Tichys Einblick
Ukraine und Russland

Auf der Suche nach der Scheinwelt

Zustimmende, aber auch viele ablehnende Leserstimmen hat der Beitrag von Tomas Spahn zur Blockade ukrainischer Getreideexporte durch Russland hervorgerufen. Statt einzeln zu reagieren, antwortet Spahn hier seinen Kritikern.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron empfängt Bundeskanzler Olaf Scholz zum EU-Gipfel in Versailles, 10. März 2022.

IMAGO / Belga

„Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron haben am (Samstag) Mittag auf ihre Initiative hin gemeinsam mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin telefoniert. Das 80-minütige Gespräch war dem andauernden russischen Krieg gegen die Ukraine und den Bemühungen gewidmet, diesen Krieg zu beenden.

Der Bundeskanzler und der französische Präsident drängten dabei auf einen sofortigen Waffenstillstand und einen Rückzug der russischen Truppen. Sie riefen den russischen Präsidenten zu ernsthaften direkten Verhandlungen mit dem ukrainischen Präsidenten und einer diplomatischen Lösung des Konflikts auf.“

So lautet eine Medieninformation des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung (BPA) vom Sonnabend, 28. Mai 2022. Betrachten wir den Text sachlich, so können wir schnell zu dem Ergebnis kommen: Eine solche Information benötigt kein Mensch. Denn darin steht nichts. Nichts, das irgendwie neu wäre. Nichts, das irgendwie einen bislang unbekannten Aspekt in die Situation brächte. Nichts, das irgendwie des Berichtens wert wäre.

Eine absolute Null-Meldung

Scholz und Macron haben mit Putin telefoniert. Das allein für sich ist ungefähr so spannend wie jene berühmten Reis- oder Kaffeesäcke, die wahlweise in China oder Brasilien umkippen.

Scholz und Macron drängen auf einen sofortigen Waffenstillstand und einen Rückzug der russischen Truppen. Ach ja, täglich grüßt das Murmeltier. Eine Nachricht wäre es gewesen, wenn sie es nicht getan hätten.

Scholz und Macron rufen Putin auf, direkte Verhandlungen mit Selenskyj zu führen und zu einer diplomatischen Lösung des Konflikts zu kommen. Okay: Aladins Wunderlampe erfüllt jedem einen Wunsch. Dumm nur, dass es sich hierbei nicht um eine Wunderlampe gehandelt hat und infolgedessen auch kein Wünsch-Dir-Was angeboten wurde. Ganz abgesehen von der Frage, warum ein Opfer mit einem Täter verhandeln soll, wenn das Ergebnis nur die Unterwerfung sein kann.

In toto also folgendes Ergebnis: Die politischen Chefs der beiden wichtigsten EU-Länder haben 80 Minuten Zeit vergeudet, indem sie Putin das Gefühl gegeben haben, sie würden ihn noch irgendwie ernst nehmen. Der Deutsche (vermutlich wie auch der Franzose) hat zudem noch Steuergelder verschwendet, indem er den Bundesregierungssprecher Steffen Hebestreit damit beschäftigt hat, eine absolut überflüssige und nichtssagende Meldung zu verfassen und zu verbreiten. „So what!“ ruft der Denglishman und wendet sich ab.

Das nicht verstandene Spieltheorem

Oder ist da noch mehr? Steht da vielleicht etwas zwischen den Zeilen? Etwas, das wir vielleicht überhaupt nicht sehen sollen?

Machen wir einen kurzen Szenenwechsel. Vor kurzem veröffentlichte ich hier bei TE einen Text, in dem ich die theoretische Möglichkeit eines Getreidekonvois neutraler Staaten nach Odessa zeichnete. Selbstverständlich war das provokativ und genau so war es auch gemeint. Ebenso selbstverständlich war dem Autor bewusst, dass solches in der aktuellen Weltlage niemals geschehen werde. Was selbstverständlich der eigentliche Fehler ist, den die friedliebenden Nationen gegenwärtig begehen.
Vielmehr allerdings sollte anhand dieses Spieltheorems verdeutlicht werden, dass in Sachen „Ukraine-Konflikt“ alle, wirklich alle dem Wladimir Putin aufgesessen sind und weiterhin aufsitzen.

Mögen sie sich noch so wehrhaft und kämpferisch geben – sie alle, vom US-Präsidenten über die deutsche Außen-Annalena bis hin zu einigen TE-Lesern haben sich Putin unterworfen. Das zu verdeutlichen, war das Ziel des Getreide-Textes.

Es ist bedauerlich, dass diese Intention, soweit manche Leserkommentare zu verfolgen sind, nur von ganz wenigen wahrgenommen wurde. Ganz im Gegenteil: Ließ tatsächlich ein Kommentator diese Erkenntnis durchblicken, dann fiel ein eingespielter Schwarm von augen-aushackenden Raben mit „Dislikes“ über ihn her. Dislikes, die eigentlich dem Autor galten – welcher damit allerdings gut leben kann. Und das nicht zuletzt auch deshalb, weil diese Rabenschar gerade einmal vielleicht 30 bis 40 Individuen umfasst. Das ist erfreulich wenig und im Ergebnis lächerlich angesichts der „Einschaltquoten“, derer sich TE mittlerweile erfreut.

Wer will, darf einen Massenmörder zu seinem Helden machen

Selbstverständlich gönne ich jedem Leser seine persönliche Auffassung. Ich gönne es ihm, einen Mann mit Geburtsort Leningrad und Geheimdienstvergangenheit zu seinem Ideal zu machen. Ich gönne es ihm, einen kriminellen Massenmörder zu seinem persönlichen Helden zu stilisieren. Ich gönne es ihm, sein von mir geteiltes Entsetzen über die staatspolitisch betriebene Zerstörung der kulturellen Werte des Abendlandes in die irrsinnige Vorstellung zu verdrehen, dieser Putin könne so etwas wie ein Retter eben dieser abendländischen Kultur sein.

Kann ein Mann, der in einem korrupten Spitzel- und Bevormundungsstaat sozialisiert wurde und sich selbst durch seine Berufswahl zum Instrument dieses Systems machte, ein Vorbild, ein Ideal sein? Offensichtlich. Für manche. Aber offensichtlich nicht für mich.

Kann ein Mann, der aus welchen Gründen auch immer den Massenmord an Menschen befiehlt, die ihm nicht das Geringste getan haben, außer dass sie von ihm in Ruhe gelassen werden wollten, ein Held sein? Offensichtlich. Für einige wenige. Aber mit Sicherheit nicht für mich.

Kann ein Mann, der willkürlich ungezählte Abendländer ermorden lässt und ganze Landstriche des Abendlandes vorsätzlich verwüstet, der Retter des Abendlandes sein? Es ist offensichtlich kaum vorstellbar, dass irgendjemandes Hirnwindungen tatsächlich eine solche Vorstellung schaffen können. Sei es dennoch so, vermag ich dafür nur noch Verachtung zu empfinden.

Aber dennoch gönne ich es einem jeden, seine persönliche Entscheidung frei zu treffen. Ich gönne sie ihm auch dann, wenn sie die Unfreiheit feiert. Ich gönne sie ihm, wenn damit ein Massenmörder gefeiert wird. Ich gönne sie ihm, wenn damit der Zerstörer zum Retter verkehrt wird.

Gönnen bedeutet aber nicht teilen, nicht tolerieren, nicht zum Anlass zu nehmen, um das perfide Denken, das sich dahinter versteckt, auf den Punkt zu bringen.

Wer sich schützt, trägt die Schuld

Im von mir konstruierten Fall ging es um den russischen Getreidediebstahl und die Ausfuhrschwierigkeiten des mit Terror überzogenen Landes. Für die aufrechten 40 Anlass, eine eigene, fan-tastisch-fan-atische Weltsicht kundzutun. Stante pede wird die Schuldfrage umgekehrt. Wenn kein Getreide aus Odessa exportiert werden kann, trügen die Ukrainer daran die Schuld. Schließlich hätten sie doch die Zufahrt zum Hafen vermint, weshalb nun das Getreide nicht mehr exportiert werden könne.

Geht es noch absuder? Der Mann im Kreml hat Odessa ausdrücklich und wiederholt als eines der Ziele seines Überfalls genannt. Vor dem Hafen lauert die russische Schwarzmeerflotte, stets bereit zum Beschuss der Bewohner der Stadt und offensichtlich auch bereit zu einer Landeoperation. Die bedrohte Stadt versucht sich mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diese Gefahr zu wappnen. Und dann trägt sie Schuld an allem, weil sie die Barbaren der russischen Armee – denn genau als solche benehmen sich diese Horden im Auftrag ihres Herrn und Meisters nachweislich – nicht sofort zur Übernahme eingeladen haben?

Ein failed state ohne Existenzrecht

Ein besonders energischer Kommentator macht seiner wie auch immer verursachten Aversion gegen die Ukraine dadurch Luft, dass er das Land als „failed state“ bezeichnet, dem deshalb das Existenzrecht abgesprochen wird.

Einverstanden: Die Ukraine hat infolge der zaristischen Kolonialzeit und der Jahrzehnte langen Dominanz kommunistischer Potentaten zahlreiche Probleme gehabt – und hat sie noch immer. Doch es war Wolodymyr Selenskyj, der mit seiner Fernseh-Sitcom all diese Probleme aufgezeigt hatte. Dafür wurde er von einer breiten Mehrheit des Volkes zum Präsidenten gewählt.

Offenbar ist eine deutliche Mehrheit der Ukrainer willens und bereit, den zaristisch begründeten, sowjetisch perfektionierten und neorussisch befeuerten Missstand aus Korruption, Vetternwirtschaft und Oligarchenmacht zu überwinden. Wäre es dann aber nicht die Aufgabe und Verantwortung eines jeden halbwegs menschlich und vernünftig agierenden Zeitgenossen, ein Volk, das sich auf den Weg in eine bessere Zukunft machen will, trotz aller Mängel mit all seinen Möglichkeiten zu unterstützen?
Wenn es in Osteuropa „failed states“ gibt, dann sind dieses allen voran Russland – und das seit 1917, wenn nicht schon immer – sowie Belarus.

In beiden Ländern haben Gruppen das staatliche Ruder an sich gerissen, die wie korrupte Mafiabanden agieren und ihre Macht ohne jegliche Rücksicht auf was und wen auch immer verteidigen.

Trotzdem versteigt sich dann ein Kommentator sogar noch dazu, das Ausstrahlungsangebot der Selenskyj-Sitcom „Diener des Volkes“ als zynisch zu bezeichnen, weil sie doch als Comedy gedacht sei. Das sei „ehrverletztend“. Einmal ganz im Ernst: Schauen Sie, lieber Kommentator, sich die Serie besser noch einmal an. Ja, sie ist komödiantisch aufgebaut, weil das sicherstellen konnte, gesehen zu werden. Aber mit Comedy oder dem, was dem deutschen Normalkonsumenten als solche verkauft wird, hat das überhaupt nichts mehr zu tun.

Die von „Studio Kvartal 95“ produzierte Sitcom war eine Generalabrechnung mit dem maroden politischen System der postsowjetischen Ukraine und mit Putins autokratischem Russland, das seinem Nachbarland keine Ruhe gönnen wollte, weil die Diebe der Macht hier wie dort Angst davor hatten, dass der von Selenskyjs alias Holoborodkos an sein Heimatland gerichtete Appelle für eine Umkehr und einen Neuaufbau der Politik auch im korrupten Russland gehört werden könnten. Was an der Ausstrahlung eines solchen Zeitdokuments „ehrverletzend“ sein soll, wird das Geheimnis des Kommentators bleiben müssen.

Ganz im Gegenteil: Ich persönlich würde mir wünschen, dass solch eine Sitcom, die die Finger gezielt in die Wunden des Systems steckt, einmal die neosozialistischen Fehlentwicklungen in der BRD und der EU ähnlich unmittelbar aufgriffe und dem sich zur noch sanften Savonarola-Diktatur wandelnden System Europa ebenso schonungslos und gefeiert den Spiegel vors Gesicht hielte.

Allerdings bin ich mir auch bewusst, dass das in der BRD nicht geschehen wird. Linke können keine Komödie, und sie können sie auch nicht ertragen, weil sie keinen Witz und keinen Humor haben. Was sie dem unbedarften Konsumenten als Satire und Comedy verkaufen, ist im leichtesten Fall dumme Plattideologie – im Schwersten dann allerdings gesellschaftsfeindliche Hetze und üble Demagogie. Nur eines ist all das nie: komisch.


Es folgen weitere Teile.

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