Tichys Einblick
Die Sowjets nahmen den Völkern die Sprache

100 Jahre Belarus – eine Nation im Wartesaal

Die osteuropäische Nation der Belarussen hat es auch 100 Jahre nach ihrer ersten Unabhängigkeitserklärung nicht leicht, sich zu ihrer Identität zu bekennen, sondern wird politisch zwischen Ost und West laviert.

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Am 25. März 2018 beging Belarus, das in Deutschland immer noch besser als Weißrussland bekannt ist, den hundertsten Jahrestag der Ausrufung der Weißrussischen Volksrepublik, welche den ersten belarussischen Nationalstaat verkörperte. Gegründet in der wirren Endphase des Ersten Weltkriegs war der Volksrepublik jedoch ein ähnliches Schicksal beschieden wie ihren ukrainischen Nachbarn. Schon bald geriet sie zwischen die Fronten des expandierenden Polens und Russlands, in dem die Bolschewisten mehr und mehr die Oberhand gewannen. Der polnisch-sowjetische Krieg führte in seinem Ergebnis 1920 zur Spaltung des mehrheitlich von Belarussen besiedelten Territoriums: Der westliche Teil wurde in die Zweite Polnische Republik eingegliedert, während der Ostteil als Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik in der Sowjetunion aufging.

Im Zuge der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Sowjetrepublik die äußere Gestalt, die sie auch nach der Erreichung ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 beibehalten hat. Innerlich war ihr die freie Entfaltung als eigenständige Nation jedoch sieben weitere Jahrzehnte vorenthalten worden. Dazu gebe man noch die Traumata des stalinistischen Terrors und der ungeheuren Bevölkerungsverluste im Zuge des Holocaust und man wird es schwer haben, dem Volk das 1991 begonnene und von Wirtschaftskrisen begleitete demokratische Experiment schmackhaft zu machen.

Somit war der politische Boden bereits 1994 fruchtbar für Alexander Lukaschenko, der in Aussicht stellte, als Präsident die Uhren im Land wieder zurückzudrehen in die Zeit, welche ein Großteil der Bürger als stabil empfunden hatten. Nach seinem Wahlsieg und einem 1996 abgehaltenen Referendum setzte er dies politisch dahingehend in die Tat um, indem Meinungs- und Pressefreiheit beschnitten und oppositionelle Parteien in ihrer Arbeit behindert wurden, während das Amt des Präsidenten mehr und mehr mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet wurde. Äußerlich markierte der Wechsel weg von der zwischen 1991 und 1995 verwendeten, an die Farben des Polnisch-Litauischen Staatenbundes angelehnten Fahne des Landes zurück zu einer Variation der Fahne der Belarussischen Sowjetrepublik die erneute Zeitenwende. Wirtschaftlich wurde die Idee einer „evolutionären“ Ökonomie verfolgt, in der die ehemals kommunistischen Staatsbetriebe nur langsam – ganz langsam – den Gesetzen des Marktes unterworfen werden sollten, was ihren verlängerten Verbleib in Staatshand implizierte.

2010 bekam ich die Gelegenheit, dem DAAD sei Dank, Belarus für einige Wochen zu bereisen und mir ein eigenes Bild des dortigen Frankenstein-Sozialismus zu machen. Nachdem ich mit den akademischen Betonköpfen an den Universitäten gesprochen und einige der privatisierten Unternehmen, deren Aktien sich mehrheitlich im Staatsbesitz befanden, besichtigt hatte, wünschte ich den örtlichen Wirtschaftslenkern viel Glück, denn ich hatte den Eindruck, dass sie davon eine ganze Menge gebrauchen könnten.

Noch im Winter des gleichen Jahres schien ihnen das Glück sogar kurz ausgegangen zu sein, denn im Zuge der offensichtlich unfreien und manipulierten Präsidentschaftswahlen vom Dezember 2010 formierte sich das Volk in den Großstädten zu einem beachtlichen Protest gegen das System Lukaschenko. Doch das System machte klar, dass es nicht grundlos als Diktatur gilt und schlug mit Härte zurück. Wenn man wie ich zu jung ist, um die Segnungen des real existierenden Sozialismus noch selbst gesehen und erlebt zu haben, dann bekommt man erst eine Vorstellung vom Leben in einer Diktatur, wenn Freunde auf Grund ihrer friedlichen Teilnahme an einer Demonstration von einem Inlandsgeheimdienst bis in die eigenen vier Wände verfolgt und eingeschüchtert werden. Es folgte eine mehrjährige diplomatische Eiszeit zwischen Belarus und dem Westen.

Gleichzeitig erscheint es fragwürdig, ob selbst eine freie Wahl das Ende des Lukaschenko-Regimes bedeutet hätte. Die belarussischen Rentner genießen relativ großzügige Sozialleistungen, während den arbeitenden Belarussen trotz gelegentlich ausbleibenden Lohnzahlungen ein Blick zum südlichen Nachbarn Ukraine genügt, um zu entscheiden: Keine Experimente. Die Präsidentschaftswahlen 2015 waren weniger repressiv als die vorherigen, um sie dem Westen bekömmlicher zu machen, aber Lukaschenkos Mehrheit schien niemals ernstlich in Gefahr zu sein.

Wenn man es möchte, kann man Lukaschenko zu Gute halten, dass er Belarus immerhin mehr als zwanzig Jahre lang zwischen den beiden Machtblöcken EU und Russland manövriert und dabei trotz eines schwachen Blatts auf der Hand genug herausgeschlagen hat, um die eigene Volkswirtschaft wenn auch auf Sparflamme am Leben zu erhalten. Man kann darüber streiten, ob dies im besten Interesse seines Volkes gewesen sein mag, aber es hat dem Land zumindest eine gewisse Autonomie von beiden Parteien erhalten, die auch den inneren Spaltungen des Landes Rechnung trägt.

Ade
Europa: Das Ende des Postkolonialismus
Nicht zu unterschätzen ist auch die Wachsamkeit, mit der in Minsk die seit Jahren andauernden Agitationen des russischen Nachbarn verfolgt werden, welche darauf abzielen, die nationale Identität nicht nur in Belarus, sondern auch im Baltikum und in der Ukraine sowieso zu untergraben. Vor entsprechenden Kommentaren in Richtung Osten schreckt Lukaschenko daher nicht zurück: Als Russland sich im Jahr 2014 die ukrainische Krim einverleibte und dies nachträglich durch einen historischen Anspruch Russlands auf die Halbinsel zu rechtfertigen suchte, schlug Lukaschenko im belarussischen Fernsehen vor, dass Russland nun logischerweise den Großteil seine Territoriums an die Mongolei übergeben solle, denn diese habe aus der Zeit der Mongolenreiche schließlich einen Anspruch darauf. Nach dem Wahlsieg Donald Trumps legte Lukaschenko seinem russischen Amtskollegen Putin außerdem nahe, seine Erwartungen gegenüber der neuen US-Regierung im Zaum zu halten. Trumps Parole sei eben „Make America great again“ und Putin solle sich fragen, welchen Stellenwert Trump wohl Russland in diesem Konzept einräumen werde. Gemäß Lukaschenkos Auffassung werde Trump Russland an die zwanzigste Stelle setzen, denn Russlands Volkswirtschaft sei die zwanziggrößte der Welt.

Das belarussische Nationalbewusstsein scheint in Lukaschenkos Pokerspielen zwischen West und Ost oft kaum mehr als ein in seiner Höhe flexibler Einsatz zu sein, der dann auf den Tisch gelegt wird, wenn der zu zahlende Preis für die Hinwendung zum einen und die Abkehr vom anderen Machtblock in die Höhe getrieben werden soll.

Teil dieser nationalen Identität ist natürlich auch die belarussische Sprache, die je nach derzeitigem Grad der Russlandfreundlichkeit von Regierungsseite belebt oder erstickt wird. Dieser Umgang mit dem Kulturgut der Sprache ist das Thema von Viktor Martinowitschs Roman „Mova“. „Mova“ bedeutet „Sprache“ auf Belarussisch. Diese Sprache wird jedoch nur noch von einer Minderheit der Belarussen aktiv gesprochen. Dies ist das Resultat jahrzehntelanger Russifizierung besonders im Osten des Landes sowie des russlandfreundlichen „roll backs“ unter Lukaschenko. Nur 13% der Schüler werden heute auf Belarussisch unterrichtet. Die Sprache ist damit ein Politikum geworden. Wer sie spricht, bekennt sich damit stärker zu seiner nationalen Identität, als es dem Machthaber oft lieb ist.

Martinowitschs Roman beschreibt mit viel schwarzem Humor eine dystopische Zukunft, in der Russland und China zu einem Superstaat fusioniert sind. Gegen das islamisierte Europa hat man sich mit einer Großen Mauer östlich von Warschau abgeschottet, so dass Minsk eine abgelegene Randprovinz des Riesenreichs darstellt. Erinnerungen der Einwohner an den belarussischen Staat und insbesondere an die belarussische Sprache sind längst verblasst. Allerdings kursiert die Droge „Mova“ in Form von kleinen, mit belarussischen Worten beschriebenen Papierschnipseln, welche die Bewohner des ehemaligen Belarus nur lesen müssen, um psychedelische Trips zu erfahren, auch wenn die Sprache selbst unerkannt bleibt.

Der Hauptakteur des Romans hat sich auf den Handel mit dieser ihm ebenfalls unerklärlichen Droge spezialisiert. Im Verlauf der Handlung kommt er jedoch mit einer Gruppe belarussischer Untergrundkämpfer in Kontakt, welche ihr Leben der Bewahrung und Wiederbelebung ihrer Muttersprache verpflichtet haben. Die Anführerin der Gruppe weiht ihn schließlich in das Geheimnis um „Mova“ ein:

„Mova ist unsere Ethik. Unser ureigenes, in Worte gefasstes Verständnis von Gut und Böse. Siehst du, wie es hier zugeht? Wie verquer alles ist? Schwarz ist Weiß, und Weiß ist Schwarz. […] Es gab diese vertraute Sprache, in der ein Dreckskerl auch Dreckskerl genannt wurde. Aber dann kam eine andere Sprache mit vielen neuen Wörtern. Das hat die Leute verwirrt. Und in dieser Verwirrung leben sie bis heute. Gib ihnen das Wort, und sie werden sich erinnern, was gut ist.“

Was gut ist. Vielleicht lässt sich an dieser Stelle eine Brücke vom uns doch sehr fern erscheinenden Konflikt um die belarussische Nationalidentität hinüber zu unseren eigenen Problemen schlagen. Denn erinnert diese Schilderung nicht an das, was diejenigen, die die Ideen einer französischen, englischen, deutschen Nation „dekonstruieren“ wollen, mit den Sprachen dieser Nationen im Schilde führen? Die Sprachen werden in ihrer eigentümlichen Form als politisch inkorrekt und sogar als repressiv charakterisiert. Deshalb werden neue Wortkonstrukte am Zeichentisch entworfen und von der Politik in den Debatten und Schulen verordnet. Diese Konstrukte mögen zwar politisch korrekt sein, aber sie verfälschen den Wahrheitsgehalt der Sprache und stiften Verwirrung um den „richtigen“ Gebrauch der Letzteren. Darunter leiden die Unbeschwertheit und die Freiheit des Sprachgebrauchs und damit auch die Möglichkeit, das Gute (und den Dreckskerl) beim Namen zu nennen. Die Sowjets wussten, warum für sie die Unterdrückung der Sprachen der Völker, die sie beherrschten, oberste Priorität hatte.

Während die Belarussen nach 100 Jahren noch immer damit warten, als Nation wirklich eigene und freie Schritte zu gehen, binden sich die Nationen des Westens mittlerweile selbst die Füße. Die Chancen auf eine zukünftige bessere Verständigung der beiden stehen deshalb vielleicht gar nicht schlecht.