Tichys Einblick
Bücherverbannung 2023

Wie in der EKD hochoffiziell Zensur wieder salonfähig wird

Die „Evangelische Verlagsanstalt“ aus Leipzig hat im Juli 2023 ein Buch zu einem heiklen Thema herausgegeben: „Angst, Politik, Zivilcourage: Rückschau auf die Corona-Krise“. Im November ist die weitere Auslieferung des Buches mit sofortiger Wirkung gestoppt worden.

IMAGO

Die „Evangelische Verlagsanstalt“ aus Leipzig (11 Mitarbeiter) hat im Juli 2023 ein Buch zu einem heiklen Thema herausgegeben: „Angst, Politik, Zivilcourage: Rückschau auf die Corona-Krise“. Darin hinterfragen mehr oder weniger bekannte kirchennahe Intellektuelle die politische Pandemieerzählung und deren mediale und kirchliche Befeuerung. Der Sammelband mit 17 Referaten und einer Predigt enthält aufregende Gedankengänge wie zum Beispiel dieses Zitat: „Wenn ich in Deutschland einen Staatsstreich machen wollte, dann würde ich eine Corona-Pandemie erfinden“ (Prof. Udo Di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht).

Jetzt im November ist die weitere Auslieferung des Buches mit sofortiger Wirkung gestoppt worden. Die Gesellschafter der Evangelischen Verlagsanstalt, die „Evangelische Kirche in Mitteldeutschland“ und das zur EKD gehörende „Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik“, haben die Reißleine gezogen. „Wir sind froh, in diesem Punkt nach eingehenden Beratungen mit der Geschäftsführung der Evangelischen Verlagsanstalt übereinzustimmen.“ Wie wunderbar gefügig abhängige Tochtergesellschaften in evangelischer Freiheit sein können.

Das „Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik“ erläuterte seine Bücherverbannung in einer Presseerklärung am 8. November: „Dieser einmalige Schritt“ in der mehr als 50-jährigen Geschichte evangelischer Publizistik sei „unverzichtbar“, da das Buch Passagen enthalte, „die keinen Zweifel lassen, dass sie weder mit den publizistischen Standards der evangelischen Publizistik vereinbar, noch durch die Meinungsfreiheit gedeckt sind.“ Der Sammelband habe mit seiner „Menschenfeindlichkeit“ und „Demokratieverachtung“ und mit seinem „Antisemitismus“ eindeutig markierte „Rote Linien“ überschritten.

Und so endet die Presseerklärung mit dem niederschmetternden Urteil: „Das Buch ‚Angst, Politik, Zivilcourage’ war ein gravierender Fehler, den wir zutiefst bedauern. Wir werden daraus lernen.“ Mit dem letzten Satz wird wohl gemeint sein, dass man in Zukunft bereits im Vorfeld einer Buchveröffentlichung die Schraube der Zensur anziehen werde.

Wenn die Demokratiefeindlichkeit dieses Buches „keinen Zweifel“ lässt, warum hat die Evangelische Verlagsanstalt dieses Buch dann überhaupt herausgegeben und vier Monate lang verkaufen können?

Wenn dieses Buch ein „gravierender Fehler“ war, warum hält dann der Leipziger Theologieprofessor Rochus Leonhardt das Buch in seiner Rezensionsüberschrift nicht nur für salonfähig, sondern sogar für „Absolut salonpflichtig!“? Da mag man einwenden, dass der Professor befangen sei, weil er selber ein Referat zu diesem Sammelband beigetragen hat. Aber auch der nicht am Buch beteiligte Professor Harald Walach lobt das Buch in seiner Rezension als „das klarste und verbindlichste“ Coronabuch, das er bis jetzt gelesen habe.

Die kirchlichen Zensoren inszenieren sich als die demokratischen Hüter der „Roten Linien“. Doch wo waren diese selbsternannten Rote-Linien-Wächter, als Bundeskanzler Olaf Scholz öffentlich proklamiert hat, dass es im Kampf gegen Corona keine „Rote Linie“ mehr gäbe? Da ging die „Zivilcourage“, um in der Sprache des zensierten Buches zu bleiben, nicht von den EKD-Oberen und ihren Presseorganen aus, sondern von einer Vielzahl von Bürgern, die dafür erhebliche individuelle Nachteile in Kauf nahmen und die auch von der offiziellen Kirche verachtet wurden.

Die evangelische Kirche ist in Deutschland eine „Körperschaft des öffentlichen Rechts“. Diese Rechtsstellung bringt erhebliche finanzielle und gesellschaftliche Privilegien mit sich. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts darf die EKD anders als andere Medienunternehmen ihren Tochtergesellschaften in politischen Dingen keine gesinnungspolitischen Vorgaben machen, die das Spielfeld des Grundgesetzes einengen. Die EKD als Körperschaft des öffentlichen Rechts kann halt nicht wie der Springer-Verlag ein Tendenzbetrieb sein, der sich politisch einseitig aufstellt. Es spielt also keine Rolle, ob das Buch „Angst, Politik, Zivilcourage“ die roten Linien aller EKD-Funktionäre oder fast aller Theologieprofessoren in Deutschland übertreten hat. Nur eine stichhaltige und rechtssichere Beweisführung, dass das Buch wirklich grundgesetzwidrig ist, sollte es einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlauben, politische Zensur in den eigenen Reihen auszuüben.

Machen wir die Probe aufs Exempel und schauen uns die beiden Stellen des Buches an, die in der Presseerklärung der EKD-Zensoren als „völlig unakzeptabel“ gebrandmarkt werden:

Da ist zum einen die Passage in dem Referat „Angst und Auflage“, die rechtsextremistisch sei:

„Die Corona-Welle war ein idealer Nachrichten-Hype (…) Gleichzeitig (…) ist die regierungsamtliche Corona-Politik mit ihren zahlreichen Auflagen und gesellschaftlichen Beschränkungen flächendeckend von den Medien propagiert worden. Die Journalisten wurden so zu Handlangern der Herrschenden (…) Es gibt inzwischen eine kämpferische Gegenöffentlichkeit – u.a. Die Tagespost, Tumult, Die Junge Freiheit, Sezession, Cato, Tichys Einblick, die auch Verlage wie Manuscriptum oder Antaios einschließt. Oder alternative Portale wie Die Achse des Guten, Rubikon, Multipolar, Uncut News, Zeitzeichen, businessinsider, die Blogs von Vera Lengsfeld, Matthias Matussek, Henry M. Broder, Alexander Wendt u.v.a.m. Gegen einen Block der Autoritären brauche es einen Block der Antiautoritären (…) In jedem Fall ist es ratsam, seine Meinungen aus vielen Quellen zu beziehen, um nicht zum Spielball unserer Auflagen-Junkies und Moralapostel zu werden.“

Nach der Meinung der EKD-Zensoren werden hier die Hauptstrom-Medien delegitimiert und stattdessen einige gesichert rechtsextremistische und antisemitisch verschwörungstheoretische Portale hofiert. Ein durchaus ernstzunehmender Einwand, der allerdings eine aufwendige argumentative Unterfütterung bräuchte: In welchem Artikel ist welches der genannten Portale wie häufig und wie stark antisemitisch, verschwörungstheoretisch oder rechtsextremistisch? Und was ist, wenn es in den Hauptstrommedien antisemistische, verschwörungstheoretische und coronaextremistische Artikel oder Passagen gibt, darf man diese dann auch nicht mehr in einem kirchlichen Sammelband aufzählen und empfehlen?

Doch gerade wo der demokratische pluralistische Meinungsstreit beginnt, da hören die EKD-Zensoren bereits auf. Die Meinungsunterdrücker schlagen stattdessen wild mit Begriffen um sich, die in unserer Gesellschaft wenig definiert herumwabern und moralistisch enorm unter Druck setzen: „Menschenfeindlich“, „demokratiefeindlich“, „rechtsextremistisch“, „verschwörungstheoretisch“ und „antisemitisch“. Diese modischen Containerbegriffe mit ihrer vagen Unbestimmtheit bekommen als Keulen gegen Unliebsame fast schon mystisch-mythische Heiligkeits-Tabu-Qualität. Damit kann die Mehrheit jeden Andersdenkenden ohne großen argumentativen Aufwand zum Ketzer erklären. So bestätigen die EKD-Zensoren ungewollt die Kernthese des von ihnen kritierten Refererats „Angst und Auflage“: Wir brauchen eine antiautoritäre Gegenöffentlichkeit gegen den autoritären Hauptstrom, dem die Totschlagwörter und die Zensur näher liegen als die Argumentation.

Die zweite provozierende Passage des Buches, die in der Presseerklärung der Kirchenzensoren als hinreichende Begründung für die Bücherverbannung genannt wird, stammt ebenfalls aus dem Kapitel „Angst und Auflage“. Ich zitiere diese skandalisierte Stelle mit Kontext:

„Irgendwie sind wir als ehemalige, allerdings eher kleinformatige Kolonialisten verpflichtet, all den korrupten Regierungen in Afrika und Lateinamerika finanziell unter die Arme zu greifen, um uns ein bisschen besser zu fühlen. Nebenbei soll die hochmoralische Bundesrepublik an immer mehr Länder Reparationen für lange zurückliegende Kriegszerstörungen bezahlen. Das schlechte Gewissen lässt sich nämlich auch anzapfen. Wie das geht, haben uns die Erben der israelischen Opfer der Olympischen Spiele von München 1972 perfekt vorgeführt. Aber schon stehen andere Länder schlange.“

Vielleicht ist es erwähnenswert, dass der Vortrag „Angst und Auflage“ im Jahr 2022 gehalten wurde, als das 50-jährige Jubiläum der Münchener Olympischen Sommerspiele begangen wurde. In dem Jubliäumsjahr gelang es dem Anwalt Gerhart Baum (FDP) für seine israelischen Olympia-Terroropfer-Angehörigen-Mandanten eine Entschädigungszahlung über 28 Millionen Euro vom Bund, dem Land Bayern und der Stadt München auszuhandeln, damit die Gedenkfeierlichkeiten in würdiger Form in Anwesenheit der Hinterbliebenen stattfinden konnten.

Nach der Meinung der EKD-Zensoren geht es in der oben zitierten Buchpassage um „eine zutiefst antisemitische Aussage, in der die Angehörigen der Opfer der Terroranschläge bei den Olympischen Spielen 1972 auf menschenverachtende Weise diffamiert werden“. Ein durchaus ernstzunehmender Einwand, dem ich viel abgewinnen kann. Und doch drängen sich auch hier Fragen auf, die in einer echten Demokratie diskutiert werden müssen:

  • Kann man diese Passage überhaupt als „antisemitisch“ bezeichnen, weil es dem Kontext nach gerade nicht um eine Abwertung der Juden geht, sondern um die weltweit bei allen Nationen verbreitete verständliche Neigung, das deutsche schlechte Gewissen finanziell anzuzapfen?
  • Kann diese Passage zu einer Nichtung des gesamten Sammelbandes führen, in dem durchgehend ein Israel wertschätzender Geist weht? So wird etwa in der Predigt des Buches betont, dass die wunderbare Verheißung Gottes „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ (Jesaja 43) an erster Stelle dem Volk Israel gilt.
  • Wenn nach Meinung der EKD-Zensoren diese Passage schon „zutiefst antisemitisch“ ist, wie bezeichnen die EKD-Zensoren dann den Demonstrations-Schlachtruf „Hamas, Hamas – Juden ins Gas“, welche Menschen auf deutschen Strassen skandieren, die von EKD-Schlepperschiffen ins Land geholt wurden?

Eine Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass andere Meinungen nicht autoritär wegzensiert werden. Demokratie kommt nicht umhin, in mühsamen „Diskussionsorgien“ (Angela Merkel) um die politische Wahrheit zu ringen. Leichter ist Demokratie nicht zu haben. Alles andere ist demokratiefeindlich, selbst wenn es mit kirchlichem Heiligenschein unter der verlogenen Maske der Demokratiefreundlichkeit daherkommt.

Gegen unausgegorene Machtausübung durch Zensur hilft nur eins: Eine kämpferische Gegenöffentlichkeit. Gegen den Block der Autoritären braucht es eine starke Bewegung der Antiautoritären. Es würde mich darum freuen, wenn es den Antiautoritären gelingen würde, eine Neuherausgabe des Sammelbandes in liberalerer Trägerschaft hinzubekommen. Diese Neuherausgabe würde die anregenden und aufregenden Inhalte des Sammelbandes wieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Zudem wäre eine baldige Neuherausgabe per se ein Anti-Zensur-Freiheitsdenkmal und ein bürgerliches Bekenntnis gegen eine EKD, die meint, sich als politische Gesinnungsdiktatur aufspielen zu müssen.

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