Tichys Einblick
Ein persönlicher Überlebenskampf

Putins Referenden und das Völkerrecht

Die Referenden des Putin-Regimes in den besetzen Gebieten der Ukraine sind völkerrechtlich ungültig – und damit erst recht deren für Freitag angekündigte Annexion.

Russlands Machthaber Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz nach dem Gipfel in Teheran, 20.07.2022

IMAGO / ITAR-TASS

Auch wenn manch einer daran zweifeln mag: Die Menschheit – zumindest die halbwegs zivilisierte – hat sich in den vergangenen Jahrhunderten einige Regeln gegeben, die als verbindliches Völkerrecht betrachtet werden. Zu diesem Völkerrecht gehört unter anderem die Verbindlichkeit von zwischenstaatlichen Verträgen, will sagen: Der Vertrag zwischen zwei oder mehr Staaten ist so lange in Kraft, bis er gemäß den dort vereinbarten Regeln gekündigt ist.

Nun ist, darum soll nicht herumgeredet werden, es allerdings auch möglich, dass ein Vertragspartner sich schlicht nicht an den beschlossenen Vertrag halten will. Er tut also so, als gäbe es den Vertrag nicht. Ist damit der Vertrag außer Kraft gesetzt? Selbstverständlich nicht. Denn wäre es so, dann könnten keine völkerrechtsverbindlichen Verträge mehr geschlossen werden. Dann reichte es völlig, sich gegenseitig irgendetwas in die Hand zu versprechen – und es nach Belieben zu brechen, wenn einem danach ist.

Somit gilt also: Wer einen bestehenden, völkerrechtlich verbindlichen Vertrag bricht, der setzt sich automatisch ins Unrecht und steht völkerrechtlich in der Verantwortung, für sämtliche aus seinem Vertragsbruch entstehenden Folgen in Regress genommen werden zu können. Weshalb es jemandem, dem ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag nicht mehr gefällt, tunlichst anzuraten wäre, erst den Vertrag zu kündigen und sodann die dort gegebenenfalls vereinbarten Fristen zu beachten, bevor er zu weiteren Handlungen übergeht.

Die völkerrechtlichen Voraussetzungen für Referenden

Damit sind wir nun bei der Russischen Föderation des Wladimir Putin. Die hat dieser Tage sogenannte Referenden über den möglichen Beitritt einiger ukrainischer Gebiete zu eben ihrer Föderation durchführen lassen. Und wie heute, am Donnerstag, aus dem Kreml bekannt wurde, will Putin die Annexion dieser Gebiete durch die Russische Föderation schon am Freitag offiziell in einer Zeremonie in Moskau vollziehen. Kremlsprecher Dmitrij Peskow kündigte zugleich eine „große Rede“ Putins an. Die „Verträge“ sollen auch von vier loyal zu Russland stehenden Vertretern der betreffenden Gebiete unterzeichnet werden.

Grundsätzlich ist gegen derartige Referenden nichts einzuwenden. Vorausgesetzt selbstverständlich, deren Durchführung basiert auf einer völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarung jener, die in irgendeiner Weise durch die Referenden betroffen sind. Das wäre im konkreten Falle zuallererst die Ukraine, zu dessen Staatsgebiet die betroffenen Gebiete gehören. Sodann könnte es die Russische Föderation sein, soweit diese ein berechtigtes Interesse an solchen Referenden geltend machen könnte. Zu guter Letzt sollten die betroffenen Bürger in die Vereinbarung eingebunden werden.

Die konkrete Situation in der Ukraine macht deutlich, dass es durchaus Sinn gemacht hätte, zwecks Durchführung möglicher Referenden eine neutrale Instanz einzubinden – hier sinnfälligerweise die Vereinten Nationen als weltumspannender Regierungenverein. Dort hätten die sogenannten Separatisten ihr Anliegen vortragen können. Die Russische Regierung hätte sie dabei unterstützen können – und die UN hätte in Gespräche mit der Ukraine eintreten können darüber, ob und wie solche Referenden durchgeführt werden.

Möglich, dass die Ukraine grundsätzlich nein gesagt hätte. Das wäre ihr grundsätzliches Recht gewesen, da es sich um ihre Staatsterritorien handelt. Dann hätte man dennoch in Gespräche eintreten können – und wenn die Ukraine trotz guter Argumente sich weiterhin geweigert hätte, wäre den Separatisten der Gang zu internationalen Gerichten möglich gewesen.

Völkerrechtswidrige Referenden entwickeln keine Relevanz

Soweit zum hätte, hätte, Fahrradkette. Denn wenn Separatisten und/oder Russland tatsächlich den völkerrechtlich gangbaren Weg hätten beschreiten wollen, dann hätte Moskau derartige Schritte bereits 2014 vor der Besetzung und der Annexion der Krim einleiten müssen. Das aber hat es nicht getan, womit jenes seinerzeit durchgeführte Scheinreferendum keinerlei völkerrechtliche Relevanz entfalten kann und die Krim auch heute noch Teil der Ukraine und nicht Teil Russlands ist.

Was bei der Scheinannexion der Krim galt, gilt ebenso für jene Scheinreferenden, die am Dienstag abgeschlossen wurden. Erstens fehlt dazu der völkerrechtliche Rahmen und die Zustimmung der Ukraine, zu deren Staatsgebiet die umstrittenen Gebiete gehören. Zweitens ist diese sogenannte Abstimmung allein deshalb eine Farce, weil sie in einer Besatzungssituation erfolgt. Damit ist eine objektive Kontrolle möglicher Ergebnisse nicht möglich. Drittens hat Russland als Okkupationsmacht einerseits zahlreiche Bewohner des Gebietes vertrieben, möglicherweise einen kritischen Teil ermorden lassen oder deportiert, und nicht zuletzt beispielsweise den Erhalt von Rentenzahlungen an die Entgegennahme eines russischen Pass gekoppelt. Da russische Staatsbürger jedoch nicht über Belange entscheiden können, die ausschließlich die Ukraine betreffen, dürften diese Zwangsneurussen selbst dann nicht an den Referenden teilnehmen, wenn diese auf völkerrechtlicher Grundlage erfolgten. Zudem dürften nach dem russischen Terrorakt eines unprovozierten Überfalls ohnehin kaum noch nachvollziehbare Bürgerverzeichnisse vorhanden sein, anhand derer hätte festgestellt werden können, wer überhaupt berechtigt gewesen wäre, an einem Referendum teilzunehmen.

Kurzum: Diese sogenannten Referenden sind genau das, als was sie bezeichnet werden: Scheinreferenden. Sie haben nicht die geringste völkerrechtliche Relevanz und können, wenn überhaupt, als der Versuch eines Ganoven gewertet werden, sein jüngst zusammengeraubtes Vermögen irgendwie zu waschen und zu seinem legitimen Eigentum zu machen. Hier gilt allerdings das, was in der Kriminalitätbekämpfung grundsätzlich gilt: Geraubtes Vermögen bleibt geraubtes Vermögen und Eigentum des Besitzers, nicht des Gangsters.

Der Russisch-Ukrainische Freundschaftsvertrag

Diese Betrachtung allerdings beschreibt nur einen Teil der Situation. Denn tatsächlich geht das sowohl kriminelle wie auch vertragswidrige Verhalten Russlands deutlich weiter.

Am 31. Mai 1997 vereinbarten die damaligen Staatspräsidenten Boris Jelzin für Russland und Leonid Kutschma für die Ukraine den Russisch-Ukrainischen Freundschaftsvertrag. Dieser Vertrag wurde anschließend durch die Parlamente ratifiziert und trat nach dem entsprechenden Vorgang durch die russische Duma im Februar 1999 in Kraft.

In diesem Vertrag garantierte die Russische Föderation die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine und ihrer zu diesem Zeitpunkt bestehenden Grenzen. Im Gegenzug sicherte die Ukraine der Russischen Föderation die Nutzung des Marinehafens Sewastopol auf der ukrainischen Halbinsel Krim zu. Zudem erklärten beide Seiten, nicht in ein „gegen den Vertragspartner gerichtetes Bündnis“ einzutreten.

Der Vertrag hatte ab 1999 eine Laufzeit von zehn Jahren und verlängerte sich automatisch um weitere zehn Jahre, wenn er nicht mindestens sechs Monate vor Auslaufen gekündigt worden ist, wozu jede Seite einseitig das Recht hatte.

Das aber bedeutet, dass Russland mit der Unterstützung der Separatisten und der Annexion der Krim einen völkerrechtlich bestehenden Vertrag einseitig gebrochen hat. Damit steht es für alle durch den Vertragsbruch resultierten Folgen in Haftung.

Russland macht heute hilfsweise geltend, dass

  1. Die Maidan-Revolution ein Staatstreich gewesen sei. Allerdings: Selbst dann, wenn dem so wäre, ist dieses eine ausschließliche, innere Angelegenheit der Ukraine, da diese anerkanntermaßen ein souveräner Staat ist.
  2. Die Ukraine der EU und der Nato beitreten will. Nun wird allerdings selbst Putin nicht behaupten können, dass die EU, wenn man sie als Bündnis betrachten will, gegen Russland gerichtet ist. Etwas komplizierter sieht es mit der Nato aus, die als reines Defensivbündnis aus der inneren Logik heraus grundsätzlich gegen niemanden gerichtet ist, es sei denn, es handele sich um die Reaktion auf einen Angriff. Eine solche Situation jedoch kann nicht das gewesen sein, was der Vertrag als Annahme zugrunde gelegt hatte. Russlands Paranoia hingegen sieht die Funktion der Nato grundlegend anders und behauptet eine Bedrohung durch dieses Verteidigungsbündnis, die jedoch mit konkreten, gegen Russland gerichteten Angriffen nicht zu belegen ist. Letztlich aber ist die Beurteilung der Nato mit Blick auf den Freundschaftsvertrag auch irrelevant, solange die Ukraine der Nato nicht tatsächlich beitritt. Eine Vertragsverletzung der Ukraine ist aus der bloßen Absichtserklärung, eines Tages dem Bündnis beitreten zu wollen, nicht herauslesbar. Der Vertragsbruch hätte – selbst nach russischer Nato-Interpretation – erst mit dem Vollzug eines ukrainischen Nato-Beitritts festgestellt werden können.

Es bleibt somit bei der Feststellung, dass 2014 der Freundschaftsvertrag einseitig und unbegründet durch Russland gebrochen wurde – womit der Vertrag selbst jedoch nicht aufgehört hatte, zu bestehen.

Die Ukraine kündigt den Vertrag

Erst am 24. September 2018 gab die ukrainische Regierung bekannt, den Vertrag zum regulären Datum 31. März 2019 auslaufen zu lassen, also die automatische Vertragsverlängerung durch faktische Kündigung nicht mehr erfolgen zu lassen. Da die ukrainische Duma dieser Erklärung zustimmte, endete der Freundschaftsvertrag an eben jenem 31. März 2019, ohne dass es eines eigenständigen Beschlusses der russischen Duma bedurfte. Damit befindet sich die russische Marine nunmehr auch auf Grundlage völkerrechtlicher Verträge seit dem 1. April 2019 vertragswidrig in Sewastopol, da sie keine Nutzungs- und Aufenthaltsrechte mehr hat.

Dennoch darf aus heutiger Sicht festgestellt werden, dass das Vorgehen der ukrainischen Regierung und Duma 2019 zumindest unüberlegt gewesen ist. Zwar ändert die dadurch entstandene, vertragslose Situation nichts an der Völkerrechtswidrigkeit der Einrichtung der sogenannten Volksrepubliken auf ukrainischen Boden und der Annexion der Krim, welche beider Befreiung nebst Durchsetzung entsprechender Entschädigungsansprüche eindeutig Recht der Ukraine sind – in der Situation ab 2022 allerdings hat sich die Ukraine durch ihre Vertragskündigung der Möglichkeit begeben, die Russische Föderation eines fortgesetzten Bruchs geltender Verträge beschuldigen zu können.

Auch das ändert nichts an der völkerrechtlich unzulässigen, russischen Besetzung ukrainischen Territoriums und der zu erwartenden Annexion – der durch die Ukraine zu konstatierende Vertragsbruch Russlands hätte jedoch der Unrechtszuweisung noch deutlicheres Gewicht verleihen können.

Putins Kampf ums Überleben

Unabhängig davon allerdings ist Russland allein schon durch seinen Vertragsbruch von 2014 gezwungen, die Ukraine zu vernichten. Gelingt dieses Russland nicht, kann die Ukraine nach Ende des bewaffneten Konflikts die Russische Föderation mit Regressansprüchen überziehen, die die Russen bis weit in die Tiefen dieses Jahrhunderts belasten werden.

Nun gilt gemeinhin, dass Forderungsansprüche noch keinen Forderungserhalt garantieren – und selbstverständlich wird sich Putins Russland strikt weigern, auch nur einen Rubel an Reparationen für sein Unrecht an die Ukraine auszukehren. Doch Putin-Russland wird nicht ewig existieren – und die ukrainischen Regressansprüche verjähren ebenso wenig wie der territoriale Anspruch auf die von Russland seit 2014 besetzten und geraubten Gebiete.

Allerdings könnte manches darauf hindeuten, dass die Ukraine nicht nur deshalb früher zum Zuge kommen wird, weil im westlichen Ausland diverses russisches Kapital beschlagnahmt und festgesetzt wurde. Die gegenwärtig aus Russland zu empfangenden Signale lassen nicht erwarten, dass Putins Mobilmachung tatsächlich maßgeblich etwas an der Schlagkraft der russischen Armee in der Ukraine ändern wird. Vielmehr könnte sich eine Situation wie 1916/17 einstellen, in der die russischen Soldaten einfach den Kampf verweigerten und damit den Zusammenbruch des zaristischen Russlands hervorriefen. Um in einem solchen Falle der ukrainischen Regressansprüche scheinbar zu entgehen, müsste Putin die atomare Vernichtung des Landes befehlen. Damit allerdings würde er vermutlich das globale Armageddon einläuten – was allerdings ohnehin seine geringere Sorge zu sein scheint, denn längst schon vermittelt der Leningrader KGB-Offizier den Eindruck, dass er Russland, die Ukraine und beider Länder Menschen zur Geisel seines persönlichen Überlebenskampfes genommen hat.

Die Relevanz der Referenden wird dann eher zu einer historisch irrelevanten, bedeutungslosen Fußnote im Überlebenskampf eines Mannes, der sich grundlegend verkalkuliert hat und nicht mehr weiß, wie er unbeschadet aus seinem Irrtum entfliehen kann.

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