Tichys Einblick
Propaganda

„Fortschrittskoalition“ – wenn Wörter zu Phrasen werden

Das ist hohe Kunst der Propaganda: Mit sogenannten neutralen, parteilosen Werten sich selber beweihräuchern und seine politischen Gegner in die wertlose Ecke stellen. Das ist nicht ehrlich. Das ist hohle Kunst der Propaganda.

IMAGO / Political-Moments

Die Ampelregierung nennt sich selber gerne „Fortschrittskoalition“; ein geschickter Marketing-Coup zur Manipulation der gesellschaftlichen Meinung. Dabei werden Stereotype populistisch bedient und vertieft: Links-Grün sei „progressiv“ und „fortschrittlich“. Konservative dagegen seien „rückschrittlich“, von gestern wie alte Konserven. „Hol dir deine Zukunft zurück“, so werben die Grünen im Wahlkampf in Bayern. „Wir packen an – während die CSU unsere Zukunft verspielt.“

Gegen dieses Wortgeklingel steht die Alltagserfahrung, dass „Fortschritt“ nichts bringt, wenn man im Zug sitzt, der in die falsche Richtung fährt. Dann gilt nämlich: Je weiter der falsche Zug „fortschreitet“, umso schlimmer. Das wäre ein fataler Fortschritt, wenn die Ampel ein ganzes Land in den falschen Zug setzt und dann voller Energie und Selbgewissheit jubelt, dass die Geschwindigkeit erhöht wird.

Der Name „Fortschrittskoalition“ stammt vom Koalitionsvertrag der Ampelparteien, der 2021 so betitelt wurde: „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit. Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Das hört sich wunderbar an. Doch schauen wir hinter die Fassade dieser Hochglanzwerte:

Wie steht es um die FREIHEIT in der Fortschrittskoalition?

Freiheit wird in der Ampel nicht vom einzelnen Bürger her verstanden, sondern von bestimmten Projekten her, die als alternativlos verkündet werden:

  • Robert Habeck: „Wir sind jetzt konfrontiert mit der zwingenden (!) Notwendigkeit (!), Dinge anders zu machen.“
  • Ricarda Lang: „Ohne Klimaschutz gibt es keine Freiheit.“
  • Karl Lauterbach: „Selbst die Impfpflicht führt ja dazu, dass man sich am Schluss freiwillig impfen lässt.“
  • Helge Lindh (Bundestagsabgeordneter SPD): „Individuelle körperliche Unversehrtheit ist eine vulgäre Vorstellung von Freiheit“.
  • Christian Lindner: „Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien.“

Das Freiheitsverständnis der Ampel könnte wohl so umschrieben werden: „Wir Politiker wissen, was gut und richtig und zwingend notwendig ist. Ihr Bürger wisst es eigentlich auch. Aber ihr seid ein bisschen verblendet, unvernünftig und willensschwach. Deshalb nehmen wir euch die Entscheidungen ab: Wir drücken erneuerbare Energien, Impfung, Wärmepumpe, Ende des Verbrenners gesetzlich durch, koste es, was es wolle. Eure Wohlstandsverluste und Wehleidigkeiten spielen angesichts der zwingenden Notwendigkeiten nur eine zweitrangige Rolle. Ihr werdet uns im Nachhinein dankbar sein, dass wir alles so gut für euch, für eure Kinder und für diese ganze Welt geregelt haben.“

Ich bin erstaunt, wie viele Menschen dem zustimmen und sich damit ihre individuellen Freiheiten nehmen lassen. Zumal bei der Impfpflicht deutlich wurde, dass die ach-so-tollen Projekte der ach-so-weisen Politiker auf Sand gebaut sein können. Daneben zeigt die Geschichte, dass die Vielzahl der freien Bürger zu wesentlich besseren Problemlösungen kommen als arrogante „fortschrittliche“ Politiker, die meinen, die Volkswirtschaft bis in den Heizungskeller hinein vom Berliner Schreibtisch aus planen und steuern zu können.

Gehen wir einen Schritt weiter: Wie sieht die GERECHTIGKEIT der Fortschrittskoalition aus?

„Gerechtigkeit“ meint in der Ampelregierung „Verteilungsgerechtigkeit“. Allen wird mehr und mehr genommen, um es einigen zu geben. Chipkonzerne, Beamte, NGOs, Solardachbesitzer, Bürgergeldempfänger und viele andere offene Mäuler wollen ein Stück vom Verteilungskuchen abbekommen. So lautete diese Woche eine mittlerweile schon normale Wirtschaftsschlagzeile: „RWE will nur mit Subventionen in grüne Wasserstofftechnologie investieren“.

Vor lauter Verteilungsgerechtigkeit scheint die „Leistungsgerechtigkeit“ zu kurz zu kommen; die Gerechtigkeit, die all diejenigen fördert, die den Kuchen erleisten. Wenn selbst Großbritannien, obwohl immer noch im ersten EU-Scheidungsschmerz, und alle anderen OECD-Länder im Augenblick ein besseres Wirtschaftswachstum hinlegen als Deutschland, dann scheint bei uns irgendetwas mit der Leistungsgerechtigkeit nicht zu stimmen.

Wo Leistungsgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit nicht mehr in einem gesunden Verhältnis stehen, da wird der komplexe und spannungsreiche Gerechtigkeitbegriff von der „Fortschrittskoalition“ rückschrittlich verflacht und banalisiert.

Kommen wir zum Hochglanzwert der NACHHALTIGKEIT, mit dem sich die Fortschrittskoalition schmückt. Deutschland soll in die Energiewende schon annähernd 1.000.000.000.000 Euro gesteckt haben; das sind circa 12.000 Euro pro Kopf der Bevölkerung. Trotzdem haben wir immer noch einen Strom, der mehr CO2 in sich hat, als fast alle anderen europäischen Länder. Ist das fortschrittlich, wenn man massiv Gelder der Bürger verbrät, aber in der zum Maß aller Dinge erkorenen Kennziffer rückschrittlich agiert?

Jedes Mal, wenn ich das Wort „Fortschrittskoalition“ lese, zucke ich zusammen. Was für eine Pervertierung der Sprache, wenn Zwang zur Freiheit wird, wenn die komplexe Gerechtigkeit zur simplen Verteilungsideologie verkommt, wenn Nachhaltigkeit zur Luftnummer mutiert und wenn Rückschritt unter dem Segel des Fortschritts fährt.

Mich wundert, dass die offizielle evangelische Kirche bei so viel Wortverdrehung keinen Widerspruch anmeldet. Die Kirchen der Reformation sind die „Kirchen des Wortes“. Wenn aber Worte wie „Fortschritt“, „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und „Nachhaltigkeit“ nur noch Manipulationsmittel sind, um am Bewusstsein vorbei Menschen in eine bestimmte Richtung zu schubsen, dann sollte eine Kirche des Wortes ihre Wortexpertise einbringen.

„Das Wort sie sollen lassen stehn“, hat Martin Luther zum Wort der Heiligen Schrift gesagt. Heute muss die evangelische Christenheit noch einen Schritt früher ansetzen; sie sollte sich gegen die Wortakrobaten der politischen Werbeagenturen für die Klarheit und Transparenz der Begriffe einsetzen. Eine Kirche des Wortes hat mit der Gesellschaft um eine Kommunikationsbasis zu ringen, in der das Wort nicht durch manipulative Phrasen verfälscht wird und dann das Ganze noch als „Fortschritt“ hochgestapelt wird.

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