Tichys Einblick
Doppelmoral

Das Minenfeld der Vergleiche mit dem nationalsozialistischen Deutschland

Der Satz „Nazivergleiche sind immer falsch“ scheint mal mehr, mal weniger, mal gar nicht zu gelten. Auf dem Gebiet gibt es eine enorme Doppelmoral. Die Sache mit den Nazivergleichen ist also auch eine Machtfrage. Wer hat die Macht, Nazivergleiche bringen zu dürfen, und wer disqualifiziert sich damit?

Das nationalsozialistische Deutschland hat die allertiefsten Abgründe des Menschlichen offenbart. Darum verbieten sich alle Vergleiche der Gegenwart mit dieser Zeit. „Nazivergleiche sind immer falsch.“

Eine respektable und ernstzunehmende Sichtweise. Doch oftmals vertreten diese Sicht ausgerechnet Leute, die mit Nazivergleichen sehr schnell bei der Hand sind:

  • Auf dem Düsseldorfer Karnevalszug wird Donald Trumps Büste neben einer Büste von Adolf Hitler durch die Stadt gefahren unter dem Jubel der Masse.
  • Natürlich darf auch Putin als zweiter Hitler gerahmt werden.
  • „Unser Kreuz hat keine Haken“ skandieren evangelische Kirchenleute vor dem Bundesparteitag der AfD in Köln.
  • Ministerpräsident Bodo Ramelow von Thüringen stellt auf Twitter das Bild, auf dem Bernd Höcke dem Thomas Kemmerich zu seiner Ministerpräsidenten-Wahl gratuliert, neben das berühmte Bild vom 21.3.1933, auf dem Adolf Hitler dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg vor der Garnisonkirche in Potsdam die Hand schüttelt.
  • „Wehret den Anfängen“, dieses immer wieder zitierte Mantra ist häufig eine Anspielung auf das Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung in der Weimarer Republik.
  • Eine Tierschutzaktivistin vergleicht in einer Diskussionsrunde Massentierhaltung mit nationalsozialistischen Vernichtungslagern; nur Roland Tichy hält energisch dagegen und wehrt sich gegen die antihumanistische Ausrichtung dieser Gleichsetzung von Mensch und Tier.

Nazivergleiche werden als Keule missbraucht, um politische Gegner abzuservieren und in die Schmuddelecke zu stellen. Die Nazikeule als undemokratische Versuchung: Man braucht dem Andersdenkenden nicht mehr zuzuhören und man braucht sich nicht mehr argumentativ anzustrengen.

Der Satz „Nazivergleiche sind immer falsch“ scheint mal mehr, mal weniger, mal gar nicht zu gelten. Auf dem Gebiet gibt es eine enorme Doppelmoral. Die Sache mit den Nazivergleichen ist also auch eine Machtfrage. Wer hat die Macht, gesellschaftlich Nazivergleiche bringen zu dürfen, und wer dagegen disqualifiziert sich mit Nazivergleichen? Anders ausgedrückt: Sage mir, wer Nazivergleiche ungestraft bringen darf, und ich sage dir, wer in unserer Gesellschaft die Macht hat.

Unsere Gesellschaft kennt über den Nazivergleich hinaus noch die Form der Nazigleichsetzung: Unliebsame Menschen aller Art werden direkt und offen als „Nazis“ bezeichnet. Ein Vergleich kennt Ähnlichkeiten und Unterschiede. Strenggenommen kann man darum alles vergleichen, wo es zumindest eine einzige Ähnlichkeit gibt. Äpfel und Birnen drängen sich quasi zum Vergleichen auf. Bei Champignons und Fußpilz wird der Vergleich schon schwieriger, obwohl der Name Fuß-„Pilz“ in seiner Begrifflichkeit den Vergleich geradezu fordert.

Bei einer Gleichsetzung wird es problematischer, weil die Differenzierung von Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit verlassen wird. Gleichsetzungen sind wesentlich ernster als Vergleiche. Natürlich darf ein Wolf mit einem Dackel verglichen werden. Aber „Vorsicht Wolf“ sollte wirklich nur bei Wölfen gerufen werden und nicht bei dem Dackel der Nachbarin. Ansonsten verliert der lebensrettende Ruf „Vorsicht Wolf“ seine Wertigkeit und Nützlichkeit.

Vergleiche mit dem Nationalsozialismus begegnen mir aber nicht nur als Waffe gegen Andersdenkende, sondern auch in einem seelsorgerlichen Kontext. Ich kenne immer mehr Bürger, die sich ernsthafte Sorgen um unseren Staat machen und darüber im Innersten aufgewühlt sind. Das ist ein schwer auszuhaltender Seelenzustand von Ohnmacht und Verzweiflung gegenüber staatlicher Übergriffigkeit, Dummheit und Bessserwisserei.

Die Betroffenen suchen in ihrer Not nach geschichtlichen Vorbildern, die ihnen in dieser schwer auszuhaltenden Situation helfen können. Dabei drängen sich die Leidtragenden der beiden letzten deutschen Diktaturen auf, die noch viel massivere Ohnmacht und Verzweiflung gegenüber einem total übergriffigen Staat aushalten mussten.

Eine hochqualifizierte Krankenschwester, die auf der Coronastation zehn Monate Großartiges geleistet hat, aber dann im Krankenhaus in Ungnade gefallen ist, weil sie sich gut begründet gegen die Impfung entschieden hat, entdeckt in ihrer Freizeit das Tagebuch der Anne Frank. Und das hilft ihr tatsächlich in ihrer Situation, diese dunkle Zeit durchzustehen. Wer will ihr das verbieten? Wer will da den ersten Stein werfen wegen unpassendem Nazivergleich?

Bonhoeffers Ausführungen über die Dummheit bekommen plötzlich in der Gegenwart neue Aktualität und große Verbreitung: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. … das Böse lässt zumindest ein Unbehagen im Menschen zurück.“ Bei Dummen brauchen „Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, einfach nicht geglaubt zu werden … Gegen die Dummheit sind wir wehrlos … Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen; es ist sinnlos und gefährlich.“

Natürlich fühlt sich eine Mehrheitsgesellschaft auf den Schlips getreten, wenn eine Minderheit Trost und politische Kraft in Texten findet, die ihren Sitz im Leben im nationalsozialistischen Widerstand haben. Das wird als Affront erlebt, gerade wenn sich die Mehrheitsgesellschaft auf der Sonnenseite sieht und meint, ein Monopol auf die Deutung der NS-Geschichte zu haben.

Die Chassidim als alte Erneuerungsbewegung des osteuropäischen Judentums haben immer wieder betont: „Heilung durch Erinnerung“. Doch Erinnerung als kulturhegemonial gelenkte Gleichschaltung wird nicht zur Heilung führen, sondern die Wunden eher vertiefen. „Heilung durch Erinnerung“ ist ein offener Prozess in der Hand der Bürger. Dabei kann es passieren, dass in neuen Kontexten ganz neue und überraschende heilsame Vergegenwärtigungen aufbrechen können. Die „Banalität des Bösen“ ist halt nicht nur auf Personen mit Hakenkreuz beschränkt; und die „Macht der Dummheit“ gibt es nicht nur bei Menschen mit Springerstiefeln.

Das nationalsozialistische Deutschland war, ist und bleibt ein schreckliches Minenfeld allertiefster menschlicher Abgründe. Einen staatlich verordneten Weg, wie wir mit dieser Horrorzeit umzugehen haben, kann es in einer Bürgergesellschaft nicht geben. Vorsicht und Zurückhaltung auf allen Seiten ist angebracht. Und bei jedem unpassenden Vergleich gibt es hoffentlich genügend Leute, die nicht nur in politisch korrekte Schnappatmung verfallen, sondern die sachlich und ruhig die fatalen Seiten eines irren NS-Vergleichs kommunikativ auf den Punkt bringen.

Demokratische Heilung durch Erinnerung ist ein sensibler, aufwendiger und niemals fertiger Diskussionsprozess. Eine seelsorgerliche Nutzung der Ressourcen von Menschen, die in der NS-Zeit Widerstandskräfte und psychische Resilienz entwickelt haben, ist mir dabei allemal lieber als die billige Nazi-Allzweckwaffe der Mehrheitsgesellschaft gegen unliebsame andersdenkende Minderheiten.

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