parteien eingebunden sind, ist unproblematisch und widerspricht nicht der Verfassung. Grenzwertig aber war es immer schon, wenn Parteitage, die über Koalitionen und Koalitionsverträge abstimmen, realiter ein imperatives Mandat ausübten. Im übrigen wirkt der zumeist praktizierte Fraktionszwang „imperativ“.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits 2013 Gedanken gemacht. Damals hatte es Anträge abgelehnt, die einen Verstoß gegen das Grundgesetz sahen, wenn Parteimitglieder – wenn auch nur indirekt – über das Zustandekommen einer Bundesregierung entscheiden. Auch jetzt hat das Bundesverfassungsgericht mehrere Verfassungsbeschwerden und Eilanträge gegen das SPD-Mitgliedervotum ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen. Das kann das Gericht tun, wenn es meint, dass einer bestimmten Frage keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, oder wenn es meint, es habe Rechtsfragen längst geklärt. Oder wollte sich das höchste deutsche Gericht jetzt einfach nur wenig elegant aus der Affäre ziehen? Trotzdem bleibt die Frage: Was wäre eigentlich, wenn ein Bundestagsabgeordneter oder eine ganze Oppositionsfraktion klagte?

Für keinen geringeren als Hans-Jürgen Papier, 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, wird mit dem SPD-Mitgliedervotum das parlamentarische System ausgehebelt. Soeben hat er festgestellt:

„Mitgliederentscheide über die Bildung der Bundesregierung, über das künftige Regierungsprogramm und die Gesetzgebung in der neuen Legislaturperiode hebeln stückweise diese grundgesetzlichen Regeln des parlamentarischen Systems faktisch aus.“

Mit welchen Szenarien kann man rechnen? Wenn das SPD-Parteivolk „nein“ sagt, ist die Frage nach der Koalition obsolet. Denn wenn die SPD-Führung sich dann – was laut SPD-Satzung möglich ist – mit einem Vorstandsbeschluss über dieses Votum hinwegsetzte, dann hat sich die SPD endgültig geschreddert. Es blieben drei Optionen: Neuauflage „Jamaika“-Sondierungen, Minderheitsregierung oder Neuwahlen.

Sagt das SPD-Parteivolk „ja“, ist das wahrscheinlichste Szenarium, dass nach Bekanntgabe des SPD-Ergebnisses am 4. März eine GroKo und eine Kanzlerwahl mit knapper Mehrheit zustandekommen. Oder aber es folgen 22 CDU/CSU- plus 23 SPD-Abgeordnete ihrer Überzeugung, und sie verweigern ihr JA. 45 Abgeordnete, die sich enthalten, würden schon reichen. Dann hätte der Bundespräsident wieder das Wort, womöglich müsste die Kandidatin dann in einen demütigenden dritten Wahlgang. Warum 45? Weil CDU/CSU/SPD im Bundestag zusammen 399 Stimmen haben, für die Kanzlermehrheit 355 (ein Stück über der Hälfte der 709 Mandate) erforderlich sind und 399 minus 45 (=354) nicht reichen.

Gewinnen würde mit diese 45 Enthaltungen das Grundgesetz. Dann wäre wieder deutlich gemacht, dass nur mit der Einhaltung bzw. Beachtung der Grundregeln unserer Verfassung, die das Wesen von Demokratie und Rechtsstaat ausmachen, Staat im wahrsten Sinn des Wortes zu machen ist. Das mag als formalistisches und altmodisches Verständnis von Staat angesehen werden. Aber was sich derzeit abzeichnet, ist eine fatale Entwicklung, mit der das Grundgesetz torpediert wird.

45 Abgeordnete, wo seid ihr?