Tichys Einblick
Ukraine

Was tut Putin nach der Anerkennung von Donezk und Luhansk?

Der russische Präsident bekräftigt, dass die Völker der Ukraine und Weißrusslands untrennbare und ewige Teile einer russischen Kultur sind. Damit sind seine weiteren Pläne vorgezeichnet.

Der russische Präsident Wladimir Putin verkündet in einer Fernsehansprache an die Nation die Anerkennung von Luhansk und Donezk als souveräne Staaten, Moskau, 21. Februar 2022

IMAGO / Xinhua

Das Drehbuch läuft nach Plan. Am gestrigen Abend erklärte Wladimir Putin, Russland anerkenne die von den russisch-gelenkten Separatisten in den ostukrainischen Städten Donezk und Luhansk gehaltenen „Volksrepubliken“ als souveräne Staaten. Damit bricht Russland nach der Annexion der Krim ein weiteres Mal jenen Vertrag, in dem es die ukrainische Souveränität und territoriale Integrität garantiert hatte, wofür Kiew im Gegenzug der Vernichtung des auf seinem Boden befindlichen Atomwaffenarsenals zustimmte. Dass die Anerkennung von Separatistenhochburgen als „souveräne Staaten“ zudem ein eklatanter Völkerrechtsbruch ist, bedarf keines gesonderten Hinweises.

Tatsächlich ist es jedoch mit der Anerkennung der beiden von den Separatisten gehaltenen Stadtregionen nicht getan. Die nun von Russland als Staaten behaupteten Gebiete umfassen die ukrainischen Verwaltungseinheiten als Regionen Donzek und Luhansk. Beide jedoch sind deutlich größer als die von den Separatisten gehaltenen Ländereien. Der weitere Ablauf ist somit absehbar. Die sogenannten Volksrepubliken werden ihre ohnehin schon verschärften Angriffe auf die dort stationierten Soldaten der Ukraine massieren und die Regierung in Kiew auffordern, die nun vorgeblich von der Ukraine besetzten Gebiete der beiden ehemaligen Regionen der Ukraine umgehend zu räumen. Gleichzeitig wird Moskau mit den Separatisten einen Freundschafts- und Verteidigungspakt abschließen, der Putin das fadenscheinige Recht gibt, seine Armee zur Unterstützung der „Verbündeten“ in die Separatistengebiete zu verlegen.

Die Ukraine wiederum kann der Aufforderung zur Räumung nicht Folge leisten, ohne damit den Völkerrechtsbruch anzuerkennen und damit bereits unmittelbar seine Niederlage einzugestehen. Den nunmehr auf dem Territorium der angeblich souveränen Volksrepubliken ausufernde Kampf wird Putin nutzen, um seine Armee gegen den angeblichen Aggressor Ukraine in Marsch zu setzen.

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Da zu diesem Zeitpunkt bereits die vom Westen angedrohten Sanktionen in Kraft treten werden, hat er auf nichts mehr Rücksicht zu nehmen. Das bedeutet: Es wäre aus Putins Sicht ein unverzeihlicher Fehler, nun nicht jene Fakten zu schaffen, die als nächster Schritt zur Rückeroberung der 1990 verlorenen Sowjetgebiete vorgesehen sind. Folglich wird sich der Angriff gegen die Ukraine nicht mehr auf den Osten des Landes beschränken, sondern zusätzlich von Norden und Süden geführt werden. Um diesen Überfall zu scheinlegitimieren, werden einige Angriffe ukrainischer Kämpfer auf russisches und weißrussisches Staatsgebiet inszeniert werden. Die ersten solcher False-Flag-Aktionen sind dieser Tage bereits angelaufen und propagandistisch verbreitet worden.

An der Nordgrenze der Ukraine wird daraufhin die gemeinsame Streitkraft von Russland und Weißrussland gegen Kiew marschieren. Im Schwarzen Meer sind bereits die entsprechenden Marineeinheiten vor Odessa zusammengezogen. Ausgehend von der Krim wird in Kooperation mit den in Donezk eingesetzten Kräften und den Marineeinheiten der Küstenstreifen von Mariupol bis Odessa angegriffen und besetzt werden.

Putin wird in der besetzten Ukraine eine Marionettenregierung installieren, die ihrerseits um einen Freundschaftsvertrag mit Russland nachsuchen wird.

Selbstverständlich wird die Duma auch diesem Wunsch umgehend zustimmen, womit sich Putin die scheinbare Legitimation für die dauerhafte militärische Besetzung der Ukraine besorgt. Vergleichsweise schnell werden dann sowohl Belarus als auch die Ukraine mit Russland in einer aus Moskau geführten Union verschmelzen.

Ist damit Putins imperialer Hunger gestillt? Nein. Die nächsten Schritte werden es sein, den bereits erfolgten Druck auf Finnland und Schweden – beide nicht Mitglieder der NATO – zu erhöhen. Das Stichwort „Finnlandisierung“ dürfte zumindest den Älteren noch geläufig sein. Es erwartet eine Politik der Scheinneutralität, in der nichts unternommen wird, das gegen die Interessen Russlands gerichtet sein könnte.

Sein Ziel hat Putin bereits 2016 in Anlehnung an den radikalen Vordenker Aleksander Dugin definiert – es läuft unter dem Stichwort „Russkij Mir“ (Russische Welt) und besagt nicht nur, dass die Völker der Ukraine und Weißrusslands untrennbare und ewige Teile einer russischen Kultur sind, sondern sieht Russland als europäische Hegemonialmacht mit Ansprüchen bis nach Lissabon. Putin wird folglich daran arbeiten, die ohnehin weltpolitisch unbedeutende Europäische Union zu zerstören. Gebiete wie die baltischen Staaten und Finnland sind in diesem Machtkonzept längst als Teilrepubliken der Russischen Föderation eingespeist. Die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes sollen wie zu Sowjetzeiten von russischen Vasallen geführt werden, Westeuropa in der russischen Abhängigkeit die Abkoppelung von den USA vornehmen.

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Ein wesentliches Element dieser Expansion bis an den Atlantik ist die sorgfältig und von langer Hand organisierte Energieabhängigkeit der Europäer von russischem Gas. Die von den Grünen forcierte und von Angela Merkel durchgesetzte Politik der Abschaltung hochmoderner und leistungsfähiger Kernkraftwerke sowie der klimaideologische Kampf gegen die Kohle hat hier bereits Deutschland in eine mehr als prekäre Situation gebracht. Ohnehin darf die Frage gestellt werden, was der Klima-Popanz noch für einen Wert hat, wenn die sozialistische Schimäre einer globalen Menschheit des friedlichen Handels und ausgleichender Klimagemeinsamkeit nun wie eine Seifenblase zerplatzt. Anders formuliert: Die linksgrün-gestrickten Politiker haben die vergangenen zwei Jahrzehnte alles dafür getan, Putins Siegeszug zu ermöglichen. Ob gewollt oder ungewollt, spielt dabei keine Rolle – es zählt nur das Ergebnis.

Und die NATO? Wird sie nicht nun dringender gebraucht als je zuvor? Möglich, dass es so ist. Doch gebraucht worden wäre sie bereits, als sich der russische Angriff gegen die Ukraine als logische Konsequenz der dortigen Truppenverschiebungen abzeichnete. In der irrationalen Hoffnung, Putins imperialen Hunger auch ohne eine russische Ukraine stillen zu können, gab sie ihm faktisch grünes Licht für den anstehenden Eroberungsfeldzug. Die Energieabhängigkeit der Europäer wird ein Weiteres tun, um die gegenwärtige Solidarität der Westeuropäer zum Bröckeln zu bringen.

Noch interessanter könnte es werden, wenn auch der Rotchinese Xi Jinping die Chance ergreift, seine territorialen Gelüste auszuleben. Während USA und NATO gebannt auf Russlands Vormarsch gen Westen starren, könnte die VRC zur Auffassung gelangen, nun den richtigen Zeitpunkt gefunden zu haben, um das ungeliebte Taiwan in die chinesische Diktatur zu zwingen. Die entsprechenden Pläne einer Invasion der vorgelagerten Inseldemokratie hat die sogenannte Volksbefreiungsarmee längst zigfach durchgespielt.

Sollte das geschehen, stehen NATO und USA vor einem multiplen Dilemma. Dem russischen Eroberungsfeldzug, dem sie letztlich grünes Licht erteilt haben, müssen sie mit einer deutlichen Mobilmachung an den Ostgrenzen des Bündnisses begegnen. Die USA wiederum stünden vor der Frage, ob sie um Taiwans willen einen Krieg gegen die Volksrepublik zu führen bereit sind. Tun sie es, bricht der Welthandel zusammen – und die Menschheit bewegt sich in Riesenschritten in den nächsten globalen Krieg, der dann tatsächlich ein Weltkrieg sein wird. Tun die USA es jedoch nicht, weil sie in Europa beschäftigt sind und den Konflikt mit dem Reich der roten Mandarine scheuen, bricht die US-amerikanische Sicherheitsarchitektur im Pazifik in sich zusammen. Dann beginnen Länder wie Südkorea und Japan zu wanken – und all die Hoffnungen, die manch einer in eine über die UNO organisierte, friedliche Weltzukunft gesetzt haben mag, wird sich als Fiebervision erweisen.

Aufzuhalten sein wird dieser Zersetzungsprozess kaum noch – und auf das Klima wird er ebenso wenig Rücksicht nehmen wie auf die Vorstellungen von Menschen- und Völkerrecht.

Putin reanimiert gegenwärtig die Menschheitsdefinition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sein Bruder im Geiste, der in Peking auf seine Chance lauert, kann zu jenem werden, der zudem all die Vorstellungen einer demokratisch-friedlichen Menschheitszukunft final zu scheitern bringt.

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