Tichys Einblick
Ein Meister der flüchtigen Momente

Zum Tode des Verpackungskünstlers Christo

Er hat den Reichstag und zahlreiche andere berühmteBauwerke eingehüllt. Christo war einer der letzten großen Künstler des 20. Jahrhunderts. Dem Kunstbetrieb war er als Antikommunist eher suspekt. Berlin schenkte er 14 unvergessliche Tage.

imago

Christo Wladimirow Jawaschew, den die Welt nur unter seinem Rufnamen kannte, ist tot. Der am 13. Juni 1935 im bulgarischen Städtchen Gabrowo geborene Künstler verstarb am 31. Mai, kurz vor seinem 85. Geburtstag, in seiner Wahlheimat New York. Mit ihm ging einer der Letzten der Großen des 20. Jahrhunderts.

Keiner für den Kunstbetrieb

Christo war Zeit seines Lebens umstritten. Der etablierte Kunstbetrieb, der mit dem Hypen von vorgeblich Kreativen ebenso wie mit dem Handel der Werke Verstorbener ein Milliardengeschäft betreibt, wurde mit dem Kind eines großbürgerlichen Elternhauses niemals so recht warm. Der Grund liegt auf der Hand: Christo schuf Werke auf Zeit und vermarktete sich ausschließlich selbst. Sein Werk sollte nicht aus statischen Momenten bestehen, die man für Millionen bei Sotheby’s ersteigert und im Safe verschließt. Nie sollte es etwas sein, das hinter Glas im Louvre hängt und von nicht enden wollenden Besucherströmen bewundert wird. Christos Werke waren nichts für den großen Reibach der Kunst-Vermarkter. Und: Christo, selbst aus einem stalinistischen Regime geflohen, war überzeugter Antikommunist. Das machte ihn in einer Szene, die sich als links-progressiv begreift und aus freien, kreativen Künstlern reaktionär-kollektivistische Kunstschaffende macht, suspekt.

Als Verpackungskünstler verkannt

In einer Welt der Kategorisierung wurde aus Christo, dem kreativen Szeneasten, ein Verpackungs- oder Verhüllungskünstler. Denn obgleich begabter Maler und Grafiker – seine Liebe galt dem szenischen Projekt. Noch in Bulgarien, übte er die große Inszenierung mit der Aufführung von Shakespeare-Stücken. 1956 führte ihn der Weg seiner künstlerischen Ausbildung erst nach Prag, dann über Wien und Genf nach Paris. Dort lernte er 1958 seine Lebensgefährtin und inspirierende Muse, die in Casablanca am gleichen Tag wie Christo geborene Französin Jeanne-Claude Denat de Guillebon, kennen. Sie sollte ihn bis zu ihrem Tod am 18. November 2009 durch sein weiteres Leben begleiten.

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In Paris begann er mit der Verhüllung von Alltagsgegenständen – und bewegte sich damit in einer Zeit, in der Namen wie Picasso und Dali die Kunstszene beherrschten, in einer kaum wahrnehmbaren Nische. Als die Sozialisten im Ostteil Berlins am 13. August 1961 den Eisernen Vorhang durch Europa mit dem Bau einer Mauser aus Beton, Stacheldraht und Selbstschussanlagen zierten, war dieses der Impuls, der Christos künftigen Weg bestimmen sollte. Trotz behördlichen Verbots blockierte er am 27. Juni 1962 die Pariser Rue de Visconti mit 89 Ölfässern – der bewusste Protest des Künstlerpaares gegen die Stalinisten, die den Osten Europas zu einem Freiluftgefängnis umgestaltet hatten.
Erste „Wrappes“ in den USA

1964 verlegte das mittlerweile verheiratete Paar seinen Wohnsitz – zuerst noch illegal – nach New York. Dort schlugen sich die Eheleute mehr schlecht als recht durch, finanzierten sich durch Schaufenstergestaltung und begannen mit ersten Aktionskunstprojekten. Überregionale Aufmerksamkeit erregte der Staatenlose mit einem Projekt, das er mit Eigenmitteln in Höhe von 70.000 Dollar anlässlich der Kasseler Dokumenta IV im Jahr 1968 ins Werk setzte.

Im darauf folgenden Jahr startete mit „Wrapped Coast“ die erste „Verpackung“. Mit einer Million Quadratfuß Kunststoffgewebe verhüllten Christo und Jeanne-Claude einen 2,5 Kilometer langen Küstenabschnitt der Little Bay beim australischen Sydney. Es folgten, immer begleitet auch von Misserfolgen und Finanzierungssorgen, Projekte in den Vereinigten Staaten, die dem Paar Ruhm und öffentliche Strafzahlungen einbrachten, weil bei ihren Großprojekten behördliche Auflagen missachtet wurden. Dennoch erhielt Christo 1973 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und etablierte seine nach wie vor umstrittene Kunstauffassung durch weitere Projekte wie der Verhüllung der Pariser Pont Neuf im Jahr 1985 und den „Umbrellas“ – 3.100 gelben und blauen Schirmen, die 1991 zeitgleich in Japan und Kalifornien aufgestellt wurden. Die Kostendimensionen ihrer Projekte, zu denen das Paar jegliche staatliche Unterstützung ebenso ablehnte, wie es sich weigerte, gut bezahlte Auftragsarbeiten anzunehmen, lag mittlerweile bei 26 Millionen Dollar.

Christos wichtigstes Projekt

Christos wichtigstes Projekt sollte dennoch auf sich warten lassen. Bereits seit 1961 mit der Idee beschäftigt, den Berliner Reichstag zu verhüllen, bot der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur dem gebürtigen Bulgaren endlich die Gelegenheit, sein Projekt eines „Wrapped Reichstag“ in Angriff zu nehmen. Unterstützung erhielt er von der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth, während Bundeskanzler Helmut Kohl lange mit der Idee fremdelte.
Am 24. Februar 1994 dann stimmte der damals noch in Bonn tagende Deutsche Bundestag der Verhüllung nach heftiger, kontroverser Debatte mit 292 Ja- gegen 223-Nein-Stimmen zu. Am symbolträchtigen 17. Juni 1995, 42 Jahre, nachdem Russen und deutsche Sozialisten den Freiheitswillen der Deutschen im Klientelstaat DDR niedergeschossen hatten, begann die Verhüllung des noch nicht für die Aufnahme des Bundestages umgebauten Gebäudes mit gut 100.000 Quadratmetern aluminium-beschichteten Polypropylengewebe und 15.600 Metern Seil. Die Verhüllung war am 24. Juni abgeschlossen – und es folgten 14 Tage des größten, friedlichen Happenings, das die deutsche Hauptstadt jemals erlebt hatte.

Das 14-tägige Reichstags-Happening

Vom Glück mit einer Wohnung begünstigt, die keine fünf Gehminuten vom Reichstag entfernt lag, konnte ich die von strahlendem Sommerwetter verwöhnte Aktion täglich live erleben und bekam so ein Gespür dafür, dass für Christo und Jeanne-Claude der eigentliche Verhüllungsakt lediglich eine Anlass waren für etwas Größeres, das sie den Menschen schenken wollten. War schon der in kaltem Silber in der Sonne glänzende Reichstag selbst ein unvergessliches Phänomen, so war jenes Dauer-Happening, welches vierzehn Tage vor dem Gebäude und rundherum stattfand, das eigentliche Kunstprojekt. Insgesamt fünf Millionen Menschen aus den entferntesten Winkeln der Welt kamen und wurden gemeinsam Teil eines Projekts, welches für Christo immer auch ein politisches war.

Die Kunst als flüchtiger Moment

Als ich ihn 1996 anlässlich eines Nachbereitungsbesuchs in unserer damaligen Redaktion traf, unterstrich Christo Bedeutung und Ziel, die er mit seinen Projekten und dem Reichstag im Besonderen zu erreichen suchte. Grundsätzlich gehe es Jeanne-Claude und ihm darum, die Flüchtigkeit des Moments mit der Begeisterung der Menschen für etwas Einmaliges zu verknüpfen. Anders als im traditionellen Kunstbegriff wollte er sehr bewusst nicht statische Momente für eine gedachte Ewigkeit schaffen, sondern die Dimension der Vergänglichkeit selbst des Großen, des Überdimensionalen in das Bewusstsein der Menschen tragen. Dabei sei sein Kunstverständnis immer von positivem Optimismus getragen worden – weshalb das Reichstagsprojekt, das aus dem Widerspruch gegen die Fremdbestimmung durch autoritäre Herrschaftssysteme geboren worden war, der Höhepunkt seines Schaffens sei.

Das Künstlerpaar war sich dabei der politischen Dimension insbesondere dieses Projektes, welches gerade deshalb nicht zuletzt in Deutschland auf erhebliche Widerstände gestoßen war, stets bewusst. Der Reichstag, so Christo, stehe für das Fanal des Untergangs einer Demokratie und den Rückfall in die Barbarei ebenso, wie er nach dem Mauerbau als Trutzburg gegen die Diktatur unmittelbar am Eisernen Vorhang gestanden habe. Der Fall der Mauer im Jahr 1989 sei Entsprechung und Spiegelbild seines eigenen künstlerischen Anspruchs: Die Erkenntnis, dass der menschliche Traum von Unsterblichkeit und das Streben nach Ewigkeit immer nur ein flüchtiger Moment sei.

Christos Kunst war immer nur ein flüchtiger Moment, ein Zeitfenster, das sich für einen kurzen Moment der Geschichte öffnete und ungeahnte, unvermutete Möglichkeiten schuf, neue Dimensionen öffnete, die im Hier und Jetzt wahrgenommen werden mussten, weil sie sich niemals wiederholen würden.
Am 31. Mai 2020, kurz bevor sich der Höhepunkt seines Schaffens zum 25. Mal jährte, folgte Christo seiner Jeanne-Claude, nun auch selbst wie seine Kunst ein flüchtiger Moment des Seins, der eine große Erinnerung und noch mehr Inspiration hinterlässt.

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