Tichys Einblick
Zum Tod von Vangelis

Von Thessalien zu den Sternen: Ein Nachruf auf Vangelis

Wenn die Nachwelt etwas von Evangelos Odysseas Papathanassiou lernen kann, dann ist es die Erkenntnis, sich niemals und von niemandem verbiegen zu lassen, unbeirrt seinen eigenen Weg auch gegen jede Kritik, jede Anfeindung und jeden Mainstream zu gehen.

IMAGO / ZUMA Wire

Eigentlich sind Nachrufe nicht meine Sache. Eigentlich. Denn da der Tod das unvermeidliche Ende einer jeden menschlichen Existenz ist, ist auch dessen Lebensleistung letztlich nur das Aufflackern für einen Microsekundenbruchteil in einem Universum der Endlichkeit des Unendlichen. Dennoch möchte ich an dieser Stelle von der Regel abweichen und einen kurzen Augenblick verwenden für einen Menschen, der am 17. Mai 2022 im Alter von 79 Jahren die Welt der Lebenden verlassen hat.

Ein archaischer Anarchist aus Thessalien

Evangelos Odysseas Papathanassiou, besser bekannt unter seinem Künstler-Kürzel „Vangelis“, hat wie nur wenige andere mein Kunst- und Kulturverständnis geprägt und dazu beigetragen, die traditionelle Enge, die den kommerzialisierten Musikmarkt durch die Rubrizierung in sogenannte „Stilrichtungen“ bis heute prägt, zu überwinden. Es gibt wenige Künstler, die den Bogen von anarchischer Avantgarde bis kommerzieller Massentauglichkeit in einer Weise in sich vereinten, wie es der am 29. März 1943 im thessalischen Agria geborene Grieche schaffte.

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Ähnlich den stilprägenden Kollegen wie den deutschen Avantgardisten von „Kraftwerk“ und „Tangerine Dream“ übte er maßgeblichen und nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der populären Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Gleich dem letzten Aufbäumen der anspruchsvollen, bürgerlichen Kunsttradition jener britischen Musiker des irrtümlich „progressive rock“ genannten Genres, das sich bei den frühen „Genesis“ und „Yes“ findet, blieb Vangelis bis zum Tod trotz seiner anarchisch-archaischen Ursprünge einem durch und durch bürgerlich-traditionalistischen Kunstanspruch der Perfektion verpflichtet. Nie auch scheute er sich, in vorgeblich kapitalistischer Tradition Auftragsarbeiten zu erfüllen und Kompositionen für den breiten Publikumsgeschmack zu liefern, welche in der Verbindung mit dem zu früh verstorbenen Demis Roussos und Lucas Sideras als „Aphrodite’s Child“ bereits im Paris der späten Sechziger Erfolg und Weltruhm begründeten.
Niemals an vorgebliche Grenzen stoßen

Das in jeder Hinsicht Faszinierende an diesem Ausnahmekünstler ist sein Erfolgsweg, der es entgegen der Erwartungen mancher ideologisch geprägter Kritiker und „Kunstschaffender“ niemals nötig hatte, die angeblich unüberwindbare Grenze zwischen kommerziellem Erfolg und links-pseudoprogressivem Kunstanspruch für sich gelten zu lassen.

Seinen Erfolg startete der aus dem von einer Militärdiktatur beherrschten Griechenland nach Frankreich emigrierte musikalische Autodidakt mit hymnenartigen Schlagern als jenes Kind der Aphrodite. Ohne Zweifel: Es waren nicht nur die manchmal fast schon schmalzigen Kompositionen des Keyboarders, die mit nur zwei in diesem Schlagergenre erschienenen Longplayern den Ruhm begründeten. Ohne die Falsettstimme seines Kollegen Roussos wären die AC-Hits vermutlich weitgehend unbeachtet geblieben.

Vangelis war sich dessen stets bewusst, auch als mit dem Epoche-prägenden, letzten unter AC erschienen Doppelalbum die künftig getrennten Wege der Musiker sich bereits abzeichneten. Als Vangelis Ende der Siebziger in der Zusammenarbeit mit Jon Anderson von „Yes“ mit drei Longplayern an die kommerziellen Erfolge von AC anknüpfte, war auch dieses nicht zuletzt der Kombination hymnischer Epik und anspruchsvoller Kompositorik mit eben jener Falsett-Vokalisation geschuldet.

Der Meilenstein „666“

Davor jedoch stand der von manchen als radikal empfundene Übergang vom kommerziell erfolgreichen Schlagerkomponisten zum elektronischen Avantgardisten.

Ein Nachruf
Vangelis komponierte prophetische Musik, die es heute vielleicht gar nicht mehr gäbe
Nach den beiden 1968 und 1969 erschienen AC-Alben mit den Titeln „End of the world“ und „It’s five o‘clock“ schien für Vangelis der Zeitpunkt gekommen, sich neuen, anderen Musikwelten zuzuwenden. 1972 erst erschien das Konzeptalbum „666. The Story of John“, immer noch aus vertraglichen Gründen als Aphrodite’s Child, obwohl es sich musikalisch meilenweit von der kommerziellen Phase der späten Sechziger entfernt hatte. Ich gebe offen zu: Für mich ist dieses Album bis heute unerreicht und in der Geschichte der populären Musik keinem anderen gleich. Der Versuch, die biblische Apokalypse des Johannes in Bild und Wort zu setzen, ist richtungweisend für die Idee des Konzeptalbums.

Zu diesem Zeitpunkt hatten erst „The Who“ mit „Tommy“ einen ähnlich anspruchsvollen Versuch gestartet – der sich jedoch musikalisch als deklarierte „Rock-Oper“ mehr als deutlich von dem Vangelis-Produkt des Jahres 1972 unterschied. Das Konzeptalbum „The Lamb lies down on Broadway“ von Peter Gabriels Genesis, ähnlich anspruchsvoll wie seine Vorgänger und gleich „666“ der Markstein eines musikalischen Bruchs in der jeweiligen Musikervita, sollte noch zwei Jahre auf sich warten lassen.

Die Griechen machten im Gegensatz zu den Briten keine Rockmusik. Sie verknüpften unter der Leitung Vangelis’ traditionelle griechisch-levantinische Klänge mit den zu dieser Zeit in Deutschland und England erstmals eingesetzten Synthesizern, orientierten sich – für Vangelis bis zu seinem Tod charakteristisch – an der klassischen Hymnik ebenso wie an der new-age-eigenen Sphärik und setzten, bei „666“ maßgeblich durch den phänomenalen Einsatz der griechischen Künstlerin Irene Papas manifestiert, avantgardistische Meilensteine. Gemeinsam mit der 1926 geborenen Papas sollte Vangelis 1979 und 1986 zwei bemerkenswerte, griechisch-traditionalistische Alben produzieren.

„666“ kennzeichnet für Vangelis das Ende eines künstlerischen Lebensabschnitt, indem ein anderer bereits begonnen hatte. Avancierte Musikerkollege Roussos, mit seinem ersten Solo-Album „Fire and Ice“ noch unkommerziell-mutig, mit Hits wie „Goodbye, my Love, Goodbye“ zu einem der erfolgreichsten Schlagerbarden der Siebziger und griff dabei immer noch auch zurück auf die Erfolge aus der gemeinsamen AC-Zeit, begab sich Vangelis auf die Suche nach einer neuen Moderne.

Auf der Suche nach der Zukunft der Musik

„The Dragon“ und „Hypothesis“, nie als offizielle Vangelis-Alben erschienen, sind Dokumente der Suche. „Fais que tou ré`ve soit plus long que la nuit“ ist als 1972 veröffentlichte Soundcollage aus den 68er Studentenunruhen in Paris anarchisch, während „Earth“ aus 1973 die archaische Komponente als Rückbesinnung auf die von Vangelis als solche verstandene Kompositionsbasis des antiken Griechenland verkörpert.

Erst mit „Heaven and Hell”, als es 1975 zu einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit „Yes“-Sänger Anderson kam, findet der Multi-Instrumentalist zu jenem Stil, der ihn bis zu seinem Tod in unterschiedlichen Faszetten begleiten sollte. “Albedo 0.39“ (1976) und „Spiral“ (1977) sind Klassiker der Elektronik – ein europäischer Verbund der Schöpfer digitaler Klänge, in dem zeitgleich Kraftwerk mit „Autobahn“ ebenso Zeichen setzten wie der Franzose Jean-Michel Jarre und der Brite Mike Oldfield. Hier liegt die Geburtsstunde von „House“ und „Techno“, die heute jede erfolgreiche Komposition bis hin zur perfekt kommerzialisierten „K-Pop“-Industrie aus Südkorea prägen.

Nach diesen Erfolgen wagte Vangelis mit „Beauborg“ 1978 einen erneuten Vorstoß in die radikale Avantgarde. Ich beschrieb diesen Longplayer seinerzeit als „die erste Schallplatte, bei der man bis zum letzten Ton darauf wartet, dass die Musik endlich anfängt“. Einen ähnlichen Ausflug wagte der Grieche 1985 mit dem bei der Deutschen Grammophon erschienenen Album „Invisible Connections“.

Das Multitalent konnte es sich leisten, seine Fans mit solchen Experimenten zu irritieren. Neben den gut verkauften, in unterschiedlichen Abständen erschienenen Kompositionen in der „Heaven and Hell – Albedo“-Tradition, die an dieser Stelle nicht einzeln benannt werden müssen, schuf Vangelis als Auftragsproduktionen zahlreiche Filmmusiken. Eine solche sollte ihm mit „Chariots of Fire“ 1981 als einem der wenigen dort ausgezeichneten Komponisten den Oskar bringen. „1492 – The Conquest of Paradise“ über die Ankunft des Christoph Columbus in der Neuen Welt feierte nicht nur als Single-Auskopplung große Erfolge, sondern wurde mit zahlreichen weiteren Preisen ausgezeichnet. Der Soundtrack zu „Blade Runner“ mit Harrison Ford vereinte 1982 den Ausnahmesänger Roussos in der Symbiose mit Jazz und Vangelis-typischen Soundteppichen der elektronischen Musik.

2021 die Bücke in die Ewigkeit

Nach der Jahrtausendwende wurde es stiller um den in Paris lebenden Griechen. Nach Mythodea (2001) und Rosetta (2016) bleibt sein 2021 veröffentlichtes, letztes Werk mit dem Titel „June to Jupiter“ gleichsam das Vermächtnis und die kompositorische Brücke des ständig Suchenden von der Welt des Gegenwärtigen in die Ewigkeit des natürlichen Kreislaufs aller Dinge.

Wenn die Nachwelt etwas von Evangelos Odysseas Papathanassiou lernen kann, dann ist es die Erkenntnis, sich niemals und von niemandem verbiegen zu lassen, unbeirrt seinen eigenen Weg auch gegen jede Kritik, jede Anfeindung und jeden Mainstream zu gehen und vor dem Neuen, dem Unerwarteten nicht zurückzuschrecken, wenn es von einem selbst aus Überzeugung angegangen wird.

Die Welt hat am 17. Mai 2022 einen der größten Künstler ihrer Epoche verloren. Sein Wirken hat die Kreativität selbst jener Generationen geprägt, die heute noch nicht geboren sind. Einer der Besten unserer Zeit hat seinen Weg in die Unendlichkeit gefunden.

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