Tichys Einblick
Vorwort zum Sonntag

Der Abgrund der parteipolitischen Kirche

Margot Käßmann, die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Vorzeige-Christin in TV-Talkshows und „bekannteste deutsche Pfarrerin“ ist das Gesicht zur Krise des deutschen Protestantismus. Mit ihrem Größenwahn ist sie nicht weit entfernt von Donald Trump.

imago images / Pressedienst Nord

BILD am Sonntag zwei Tage vor der US-Wahl. Es erscheint eine Kolumne von Margot Käßmann. Sie ist die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, die Vorzeige-Christin in TV-Talkshows und „die bekannteste deutsche Pfarrerin“.
In dieser Kolumne bringt Frau Käßmann ganz ungeschminkt vier fatale Denkfiguren einer parteipolitischen Kirche zu Papier:

Erstens: Die parteipolitische Kirche sieht sich als Oberlehrer für die ganze Welt.

Frau Käßmann ruft zwei Tage vor der Wahl die Christen in den USA auf, den richtigen Kandidaten zu wählen. Was für eine Anmaßung! Sind die amerikanischen Christen alle so blöd, dass sie die Rat-Schläge einer deutschen Pastorin brauchen, die meint, die amerikanischen Interessenlagen besser zu kennen als die Amerikaner?

Wenn Frau Käßmann in ihrer Kolumne wenigstens irgendetwas Neues gesagt hätte. Aber sie wiederholt lediglich, was die Trumpgegener sowieso schon jahrelang durchgenudelt haben: „Donald Trump zerstört ganz bewußt Recht und Ordnung. Er befeuert Gewalt und Rassismus, Frauenverachtung und Lüge.“ Mittendrin in der Endlosschleife solcher abgelutschten Worthülsen – und doch soll an Frau Käßmanns Wesen die Welt genesen.

Ich bin gespannt, ob Frau Käßmann bei den nächsten Wahlen in Grönland, Iran oder Israel ebenfalls zur Oberlehrerin für die richtige Wahlentscheidung wird. Und was rät Frau Käßmann den Menschen in Nordkorea oder auf den Fiji-Inseln? BILD am Sonntag wird es bestimmt gerne wieder abdrucken.

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Meines Erachtens ist Frau Käßmann mit diesem Größenwahn nicht weit entfernt von Donald Trump. Echte Seelenverwandte – Käßmann und Trump. Von Demut bei der Einschätzung der eigenen Person und der eigenen Meinung sind sie meilenweit entfernt. Ein deutscher Protestantismus, der in seiner Selbstüberschätzung arrogant und übergriffig geworden ist.

Zweitens: Die parteipolitische Kirche pervertiert politische Sachabwägungen zu Fragen von Glauben oder Unglauben.

Für wen sich ein Wähler bei einer Wahl entscheidet, hängt immer von ganz persönlichen Gewichtungen und Abwägungen statt. Wenn ein Präsident einen Sache vertritt, die mir zentral wichtig ist, dann bin ich zur Not bereit, dafür viele andere Kröten zu schlucken. Und da hat jeder sein eigenes individuelles Koordinatensystem.
Bei Frau Käßmann klingt das in BILD am Sonntag allerdings ganz anders: „Ich finde, Christen dürfen ihn (= Donald Trump) am 3.11. nicht wählen.“

Hier wird aus einer politischen Kalkülfrage eine Frage von Glaube oder Unglaube; denn in Frau Käßmanns Aussage schwingt zwischen den Zeilen mit: Wer Donald Trump wählt, ist kein richtiger Christ. Die politische Meinung von Frau Käßmann als Kriterium für echtes Christsein – das ist theologisch pervers.

Zudem zerstört Frau Käßmann mit dieser Aussage eine freie und offene demokratische Diskussionskultur. Politische Fragen und Diskussionen sind schwer genug. Wenn es aber in jedem Sachthema implizit immer auch noch um Glaube oder Unglaube geht, dann wird der politische Streit zu einem religiösen Streit hochstilisiert. Das wird den politischen Streit auf keinen Fall einfacher machen. Von Frau Käßmann kann man lernen, wie man eine vernünftige Diskussionskultur in einem Land religiös vergiftet.

Drittens: Die parteipolitische Kirche missbraucht die Bibel erschreckend selektiv.

Frau Käßmann stellt in ihrer Kolumne die rhetorische Frage: „Ist es in Ordnung, wenn sogar Kleinkinder von ihren Eltern getrennt in Käfige gesperrt werden, weil diese aus Mexico in die USA kamen? Sorry, aber da sagt Jesus: Was ihr ihnen angetan habt, habt ihr mir angetan“ (Matthäus 25,40). Komischerweise zitiert Frau Käßmann diesen Bibelvers nicht, wenn es um Abtreibung geht. Da könnte sie doch genauso sagen: „Sorry, aber da sagt Jesus: Was ihr den abgetriebenen Kinder angetan habt, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40). Aber in Fragen der Abtreibung betont Frau Käßmann stattdessen den Willen der Frauen. Sorry! Dieses Bibelzitieren von Frau Käßmann ist mir dann doch zu offensichtlich ideologisch.

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Zudem habe ich als Christ sowieso damit Schwierigkeiten, wenn hochkomplexe Themen wie illegale Grenzüberschreitung oder auch Abtreibung mithilfe eines einzigen Gotteswortes „gelöst“ werden sollen. Ob das die Taliban in Afghanistan machen, manche Evangelikalen im Bible-Belt oder Margot Käßmann im scheinbar aufgeklärten Deutschland – das Zitieren eines Bibelverses entbindet nicht von vernünftigen Sachabwägungen und dem vernünftigen Streit um seine adäquate Auslegung. Die Bibel als Menschenwort & Gotteswort ehren, heißt immer auch, sich aufmerksam gegen den ideologischen Missbrauch der Bibel bei sich selber und bei anderen wehren.

Viertens: Eine Kirche, die sich mit einer bestimmten Politik verschmelzt, verliert die Freiheit, für eigene Überzeugungen einzustehen.

Frau Käßmann ist in Sonntagsreden eine große Vertreterin des Pazifismus; unter keinen Umständen Krieg. Wenn sie so denkt, dann sollte sie aber auch so fair sein, Trump dafür zu loben, dass er in seiner Amtszeit keinen Krieg geführt hat. Doch soviel Fairness gegenüber Trump, das geht für Frau Käßmann natürlich nicht. Ihr Schwarz-Weiß-Denken hat keinen Raum für Zwischentöne. In ihrem Hass gegenüber Donald Trump vergisst sie sogar ihre eigene kriegsfeindliche Grundeinstellung.

Frau Käßmann wirft Donald Trump vor: „Er ist in dritter Ehe verheiratet, hatte viele Affären, auch mit einem Pornostar. Die hat er mit einer Geldzahlung leise gestellt.“
Dazu kann ich nur sagen: Ein Präsident, der eine Affäre mit einem Pornostar hatte, ist auch nicht unbedingt mein Fall. Aber solche privaten Verfehlungen, die auch bei Pfarrern und EKD-Ratsvorsitzendinnen vorkommen sollen, erschüttern mich weit weniger als ein Protestantismus, der ständig mit einer einseitigen politischen Schlagseite fremdgeht und sich dafür noch nicht einmal schämt, sondern das ganze in BILD am Sonntag freimütig in die Welt hinausposaunt.

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