Tichys Einblick
Was steht im Neun-Punkte-Plan?

Vorsicht vor Willkürrecht

Den Weg in ein Willkürrecht der interpretativen statt sachlichen Strafbewehrung hat das Bundeskabinett zumindest im Ansatz in die Wege geleitet.

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In der Rechtsgeschichte gibt es so etwas wie klassische Sündenfälle. Solche sind es, wenn anlass- oder personenbezogene Sonderrechte durchgesetzt werden. Denn es gilt: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Was im Umkehrschluss bedeutet: Es bedarf keiner Sondergesetze, sondern das geltende Recht muss in der Lage sein, jegliche Straftat abzudecken. Ohne Ansehen und Verortung der Person, ohne die Kreation von Straftaten, die in ihrer Beschreibung nur bestimmten Gruppen zuzuweisen sind. So ist ein Mord ein Mord, egal wer ihn begangen hat. Eine Beleidigung ist eine Beleidigung. Eine Sachbeschädigung eine Sachbeschädigung. Und die Gründung einer kriminellen Vereinigung ist die Gründung einer kriminellen Vereinigung. Gleich, ob sich hier deutschstämmige Kinderschänder zum Pornoring zusammenschließen, ob sich libanesische Clans zur Crime-AG entwickeln, ob Motorradfans ihren Club zur Prostitutionsförderung umfunktionieren, ob politisch Verwirrte eine hochkriminelle Mordbande bilden.

Weicht das Recht von dieser Grundregel ab, dann begibt es sich in die Schieflage. Denn es beginnt, kriminelle Handlungen nicht mehr als solche zu behandeln, sondern die jeweils eigene Interpretation der Straftat selbst zur Straftat zu machen. Am Ende solcher Entwicklungen stehen in aller Regel Systeme mit Willkürrecht. Die – wie beispielsweise in Saudi-Arabien – Kritik an einer Fantasiefigur mit endlosen Tiraden von Peitschenhieben oder – wie im Iran – die individuelle sexuelle Veranlagung mit dem Tod bestrafen.

Den Weg in ein solches Willkürrecht der interpretativen statt sachlichen Strafbewehrung hat nun auch das Bundeskabinett zumindest im Ansatz in die Wege geleitet. Inspiriert durch die Mordtat an einem Kommunalpolitiker und den Mordtaten vor einer Synagoge hat das Kabinett neun Punkte beschlossen, die zumindest in Teilen als eben jene interpretative Strafbewehrung beurteilt werden können. Und sich vielleicht sogar genauso verstehen sollen. Was nicht bedeutet, dass alle neun Punkte unsinnig sind. Die Tendenz bleibt gleichwohl gefährlich für die noch vom Grundgesetz gewährleistete Freiheit des Bürgers.

Was nun wurde beschlossen?

1. Die Betreiber sozialer Netzwerke wie Twitter oder Facebook sollen künftig Inhalte mit Morddrohungen oder „volksverhetzendem“ Charakter nicht nur löschen, sondern bei den zuständigen Behörden zur Anzeige bringen. Das wäre im Grundsatz zu begrüßen, stünde nicht längst das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz im Raum, welches gezielt das Strafermittlungsmonopol staatlicher Stellen an private und unqualifizierte Personenkreise abgetreten hat. Denn mit dem NetzDG ist die Ursünde bereits Realität. Anonyme Personen, angestellt von den Netzwerkbetreibern, übernehmen die Aufgabe der Polizei, indem sie entweder denunziatorische Anzeigen übernehmen oder selbst nach vorgeblich strafbewehrten Inhalten suchen; die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, indem sie nach eigenem Ermessen die jeweilige Anklage erheben, und die Aufgabe der Gerichte, indem sie die von ihnen als strafbewehrt betrachteten Inhalte löschen und deren Verbreiter mit Bann belegen.

Der richtige Weg wäre es daher gewesen, erst das NetzDG ersatzlos zu streichen und dann die Anzeigepflicht festzuschreiben. Denn dann wären Ermittlung, juristische Bewertung und Aburteilung wieder dort, wo sie hingehören. Auch wenn die entsprechenden Apparate derzeit dank jahrzehntelanger Ausdünnungspolitik hoffnungslos unterbesetzt sind.

2. Weil „Hass“ (neudeutsche Pauschalbeschreibung für emotionalen Kontrollverlust in der Kommunikation mit Anderen) und Beleidigungen angeblich im Netz besonders aggressiv ausfallen, sollen die entsprechenden Passagen des Strafgesetzbuches verschärft werden. Das allerdings ist nun ein solches interpretatives Recht. Denn längst sind sowohl Beleidigungen gegen Lebende wie auch die Verunglimpfung des Ansehens Toter strafrechtlich bewehrt. Wenn irgendwelche Psychopathen die Ermordung eines Opfers begrüßen, dann hat das Strafrecht längst jede Handhabe, dagegen vorzugehen. Somit ist dieser Punkt nichts als deklaratorische Schaumschlägerei mit politisch-ideologischem Hintergrund.

3. Strafnormen sollen derart neu gefasst werden, dass Verleumdung und üble Nachrede gegen Kommunalpolitiker härter bestraft werden. Das ist nun in jeder Hinsicht nicht nur Interpretationsrecht – es ist ein gruppenspezifisches Spezialrecht, welches absolut gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes verstößt. Auch Kommunalpolitiker sind Menschen im Sinne des Grundgesetzes – sie bedürfen keiner Sondergesetze.

4. Die Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutzorganen soll intensiviert werden, um so den Rechtsextremismus besser zu bekämpfen. Das ist – mit Verlaub – nichts anderes als propagandistischer Aktionismus. Eine intensive Zusammenarbeit gegen Extremismus jeglicher Coleur hätte längst erfolgen können und müssen. Ist das noch nicht geschehen, sollte der zuständige Bundesminister des Inneren darüber nachdenken, ob er nicht fehl am Platze ist.

5. Das Waffenrecht soll verschärft werden. Zwar hat die Bundesrepublik bereits eines der schärfsten Waffengesetze und das Problem sind zumeist nicht legal registrierte Mordinstrumente, sondern illegale sowie immer noch frei verkäufliche Kleinwaffen – aber man mag es durchaus für zweckmäßig erachten, amtlich bekannten Verfassungsfeinden den Besitz von Waffen zu untersagen. Wenn – und dieses ist entscheidend – eine solche Regelung zum einen für alle Extremisten gilt, gleich ob politisch rechts oder links oder religiös oder sonstwie weltanschaulich motiviert – und wenn diese Verschärfung dann auch konsequent in jede Richtung durchgesetzt wird. Warten wir also ab, was hier geschieht.

6. Da die Verrohung des Umgangs mit Hilfskräften und Krankenhauspersonal zunehmend gefährliche Formen annimmt, soll hier ein spezieller strafrechtlicher Schutz gestärkt werden. Auch das wäre kaum nötig, würde die bestehende Gesetzgebung konsequent angewendet. Das Problem liegt hier nicht im Recht, sondern darin, dass die staatlichen Institutionen bislang nichts oder zu wenig gegen die entsprechende Verrohung unternommen haben, um sich nicht dem Vorwurf gruppenspezifischen Vorgehens auszusetzen. Insofern bedürfte es des Sonderschutzes nicht, wenn die Strafverfolgungsbehörden ohne ideologische Brille ihren Aufgaben nachkommen könnten.

7. Von Gewalt gefährdete Personen sollen durch Änderungen im Melderecht davor geschützt werden, zu leicht von potentiellen Straftätern ausgespäht werden zu können. Das ist sinnvoll, nachdem der Staat offenbar zunehmend in seiner Schutzfunktion versagt hat. Zulässig ist es jedoch nur, wenn dafür generell anzuwendende Kriterien festgeschrieben werden. Das bedeutet: Wer durch die Antifa, die Kahane-Stiftung, Herrn Böhmermann oder politreligiöse Fanatiker geoutet wird, ist ebenso zu schützen wie jemand, der von Preppern oder rechtsfaschistischen Kriminellen bedroht wird.

8. Die Präventionsarbeit soll ausgeweitet werden. Das bedeutet lediglich, dass noch mehr Geld in die Kanäle jener „zivilgesellschaftlichen“ Organisationen gelenkt werden soll, die vorgeblich oder tatsächlich entsprechende Gewaltprävention betreiben. Wenn dieses gleichermaßen gegen jegliche Gewalt eingesetzt wird, ist nichts dagegen einzuwenden. Aber auch nur dann.

9. Durch Ressourcenverstärkung sprich Neueinstellungen sollen die Sicherheitsorgane und Strafverfolgungsbehörden personell für die gestiegenen Anforderungen fit gemacht werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil wäre dieses schon seit Jahren geboten gewesen – und es soll an dieser Stelle ausnahmsweise darauf verzichtet werden, die Verursacher dieses kontinuierlichen Abbaus an Sicherheit zu benennen. Stellen wir einfach fest: Sie scheinen ihre Fehler langsam zu begreifen.

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