Tichys Einblick
Vorwort zum Sonntag

Wie steht es um eine Gesellschaft, wenn Begriffe wie „Freiheit“ negativ konnotiert werden?

Unsere Gesellschaft braucht keine rücksichtslos-woke Sprachkärcherung der Fassade, die obendrein alle Lebendigkeit, Gewachsenheit und Geschichtlichkeit gleich mit abräumt.

IMAGO/Future Image

Es gibt Begriffe, die einfach richtig gut sind. „Neoliberal“ ist so ein Begriff. Da steckt „neo“ = „neu“ drin; und da steckt „liberal“ = „freiheitlich“ drin. Was soll an „neu“ oder „freiheitlich“ schlecht sein?

Von daher ist es äußerst verwunderlich, wie ausgerechnet dieser positive Doppel-Begriff pervertiert wird, indem man ihn als Synonym für „egoistisch“, „kaltherzig“ und „raffgierig“ benutzt. Wer hat ein Interesse daran, den Begriff der „Freiheit“ derartig in den Schmutz zu ziehen? Welche geistigen Strömungen haben bei uns so viel Macht, dass sie selbst gute Begriffe in Schimpfwörter verwandeln können?

Auch „-versteher“ ist so ein guter Begriff. Überall, wo es um Menschen, um menschliche Texte und Kulturprodukte und wo es um das menschliche Miteinander geht, ist die Kunst des Verstehens von zentraler Bedeutung. „Beurteile nie einen Menschen, bevor du nicht mindestens einen halben Mond lang seine Mokassins getragen hast“, so brachten die Indianer das auf ein Sprichwort, was das deutsche Worte „verstehen“ meint: Der befristete Versuch, sich auf die Stelle eines anderen zu stellen, um ihn „verstehen“ zu können, um dann besser mit ihm kommunizieren zu können. Wobei „verstehen“ natürlich keinesfalls „zustimmen“ oder „übereinstimmen“ meint.

Jemand von oben herab abzuqualifizieren, dazu braucht es kein „Verstehen“. Aber jedes ernsthafte Gespräch um Frieden braucht „Verständnis“. Und so braucht der Frieden „Putinversteher“, „Selenskyjversteher“ und auch Akteure, die sich bemühen, die junge Witwe mit Kind im Donbass zu verstehen, die keinerlei Verständnis weder für die russische noch für die eigene ukrainische Politik noch für alle westliche Einflussnahme hat, weil sie vom schrecklichen Kampf ums Überleben am Ende ihrer Kräfte ist.

Wer hat ein Interesse daran, den Vorgang des „Verstehens“ in ein negatives Licht zu rücken? Welchen geistigen Strömungen gewähren wir die Macht, „Verstehen“ in Misskredit zu bringen?

Auch „Querdenken“ ist so ein wertvoller Begriff. „Querdenken“ umschreibt das Herz der Aufklärung, in der Kritik und Zweifel als Motor der Verbesserung und des Fortschritts hoch geachtet werden. „Querdenken“ umschreibt die Freiheit der Botschaft Jesu, die den Widerspruch zur Mehrheitsmeinung wagt, selbst wenn das Kreuzwege zur Folge hat. „Querdenken“ ist die Essenz einer offenen Gesellschaft, die durch unser Grundgesetz gewollt und geschützt ist. Wie autoritär, eng und unfrei muss eine Gesellschaft sein, wenn in ihr „Querdenken“ als Schimpfwort gilt?

Heutzutage legen „woke“ Menschen viel Wert auf die Sprache. Begriffe wie „Mohrenapotheke“ und das männlich-patriachale „Rednerpult“ lassen schrille Sirenen anspringen, weil diese Wörter vermeintlich das gute Miteinander in unserem Land zerstörten. So wird an der Sprachfassade unserer Gesellschaft fahrig und fiebrig herumgebastelt mit ständig neuen, unausgegorenen Einfällen, Rein- und Ausfällen.

Doch der eigentliche Schaden geschieht verborgen am Fundament unserer Gesellschaft. Wo Begriffe wie „Freiheit“, „Verstehen“ und „Querdenken“ grundlegend in den Schmutz gezogen werden, da ist das Haus auf Sand gebaut.

Unsere Gesellschaft braucht keine rücksichtslos-woke Sprachkärcherung der Fassade, die obendrein alle Lebendigkeit, Gewachsenheit, Geschichtlichkeit und Farbigkeit gleich mit abräumt. Unsere ehemals westliche Gesellschaft braucht stattdesssen eine neue Sensibilität für ihre unverzichtbaren Fundamente „Freiheit“, „Verstehen“ und „Querdenken“.

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