Tichys Einblick
Die Enzyklika “Fratelli tutti” vom 4.10.2020

Wenn der Papst die Welt belehrt

Dem Papst in bewährter katholischer Tradition entgegengehalten: Gegen einen „verbohrten, übertriebenen, wütenden und agressiven Internationalismus“ kann sehr wohl ein weltoffener Nationalismus und eine weise Regionalisierung ein heilsames Korrektiv sein.

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Fünf Jahre nach seiner „grünen Enzyklika“, die für eine nachhaltigere Welt eintritt, lädt uns Lehrer Franziskus erneut mit einem „Rundschreiben mit erhöhter Lehrautorität“ (= päpstliche Enzyklika) in sein Klassenzimmer ein.

Schon der Titel „Fratelli tutti“ = „wir sind alles Brüder / Geschwister“, zeigt, wo die erhöhte Lehrautorität hin will: Der Papst will zu einer besseren, gerechteren und friedlicheren Welt durch eine „Globalisierung der Liebe“ über alle Grenzen hinweg, ohne eine „Kultur der Mauern“ (27). Darum bittet er: „Gott gebe, dass es am Ende nicht mehr ‚die Anderen‘, sondern nur ein ‚Wir‘ gibt“ (35).

Was für ein frommer Wunsch – die weltweite Symbiose von 8 Mrd Menschen! Eine bessere, gerechtere und friedlichere Welt, das wünscht sich wohl jeder. Aber an dem Weg, den der Papst in seiner Enzyklika lehrt, stören mich fünf Tendenzen:

Erstens: Die Anhimmelei des Übernationalen

„Wir sind alles Geschwister“ – steht groß an der Tafel. Egal wie nah oder fern einem ein Mensch steht. Unter der Überschrift „Eine offene Welt denken und erschaffen“ ist in den Augen des Papstes alles Internationale und Grenzüberwindende gut: die EU (11), die UNO (173-175), interreligiöse Ökumene (3), die Fernstenliebe (1). Sicherlich müssten diese weiter verbessert und reformiert werden. Aber sie seien allemal besser als die in letzter Zeit leider zunehmenden „verbohrten, übertriebenen, wütenden und agressiven Nationalismen“ (11).

Dabei scheint der Papst nicht wahrnehmen zu wollen, dass alle globalisierenden Großinstitutionen eine zerstörerische Dynamik in sich tragen. Die Mängelliste bei den transnationalen Organisationen ist lang. Sie reicht von Bürgerferne, Bürokratismus, Zentralismus, Intransparenz und Lobbyismus bis hin zur Korruption. Das gilt für die universale = katholische Kirche nicht anders als für die EU und die UNO.

Daher hat die alte katholische Soziallehre zu Recht den Subsidiarismus betont: eine gegen Zentralismus und Kollektivismus gerichtete Gesellschaftsauffassung, die für die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der kleineren Sozialgebilde eintritt.
Und so möchte ich dem Papst in bewährter katholischer Tradition entgegenhalten: Gegen einen „verbohrten, übertriebenen, wütenden und agressiven Internationalismus“ kann sehr wohl ein weltoffener Nationalismus und eine weise Regionalisierung ein heilsames Korrektiv sein.

Zweitens: Die naive Hypermoralisierung

„Wir sind alles Geschwister“ – dazu gehören natürlich auch alle weltweiten Migranten. Darum wird es im Klassenzimmer eng werden. „Unsere Bemühungen für die zu uns kommenden Migranten lassen sich in vier Verben zusammenfassen: aufnehmen, schützen, fördern und integrieren“ (129). Dabei müssen „humanitäre Korridore“ (130) eröffnet werden und „ein uneingeschränkter Zugang zur Justiz“ gewährleistet werden, ebenso wie alle „für den Lebensunterhalt notwendigen Dinge“ (130).

Was mich an diesem einseiten Tafelanschrieb „aufnehmen, schützen, fördern und integrieren“ stört, ist die Hypermoral, die mit einer Hypernaivität einhergeht. Hier werden im Namen höchster geistlicher Autorität höchste moralische Forderungen aufgestellt, ohne Verantwortung und Rücksicht auf Zahlen und Kapazitäten und kulturelle und wirtschaftliche und soziale Kontexte.

Das ist weltfremde Hypermoral, die in sich eine zerstörerische Dynamik zum Burnout hat. Bloß gut, dass sich der Vatikanstaat selbst nicht an seinen Tafelanschrieb hält und nur eine sehr überschaubare Zahl von Migranten aufnimmt. Aus gutem Grund. Gegen Hypermoral hilft nur eine vernünftige Kultur der angemessenen Abgrenzung.

Drittens: Die Romantisierung der Migration

„Wir sind alles Geschwister“ – und nur gemeinsam sind wir stark! Darum steht an der Tafel nun auch der folgende Satz aus der Enzyklika: „Für die Gemeinden und Gesellschaften, in denen Menschen aus anderen Lebenskontexten und kulturellen Zusammenhängen ankommen, sind sie eine Chance zur Bereicherung und fördern die ganzheitliche menschliche Entwicklung aller“ (133).

Wenn Mensch auf Mensch trifft, kann das eine wunderbare Chance sein und jeder von uns kennt unendlich viele Fälle von Bereicherungen. Aber es kann schon schwierig werden, wenn ein Schwiegerkind in die Familie kommt und zwei Familienkulturen aufeinander prallen. Noch schwieriger wird es, wenn entgegengesetzte kulturelle Welten aufeinander treffen. Und richtig schwer, wenn Bildungsferne in großer Zahl sich in ein high-tech-Land einfädeln sollen. Dann können diese Geschwister fatale Auswirkungen für die wirtschaftliche und soziale Kultur des Aufnahmelandes haben. Auch dafür lassen sich nicht nur mit der Geschichte Roms viele Beispiele anführen.

Eine einseitige romantisierende Darstellung der Migrationsbewegungen, die Risiken und Nebenwirkungen ausblendet, kann schneller als gedacht mit der Realität in Konflikt geraten und berechtigte Gegenbewegungen hervorrufen.

Viertens: Der Kampf gegen neoliberale Windmühlen

„Wir sind alles Geschwister“ – und eingebunden in Wirtschaftssysteme. Daran denkt die Enzyklika, wenn sie sich um unsere Marktwirtschaft Gedanken macht. „Der Markt alleine löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will.(…) Die Zerbrechlichkeit der weltweiten Systeme angesichts der Pandemie hat gezeigt, dass nicht alles durch den freien Markt gelöst werden kann, und dass – über die Rehabilitierung einer gesunden Politik hinaus, die nicht dem Diktat der Finanzwelt unterworfen ist – wir die Menschenwürde wieder in den Mittelpunkt stellen müssen“ (168).

Vom „Neoliberalismus“ – was das auch immer sei in Zeiten von zentralbank-manipulierten Zinsen und Staatshilfen in Billionenhöhe – über die Corona-Pandemie, die vom freien Markt nicht gelöst wird, bis hin zur Menschenwürde … Es ist jedenfalls ein weiter Bogen, der da im Klassenzimmer gespannt wird.

Clemens Fuest, der Präsident des Münchener ifo-Instituts, sagt dazu: „Das Wettern gegen Märkte und angeblichen Neoliberalismus ist die größte Schwäche des Papiers. (…) Es gibt kein Land auf dieser Welt, in dem eine ungeregelte Marktwirtschaft ohne staatliche Einflüsse existiert. Klar ist gleichzeitig, dass es kein Land gibt, in dem Wohlstand, Naturschutz und Humanität ohne Marktwirtschaft gedeihen.(…) Hier werden Vorurteile vorgetragen; die tatsächliche Entwicklung der Welt wird ignoriert. Solche Fehler sind bedauerlich, weil sie dem gesamten Text einiges an Glaubwürdigkeit nehmen.“

Aha! Zum Glück kuschen nicht alle im Klassenzimmer vor dem Lehrer. Es gibt auch konstruktive Rebellen und Querdenker.

Fünftens: Die Fehleinschätzung der Rolle von Privateigentum

„Wir sind alles Geschwister“ – und werden uns in vollendeter weltweiter Symbiose nicht über das Erbe streiten. „Immer gibt es neben dem Recht auf Privatbesitz das vorrangige und vorgängige Recht der Unterordnung allen Privatbesitzes unter die allgemeine Bestimmung der Güter der Erde“, für alle Menschen gleichrangig da zu sein (123).

Dieser Satz muss sicherlich für einen Tafelanschrieb vereinfacht werden. Vielleicht so: Das weltweite Allgemeinwohl steht über dem Privatbesitz!
Für Lehrer Franziskus ist darum auch das Recht auf Privateigentum lediglich ein zweitrangiges „sekundäres Naturrecht“ (120).

Damit wird der westlichen Marktwirtschaft die Axt an die Wurzel gelegt. Aus der fruchtbaren gleichrangigen (!) Dialektik von Privatbesitz und Allgemeinwohl wird eine Überordnung des Allgemeinwohls über den Privatbesitz. Dabei wird vernachlässigt, dass gerade das Recht auf Privatbesitz die wirtschaftliche Dynamik entfaltet, die Allgemeinwohl erst möglich macht.

Fazit: Die Enzyklika enthält für mich viele interessante Anregungen und Details. Und doch ist es für mich erschreckend, wie kritiklos und undifferenziert der Papst im linken Mainstream mitschwimmt. Bis in die Wortwahl und in die Phrasen (etwa vom Neo-Liberalismus) hinein hat diese Enzyklika links-sozialistische Tendenzen.

Ich vermisse die Kraft des christlichen Glaubens, alle linken und rechten Ideologien zu hinterfragen; quer zu denken; verkrustete Vorurteile aufzubrechen, sich ungeschminkt der Realität zuzuwenden und unterschiedliche Filterblasen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Aber wenn ein Lehrer eine erhöhte Lehrautorität für sich in Anspruch nimmt, indem er eine Enzyklika veröffentlicht, kann er sich wahrscheinlich gar nicht mehr für einen offenen breiten Dialog in seinem Klassenzimmer stark machen.

Ich befürchte, dass mit einseitigem, universalistischem, linkem Hypermoralismus die Probleme dieser Welt nicht verringert werden können, sondern eher noch verschärft werden. Da hilft auch nichts, wenn dabei wortgewaltig und charismatisch die Liebe beschworen wird.

Ps. Bitte verzeihen Sie uns, wenn wir als ev. Christen die erhöhte Lehrautorität einer päpstlichen Enzyklika kritisch betrachten. Für uns hat nur die Bibel eine erhöhte Lehrautorität. Während diese Enzyklika in die linke Enge führt, führt die über 2000 Jahre entstandende 66 Bücher umfassende Bibliothek Bibel in die Weite – was an anderer Stelle zu entfalten ist.

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