Tichys Einblick
Vorwort zum Sonntag

Sollte sich die Kirche für den öffentlichen Muezzinruf stark machen?

Die Evangelische Kirche im Rheinland will nicht nur „Lobbyistin der GOTT-Offenheit“ sein, sondern auch den öffentlichen Muezzinruf hören. Einige Einwände sprechen dagegen. Die Gleichsetzung von Kirchenglocken und Muezzinruf ist nicht einleuchtend.

IMAGO / Jochen Tack

Der theologische Ausschuss der Evangelischen Kirche im Rheinland fordert, man solle „öffentlich genauso für den hörbaren Muezzinruf eintreten wie für das Gelockengeläut der Kirchen“; und so hat es jetzt auch das Kirchenparlament im Impulspapier „Lobbyistin der GOTT-Offenheit“ verabschiedet.

Aus folgenden Gründen kann ich dieses Plädoyer nicht nachvollziehen:

Ich möchte in meinem Viertel nicht lautsprecherverstärkt und unüberhörbar mit Glaubensbekenntnissen beschallt werden. Weder von Zeugen Jehovas, noch von Scientology, noch von Buddhisten, noch von Atheisten, noch von Muslimen. Erst recht nicht zu unmöglichen Tages- und Nachtzeiten. Auch ein christliches Glaubensbekenntnis öffentlich lautsprecherverstärkt über meiner Stadt wäre mir ein Greuel. Wir alle dürfen Religiosität und Weltanschauung frisch und frei in unserem Land leben und ausüben. Aber bitte nicht zu Lasten anderer Menschen.

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„Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“ (Grundgesetz Artikel 4.1). Das beinhaltet auch die „negative Glaubensfreiheit“, dass ich nicht von anderen religiös vergewaltigt werden darf. Darum haben weder ich noch andere das Recht, die eigene Weltanschauung über ganze Wohngebiete hinauszuposaunen. Religionsfreiheit kann nur gelingen in Sensibilität mit Andersgläubigen und Agnostikern und Atheisten. Es geht hier um ein sorgsames Austarieren der jeweiligen Interessen und Rechte.

Von solcher grundgesetzlich verankerten gegenseitigen Sensibilität in religiösen Fragen ist in dem kirchlichen Plädoyer für den Muezzinruf nichts zu spüren.
Statt dessen macht die Kirche sich dafür stark, dass Muslime genau wie die Kirchen mit ihren Glocken jetzt alle Welt beschallen und „beglücken“ dürfen.

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Schon die Gleichsetzung von Kirchenglocken und Muezzinruf ist für mich nicht einleuchtend. Kirchenglocken sind ein wortloses Symbol, das gar nicht spezifisch christlich aufgefasst werden muss und dass auch Nichtchristen vielfältige Deutungsmöglichkeiten offen lässt. Das ist beim Muezzinruf als muslimischem Glaubensbekenntnis anders. Beim öffentlichen Muezzinruf geht es um einen Absolutheitsanspruch. Er lautet aus dem Arabischen übersetzt für das Morgengebet: „Allah ist der Allergrößte. Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt. Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Allahs ist. Eilt zum Gebet. Eilt zur Seligkeit. Das Gebet ist besser als Schlaf. Allah ist der Allergrößte. Er gibt keinen Gott außer Allah.“

Nichts gegen Absolutheitsansprüche. Ich mag es, wenn Agnostiker, Atheisten, Buddhisten, Marxisten, Neoliberale, Christen und Muslime von ihrer Ansicht fundamental überzeugt sind und auch dementsprechend selbstbewusst und offensiv diskutieren.

Aber jeder Absolutheitsanspruch wird sofort zur Hölle, wenn er nicht mit grundsätzlicher Gewaltlosigkeit und größtmöglicher Anerkennung der individuellen Freiheiten der Andersdenkenden einhergeht.

Gerade Christen müssen sich dessen bewusst sein, da sie kirchengeschichtlich ihren eigenen Absolutheitsanspruch oft genug mit Gewalt verbunden haben und damit unsägliches Leid unter die Menschen gebracht haben. Die Kirchen sollten eigentlich aus dieser traurigen Geschichte gelernt haben und sich darum heute entschieden gegen jede religiöse Übergriffigkeit abgrenzen, statt sie zu unterstützen und zu fördern.

Im öffentlichen Muezzinruf wird ein Absolutheitsanspruch mit Unfreiwilligkeit gegen zumindest einige Menschen im Quartier vertreten. Das wird auch dadurch nicht besser, dass Mohammed die Glaubensausbreitung mit dem Schwert – anders als Jesus Christus – an einigen Stellen positiv bewertet und selber praktiziert hat.

Vorwort zum Sonntag
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Wenn allerdings die rheinische Kirche ihre Kirchenglocken mit dem Muezzinruf gleichsetzt und damit auch die Kirchenglocken zu einem christlichen Glaubensbekenntnis umdeutet, dann wäre für mich als Christen, der die Religionsfreiheit liebt, die Konsequenz klar: Genauso wie ich den öffentlichen und lautsprecherverstärkten Muezzinruf kritisiere, so würde ich dann auch den Kirchenglocken kritisch gegenüber stehen.

Nicht durch machtvolles Getöse über unsere Köpfe hinweg kann der religiöse Friede in unserem Land gestärkt werden, sondern nur durch sensibles und differenzierendes Austarieren aller religiösen und weltanschaulichen Interessen auf Augenhöhe.

Die Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechtes sollte sich bei ihrem Privileg des Glockenläutens dieser Verantwortung vor dem Grundgesetz bewusst werden, statt ihr eigenes Privileg unsensibel und undifferenziert auf andere Religionen auszuweiten.

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