Tichys Einblick
Bürgerabgeordnete statt Parteienvertreter

SPD-Vorschlag zum Wahlrecht: Ein Schritt zur besseren Bürgervertretung

Das bürgerfeindliche Wahlrecht könnte durch eines ersetzt werden, das Abgeordnete wieder zu Vertretern der Wähler macht, statt zu denen der Parteien - falls es die SPD ernst meint und die Union sich deren Vorstellungen an schließt.

© Sean Gallup/Getty Images

Überraschender Weise kommt nun von den Sozialdemokraten ein sinnvoller Vorschlag zur Wahlrechtsänderung. Den hat Bundestags-Vizepräsident Thomas Oppermann am Sonntagabend im ZDF vorgestellt.

Die Quadratur des Kreises

Hintergrund der Debatte: Als das bundesdeutsche Wahlrecht vor gut 70 Jahren entwickelt wurde, kam dieses dem Versuch der Quadratur des Kreises nach. Denn es sollten zwei an sich unvereinbare Wahlrechtsvarianten miteinander verknüpft werden.

Traditionell und bereits 1871 festgeschrieben galt in Deutschland das Mehrheitswahlrecht. Es bedeutet: The winner takes it all – und dieses nicht auf Bundes- oder Landesebene, sondern im Wahlkreis. Der Reichstag – heute Bundestag – verfügte über eine feste Anzahl von Sitzen, die der Anzahl der Wahlkreise entsprach. Jeder Wahlkreis stellte einen Abgeordneten – jenen, der eine relative Mehrheit der Wähler an sich binden konnte. Ziel dieses Wahlrechts: Der Abgeordnete sollte in erster Linie unmittelbar seinem Wähler gegenüber verantwortlich sein. Nicht irgendwelchen Parteien, Lobbygruppen oder – neudeutsch – Non Governmental Organizations. Ein solches Mehrheitswahlrecht, heute beispielsweise im Vereinigten Königreich praktiziert, gilt als bester Weg der direkten Demokratie im repräsentativen Parlamentarismus.

Gegen das Mehrheitswahlrecht steht das Verhältniswahlrecht. Dieses verteilt nach unterschiedlichen Schlüsseln die Parlamentssitze entsprechend dem prozentualen Abschneiden der Parteien bei den Wahlen. Die Vertreter kleiner Parteien, die im Mehrheitswahlrecht nur selten eine Chance haben, ein Mandat zu erringen, da die Wähler im Wahlkreis offenbar Zweifel an den Fähigkeiten des Bewerbers haben, sind notgedrungen Verfechter dieses Wahlrechtsmodells.

Parteienvertreter statt Bürgerabgeordnete

Doch das Verhältniswahlrecht ist im Sinne des Bürgers alles andere als „gerecht“. Denn dadurch, dass Personen in die Parlamente einziehen, die im Wahlkreis chancenlos wären, wird des Volkes Wille maßgeblich verkehrt. Gleichzeitig wird der Bürger entmündigt, denn für die Aufstellung der Listen, nach denen nun die Ungewählten in die Parlamente einziehen, sind nicht die Wähler, sondern die Parteien zuständig. Damit verlagert sich das Entscheidungsrecht vom Volk auf die kleinen Personenkreise, die in den Parteien das Sagen haben.

Konkret hat das Verhältniswahlrecht dafür gesorgt, dass der Bundestag heute 709 statt vorgesehen 598 Abgeordnete beherbergt.

410 Parteienvertreter gegen 299 Bürgerabgeordnete

Diese sogenannten „Überhang- und Ausgleichmandate“ werden, nachdem die einstmals großen Parteien an Bürgerzuspruch verlieren, wobei ihre Wahlkreisbewerber gleichwohl dennoch erfolgreich sind, die Parlamente immer weiter aufblähen. Das Verhältniswahlrecht macht aktuell bereits aus den 299 Abgeordneten aus den Wahlkreisen 709 Mitglieder des Deutschen Bundestags. Was gleichzeitig bedeutet: Da 410 Abgeordnete nicht ihren Wählern in den Wahlkreisen, sondern ihren Parteien verpflichtet sind, ist die Entmündigung des Bürgers unvermeidbar – der Wille des Volkes geht nicht mehr von diesem, sondern von den Parteifunktionären aus. Ein Prozess, der sich weiter verstärken wird, wenn noch mehr Parteien ohne Direktwahlchance größere Verhältnisanteile erhalten.

Der Gordische Knoten

Dieses Problem zu lösen gleicht einem Gordischen Knoten. Denn entweder, der Trend zum Parteienstaat wird weiter verstärkt, indem das Wahlrecht die Anzahl der Wahlkreise weiter verkleinert und damit den Anteil der Parteiabgeordneten zu Lasten der Bürgervertreter weiter erhöht, oder aber die Idee, Parteienvertreter nach deren Anteil an den abgegebenen gültigen Stimmen zu orientieren, bliebe auf der Strecke.

Eine Einigung scheint deshalb ausgeschlossen:

  • Abgeordnete mit vergleichsweise sicherer Wählerunterstützung wehren sich dagegen, die Anzahl der Wahlkreise weiter zu Gunsten der Parteiabgeordneten zu verringern, wie dieses ausgerechnet der Bundestagpräsident Wolfgang Schäuble, und mit ihm Vertreter der Kleinparteien, vorgeschlagen haben. Wollen sie die Anzahl der Bundestagsmandate verringern, muss an das Verhältniswahlrecht und damit an die Bürgervertretung die Axt angelegt werden.
  • Abgeordnete, die ihre Existenz der Partei und nicht dem Wähler zu verdanken haben, hingegen halten unverdrossen am Verhältniswahlrecht fest – nachvollziehbar, denn nur dieses garantiert ihnen ihr Mandat.

Es treffen – wie das im Versuch der Quadratur des Kreises unvermeidbar ist – unvereinbare Vorstellungen aufeinander, die eine Wahlrechtsänderung scheinbar unmöglich machen.

Die SPD bietet eine vorläufige Lösung in die richtige Richtung

Vorausgesetzt, Oppermann hat die interne Diskussion der SPD-Führung zutreffend dargestellt, kommt nun von den Sozialdemokraten eine interessante Idee, die zumindest für eine Übergangsphase halbwegs sinnvoll sein könnte. Demnach soll künftig wieder der Ansatz der gleichen Parlaments-Anteile aus Bürger- und Parteienvertretern gelten. Die Hälfte der Mandate wird nach Bürgerwillen aus den Wahlkreisen besetzt. Die andere Hälfte der Mandate fällt dann den Parteivertretern zu. Allerdings – wie bereits gegenwärtig – werden dabei die über die Wahlkreise errungenen Mandate in Anrechnung gebracht. Was konkret bedeuten könnte: Die größeren Parteien sind mit Bürgervertretern im Parlament vertreten, die kleineren hingegen mit Parteienvertretern und NGO-Lobbyisten. Denn die Mandatsträger der Parteien, die in den Wahlkreisen beim Bürger keine Chancen hatten, müssten notgedrungen über den Verhältnisblock der Parteien in den Bundestag einziehen.

Anders als heute allerdings scheint die SPD bereit zu sein, den Überhang- und Ausgleichsunsinn zu beenden, zumindest einzuschränken. Was bedeutet: Ist die Anzahl des Parteienvertreterblocks ausgereizt,  ist Schluss. Damit blieben jene heute 111 Wahlrechtsgewinner vor der Tür. Das Parlament hätte künftig eine feststehende Mandatszahl – und die Wahlkreisabgeordneten das erste Zugriffsrecht.

Eine optimale Lösung muss den Bürgerwillen zurückholen

Eine optimale Lösung allerdings wäre dieses im Sinne der Bürgerrepräsentanz immer noch nicht. Denn der SPD-Vorschlag geht eindeutig zu Lasten jener Abgeordneten, die beim Bürger unmittelbar auf Zustimmung stoßen, solange der Parteienblock nicht einer eigenständigen und unabhängig vom Wahlkreisblock zu besetzenden Zuordnung unterliegt, sondern jene belohnt, die beim Bürger keine unmittelbare Zustimmung finden konnten. Doch immerhin: Es ist ein Schritt in die richtige Richtung nicht nur, weil er die Anzahl der Abgeordneten wieder zurückschraubt, sondern vor allem auch deshalb, weil er das Grundübel der Diskrepanz zwischen Bürger- und Parteienvertretern in den Parlamenten zumindest ansatzweise angeht.

Wollte man das Grundübel der Unvereinbarkeit der Wahlsysteme tatsächlich dauerhaft lösen, dann wäre ein qualifiziertes Mehrheitswahlrecht der einzig sinnvolle Weg, solange der Grundgesetz-Grundsatz gilt, dass alle Macht vom Volke, und nicht von den Parteien ausgeht. Ziel sein muss ein Wahlrecht, in dem ausschließlich die Bürger in den Wahlkreisen ihre Vertreter entsenden – und die Parteiabgeordneten vor der Parlamentstür bleiben.

Denkbar wäre, die vorgesehenen 598 Mandate in Gänze aus den 299 Wahlkreisen zu besetzen – indem dort der erste und der zweite erfolgreiche Bewerber in den Bundestag einziehen. Oder aber, die Anzahl der Wahlkreise wird verdoppelt und es kann nur in den Bundestag einziehen, wer eine absolute Mehrheit der Wähler auf sich vereinen konnte. Dazu wären dann nicht selten zwei Wahlgänge vorzusehen, bei dessen zweiten der Erst- und der Zweiplatzierte gegeneinander antreten. Ein solches Wahlrecht kann unmittelbar zu einer Wiederbelebung des angekratzten Demokratieverständnisses führen. Denn die Bewerber könnten sich nicht länger auf die Macht der Partei verlassen – sie müssten vielmehr direkt an die Bürger als Wähler heran und diesen erklären, wie sie ihre Interessen wahrnehmen wollen.

Die Konsequenz liegt auf der Hand: Im Parlament säßen künftig wieder Bürgervertreter.  Da das den Parteiapparatschiks und ihren Räten der NGO-Lobbies aktiv gegen deren Machtinteressen geht, wird ein solches Bürgerwahlrecht allerdings kaum Chancen haben. Und das, wo es doch sogar auf der Grundlage des Grundgesetzes stünde. Denn Artikel 38 (3) GG schreibt fest, dass das konkrete Verfahren der Wahlen durch ein Bundesgesetz bestimmt wird. Und ein solches ist mit einfacher Parlamentsmehrheit und damit durch Union und SPD allein zu beschließen.

Meint es die SPD folglich Ernst und schließt sich die Union deren Vorstellungen an, dann bestünde tatsächlich die Chance, das bestehende, bürgerfeindliche Wahlrecht durch eines zu ersetzen, das dem ursprünglichen Gedanken des Abgeordneten als Vertreters seiner Wähler und nicht seiner Parteien entspricht. Und mit dem Absatz 1 des GG-Artikels 38 endlich wieder Geltung bekäme:

„(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

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