Tichys Einblick
... aber anders als gedacht

Die Einheit ist geglückt!

Viele, die noch in der DDR aufgewachsen sind, haben ein feines Gespür für autoritäre Anwandlungen und Versuche, Freiheitsbeschränkungen mit irgendeinem höheren Anliegen zu rechtfertigen. Sie empfinden eine ganz andere Art von Enttäuschung: Enttäuschung darüber, dass vielen im Westen die Sensibilität für die beginnende Erosion von Freiheit hinnehmen.

IMAGO/Jürgen Held

Wer hätte das gedacht: 33 Jahre nach der deutschen Einheit ist es geschafft: Alte Wünsche sind in Erfüllung gegangen, insbesondere die westdeutscher Intellektueller, die, wie Günter Gaus, an eine „Verbesserung der DDR“, an „eine DDR ohne Fehl und Tadel“ glaubten und jeglichen kritischen Blick auf Verbindungen verdienter Genossen zur Stasi und zur SED als „Vernichtungsaktion“, „Hexenjagd“, „Intellektuellenhatz“, „Meinungs- und Gesinnungsterror“, „Inquisition“, „Feldzug“ oder „seelischen Bürgerkrieg“ beklagten. (Wolfgang Thierse, Hans-Ulrich Jörges, Matthias Greffrath, Stefan Richter, Heiner Müller, Frank Schirrmacher)

Es klagten vor allem jene, die für ihre moralische Abgrenzung vom Westen, in ihrem negativen Nationalismus, beim antifaschistischen Osten ein Trostbild finden konnten.
Oder war es ganz anders? Im Nachhinein könnte man vermuten, dass der eine oder andere Klagende womöglich engere Bindungen an den Arbeiter- und Bauernstaat hatte, als er enthüllt sehen mochte. Die Stasi-Diskussion lenkte damals nicht nur von der SED ab, die schließlich der Auftraggeber war, sondern auch vom Ausmaß der „Kundschafter des Friedens“, die gen Westen entsandt worden waren und der vielen Einflussagenten unter den „gutwilligen Kreisen“ der systemkritischen bundesdeutschen Lehrer und Pastoren.

Zur Erinnerung: Bundespräsident Steinmeier arbeitete einst für einen von der SED unterhaltenen bundesdeutschen Verlag. Bundeskanzler Olaf Scholz weilte zwischen September 1983 und Juni 1988 neunmal zu offiziellen Gesprächen bei FDJ und SED. Innenministerin Nancy Faeser hält noch heute die Fahne des „Antifaschismus“ hoch, weil sie offenbar nicht weiß, dass unter diesem Banner in der Weimarer Republik auch der Kampf der KPD gegen die SPD stattfand.

Damals jedenfalls wollte niemand zugeben, dass man in seiner ungeteilten Versöhnungsbereitschaft auch manch Unwürdigem die Hand mit dem Persilschein gereicht hatte. Außerdem: war die deutsche Teilung nicht die gerechte Strafe für Auschwitz? Dass allein die Menschen in der DDR diese Strafe auf sich nehmen mussten, schien vielen Bundesbürgern nicht groß aufgefallen zu sein. Oder, schlimmer noch, sie haben den Realsozialismus gar nicht als Strafe gesehen.
Vor allem aber zeigte sich, wie wenig man im Westen von den eigenen „Errungenschaften“ hielt, während man die sozialistischen Errungenschaften der DDR pries. Man hielt, was man hatte und geben konnte, für so wertvoll nicht.
Kurz: Wir sind denen im Osten den leibhaftigen Nachweis der Schönheiten der Demokratie eher schuldig geblieben. Man dürfe doch nicht ausgrenzen, wer sich in der DDR auf seinen Staat eingelassen habe, onkelte ein verständnisvoller Publizist. Und so, schrieb Monika Maron 1990, traten „die Stellvertreter der besiegten Machthaber (…) mit Reue über ihre jahrzehntelange Mitschuld in den Augen vor die Kameras und setzten ihre reuelosen Hintern in die frei gewordenen Sessel.“

Sich auf den bundesdeutschen Staat eingelassen zu haben hielt man links allerdings eher für degoutant. Auch der damalige Bundespräsident Weizsäcker wollte von den Vorzügen der Bonner Republik nichts wissen, jedenfalls warnte er schon kurz nach dem Fall der Mauer vor „Siegesfeiern des westlichen Lebensmodells“ (Rede beim Besuch von Bautzen, 20. Februar 1992).

Vielleicht hätte ein bisschen mehr Feierlaune geholfen.

Doch in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung ging es immer wieder um die Zurückgebliebenen aus dem Osten, Skinhead-Attacken in Hoyerswerda und Mölln galten als Beweis dafür, dass dort rechtsradikale Strukturen überdauert hätten, die man im Westen glaubte erfolgreich ausgemerzt zu haben.

„Unter Honecker wäre das nicht passiert“, wurde ebenfalls nicht selten intoniert. Kurz: da drüben, das war „Dunkeldeutschland“, wie der einstige Bürgerrechtler und spätere Bundespräsident Joachim Gauck 2015 meinte: „Es gibt ein helles Deutschland, das sich hier leuchtend darstellt, gegenüber dem Dunkeldeutschland, das wir empfinden, wenn wir von Attacken auf Asylbewerberunterkünfte oder gar fremdenfeindlichen Aktionen gegen Menschen hören.“

Klar, dass die im Dunkeln nicht das wählen, was die Hellen für das Richtige halten. So wird auch die größere Neigung im Osten zur AfD gedeutet. Dabei gibt es eine weit näher liegende Begründung: Viele, die noch in der DDR aufgewachsen sind, haben ein feines Gespür für autoritäre Anwandlungen und Versuche, Freiheitsbeschränkungen mit irgendeinem höheren Anliegen zu rechtfertigen. Sie sind geschult im Entlarven von Doppeldenk und Doppelsprech und wissen, dass „Nudging“ nichts anderes ist als die etwas feinere Form der Propaganda. Sie empfinden eine ganz andere Art von Enttäuschung: Enttäuschung darüber, dass vielen im Westen die Sensibilität für die beginnende Erosion von Freiheit abgeht.
Noch ist die Bundesrepublik nicht die DDR, jedenfalls nicht ganz. Aber die innere DDR lebt und schwärt und lässt sich offenbar so schnell nicht loswerden.