Tichys Einblick
Hilfe für die Ukraine

Was wäre, wenn ein Getreidekonvoi nach Odessa fährt?

Die hauptbetroffenen Länder könnten sich zu einem friedlichen, riesigen Konvoi zusammenschließen, der Richtung Odessa fährt, um dort Getreide aufzunehmen. Täten sich 20 oder 30 Länder zusammen, müsste Russland das zähneknirschend akzeptieren – oder es erklärte all diesen Ländern durch sein Vorgehen den Krieg.

Getreidesilo im Hafen von Odessa, Ukraine

IMAGO / agefotostock

Der russische Überfall auf die Ukraine ist eine Ausnahmesituation. Ausnahmesituationen bringen es mit sich, dass die überwiegende Mehrheit der mittelbar und unmittelbar Betroffenen bei möglichen Lösungen nach klassischen Mustern vorzugehen suchen. Das bedeutet beispielsweise im Falle des bewaffneten Überfalls eines Landes auf ein anderes, nach den Spielregeln des Aggressors zu agieren. 

Im konkreten Fall Ukraine hat sich der Westen bereits in eine solche Situation zwingen lassen. Er akzeptiert, dass eine überlegene Luftwaffe die Infrastruktur und die zivilen Einrichtungen des Opfers zerstört. Warum akzeptiert er es? Weil er davon ausgeht, dass ein Stoppen dieser Barbarei die eigenen Länder in den Krieg ziehen müsste. Und weil er dann davon ausgeht, dass dieser Krieg schnell die konventionelle Schwelle überschreiten würde und in der gegenseitigen, atomaren Selbstvernichtung endet.

Es ist dieses genau das Szenario, das der Aggressor verbreitet sehen will, weil es ihm zumindest bislang den Schutz liefert, den er für seine inhumane Zerstörungskraft benötigt. Es ist dieses Szenario, mit dem der Aggressor einseitig die Spielregeln bestimmt.

Ohne Kriegszustand kein Handelsboykott

Ein anderes Beispiel ist die sogenannte Waffe der weltweiten Getreideversorgung. Lassen wir an dieser Stelle einmal außer acht, wie sinnvoll es überhaupt ist, Populationen, die zu einer vernunftbegründeten Vermehrungskontrolle nicht in der Lage sind, durch ständige Zulieferung von Nahrung wider die dort herrschenden, natürlichen Bedingungen in einen selbstmörderischen Vermehrungskreislauf zu bringen. Gehen wir einfach einmal davon aus, dass das „Zufüttern“ weltkollektives Agreement ist – und dass Putin insofern den Stopp der Getreidelieferungen nicht nur nutzt, um die Preise für seinen eigenen (und den in der Ukraine hinzugestohlenen) Getreideexport in exorbitante Höhen zu schrauben, sondern dass der Leningrader darin auch ein Instrument erblickt, weltweit kleine und große Krisenherde zu organisieren, die seine globalen Gegner beschäftigen und von der Unterstützung der Ukraine abhalten sollen.

Bundesaußenminister Annalena Baerbock spricht in diesem Zusammenhang von einem „Hungerkrieg“. Die UN beklagt, dass weltweit Millionen vom Hunger bedroht sind, sollte das in ukrainischen Silos lagernde Getreide nicht schnellstmöglich bei seinen Empfängern landen. Die Schuld an dieser Situation gibt „die Welt“ den Russen, die mit ihrer Schwarzmeerflotte den Zugang zum wichtigsten Exporthafen der Ukraine blockieren. Also wird gejammert und Anklage erhoben – an der Situation jedoch ändert sich nichts. Denn auch hier werden die Spielregeln von Putin bestimmt – und die Klagenden nehmen es widerstandslos hin. Dabei wäre es doch dringend an der Zeit, selbst Spielregeln aufzustellen. Spielregeln, an die zu halten sich der Aggressor gezwungen sieht, will er nicht die totale Niederlage riskieren.

Blicken wir einmal sachlich nur auf diesen einen Punkt Getreideversorgung:

  1. Offiziell befindet sich Russland mit niemandem im Kriegszustand. Aus russischer Sicht handelt es sich ausdrücklich um eine „militärische Spezialoperation“ – was immer man darunter auch zu verstehen hat, ein regulärer Kriegszustand ist es nicht.
  2. Keines der Länder, die über Getreideabnahmeverträge mit der Ukraine verfügen oder solche planen, befindet sich mit Russland im Kriegszustand. Das bedeutet: Russland hat weder Anlass noch Rechtfertigung, die freie Bewegung von Schiffen, die unter der Flagge jener Länder fahren, in irgendeiner Weise zu behindern.
  3. Die daraus zu ziehende Konsequenz wäre es, dass beispielsweise Ägypten als einer der Hauptabnehmer ukrainischen Getreides eine Flottille aus Getreidefrachtern von Alexandria auf den Weg schicken könnte, um SEIN Getreide in Odessa zu verladen und an den Zielort zu bringen.
  4. Täte Ägypten dieses, müsste Russland dieses dulden, wollte es nicht Ägypten den Krieg erklären. Denn nicht nur, dass ägyptische Schiffe als nicht am Konflikt Beteiligte jederzeit das uneingeschränkte Recht haben, in den Gewässern des Schwarzen Meeres zu fahren – auch hat Russland, da selbst mit niemandem im Kriegszustand, keinerlei Recht, irgendwelche Blockaden zur errichten. Nicht gegen die Ukraine – aber schon gar nicht gegen Drittstaaten.
  5. Da dem so ist, könnten die hauptbetroffenen Länder sich zu einem friedlichen, riesigen Konvoi zusammenschließen, der Richtung Odessa fährt, um dort das Getreide aufzunehmen. Mit Einverständnis der Ukraine – denn nur deren Hoheitsgewässer wären davon berührt – könnte dieser Konvoi sogar von Militärschiffen begleitet werden und rein prophylaktisch hinter einer Flottille von Minenräumern fahren für den Fall, dass irgendwelche „Unbekannten“ in einer Friedenssituation es gewagt haben sollten, Schifffahrtslinien mit solchen Hindernissen zu versehen.
  6. Völkerrechtlich wäre ein solches Vorgehen der Empfängerländer in jeder Hinsicht legitim. Russland hätte nicht die geringste Handhabe, einen solchen Konvoi zu behindern – denn eine solche Behinderung setzt notwendig einen Kriegszustand voraus, der nicht gegeben ist. Jedwedes Vorgehen gegen die Getreideflotte wäre demnach ein völkerrechtswidriger Angriff auf jenes Land, unter dessen Flagge das betroffene Schiff fährt. Angenommen, hier täten sich zwanzig oder dreißig Länder zusammen, dann müsste Russland das zähneknirschend akzeptieren – oder es erklärte gleichzeitig all diesen Ländern durch sein Vorgehen den Krieg.
  7. Im Falle, dass Russland widerrechtlich gegen die Getreideflotte vorginge, befände sich dieses eine und einsame Land schlagartig in einer Art neuem Weltkrieg. Aber eben nicht gegen den gedachten Dauerfeind Nato und USA, sondern gegen ein Phalanx bislang neutraler, kleinerer Staaten. Möglich, dass Putin das sogar riskieren würde – nur würde er die Folgen nicht überleben. Denn dann könnten gegen Russland geführte Angriffe von allen möglichen Seiten kommen – nur nicht vom gefühlten „Erzfeind“ Nato. Und will Russland dann Kairo, Riad, Mogadischu, Aden und so weiter mit Atomwaffen dem Erdboden gleichmachen? Kaum vorstellbar.

Es ist dieses nur ein Beispiel, bei dem Betroffene des russischen Vorgehens eigene Regeln aufstellen können. In zahlreichen anderen Situationen könnte ebenso gegen bisherige Denktraditionen vorgegangen werden. Entscheidend dabei ist es, dass nicht länger der Aggressor derjenige ist, der Spielregeln aufstellt, die mit dem Spiel überhaupt nichts zu tun haben. 

Bislang aber bewegt sich das Denken aller, die irgendwie von dem Konflikt betroffen sind, auf Gleisen der Kriegsführung des zwanzigsten Jahrhunderts. Und sie begreifen nicht, dass Putin selbst den Anlass für das Aufstellen neuer, anderer Regeln gegeben hat, weil es aus seiner Sicht eben kein traditioneller Krieg ist, mit dem er die Ukraine vernichten will. Er vermittelt gegenüber seinen Gegnern jedoch genau diesen Eindruck, dass die Kriegsspielregeln des 20. Jahrhunderts auch für seinen Überfall gälten. Und alle Gegner fallen darauf herein, akzeptieren die Einseitigkeit des Narrativs und verfallen in Angststarre.

Dabei wäre es dringend an der Zeit, auch den Konflikt zwischen Ländern anders zu denken als in den Maßstäben, die seit Napoleon gelten. Den Konflikt „anders zu denken“, wie es die Linken und Grünen sonst immer so gern einfordern – nur mit dem Unterschied, dass es hierbei nun tatsächlich um neues, anderes Denken und nicht um den Rückfall in untaugliche Handlungsmuster geht.

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