Tichys Einblick

Putins Taktik ohne Strategie – den 9. Mai im Rücken

Offenbar sitzt der russischen Militärführung der 9. Mai als „Tag des Sieges“ im Nacken. Putin, der sich ohne Not in seinen Terrorkrieg verstrickt hat, muss in drei (!) Wochen auf dem Roten Platz irgendeinen Sieg in der Ukraine verkünden können.

IMAGO / SNA

Russlands Überfall auf das Nachbarland Ukraine scheint nunmehr in eine neue Phase einzutreten. Nachdem die ursprüngliche Ansicht, im Handstreich in Kiew einen pro-russischen Regime-Change durchzusetzen, gescheitert ist und die russischen Einheiten sich aus dem Norden der Ukraine zurückziehen mussten, haben sich die Invasionskräfte nun im Südosten des überfallenen Landes konzentriert. Dort stehen sie unter dem neuen Oberbefehl von Armeegeneral Alexander Wladimirowitsch Dwornikow, der bei der Vernichtung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny und im russischen Syrieneinsatz Erfahrungen in der Vernichtung schlecht bewaffneter Einheiten und der zivilen Infrastruktur gesammelt hat. Putin zeichnete ihn dafür bereits am 17. März 2016 mit dem Titel „Held der Russischen Föderation“ aus.

Traditionelle Sowjetstrategie soll den Sieg bringen

Militärbeobachter gehen angesichts der Aufstellung der Einheiten davon aus, dass die russische Ost-Offensive nach klassischem Vorgehen der Roten Armee erfolgen soll. Danach starten die Angriffe entlang der knapp 500 Kilometer langen Frontlinie mit regionalen Vorstößen gepanzerter Einheiten, um so Schwachstellen der Gegenseite festzustellen. Sobald der Angreifer auf eine solche Schwachstelle stößt, sollen dann in einer zweiten, zurückgelagerten Front die Einheiten zusammengezogen werden und geballt durch die Schwachstelle stoßen, um so der Verteidigungslinie in den Rücken zu fallen und die dort stationierten Einheiten in einem Angriffskessel auszuschalten.

Das Problem bei dieser Vorgehensweise: Sie steht seit Jahrzehnten in den russischen Militärlehrbüchern und ist in der Ukraine und der Nato hinlänglich bekannt. Insofern scheint bislang auch nichts darauf hinzudeuten, dass die Überfallarmee tatsächlich auf solche erhofften Schwachstellen gestoßen ist. Zudem sollen die Ukrainer durch befreundete Stellen ständig Satellitenunterstützung in realtime erhalten: Sie wissen insofern, an welcher Stelle sich wie viele russische Einheiten befinden und wohin sie sich bewegen.

Damit verfügen die Ukrainer über einen erheblichen Vorteil. Nicht nur gehen Experten davon aus, dass die Satellitenaufklärung Russlands lange nicht an westliche Qualität heranreicht und zudem die feste Wolkendecke über dem Operationsgebiet nur über Infrarot zu durchdringen ist – da sich zudem die ukrainischen Einheiten nicht bewegen, sondern über die Frontlinie verteilt verschanzt den Angriff erwarten, hat Russland kaum tatsächliche, vorausschauende Aufklärung betreiben können. Die Ukrainer beherzigen den Ratschlag des chinesischen Militärvordenkers Sun Tzu: „Bewege dich schnell wie der Wind und eng wie der Wald. Greife an wie das Feuer und sei still wie der Berg.“

Sollte die klassische Vorgehensweise Russlands dennoch auf ukrainische Schwachstellen stoßen, so steht Dwornikow vor dem Problem, seine Einheiten aus der Länge des Frontverlaufs an genau dieser Stelle konzentrieren zu müssen. Erst dann wäre ein erfolgreicher Durchbruch möglich, welcher aber auch dann noch vor dem Problem stünde, nicht, wie erhofft, die gesamte Armee der Ukraine in den Kessel zu nehmen, sondern sich auf unmittelbar angrenzende Einheiten beschränken zu müssen.

Kein Vorstoß in die Tiefe des Raums

Damit scheidet der von manchen erwartete, schnelle Vorstoß in die Tiefe des ukrainischen Raums, vermutlich mit dem Ziel Odessa, weitgehend aus. Vielmehr wird sich Russland im unwegsamen Gelände in unübersichtliche Aktionen auf kleinerem Raum verzetteln und dabei seine Kräfte aufreiben. Hier wird die bisherige Partisanentaktik der Ukraine mit gezielten Angriffen kleiner Stoßtrupps weiterhin ihre Wirksamkeit entfalten können – und dieses umso mehr, da die Witterung auf Seiten der Ukraine ist.

Eine dichte Wolkendecke, die noch einige Tage Bestand haben soll, schließt eine effektive Luftunterstützung der Russen im Bodenkampf weitgehend aus. Auch verfügt die russische Luftwaffe nicht über entsprechendes Gerät wie die speziell für den Bodenkampf entwickelte Fairchild-Republic A-10 Thunderbolt II, genannt „Warzenschwein“, sondern setzt auf Kampfhubschrauber der Baureihen MI(L)-24, MI(L)-28 und Karnow Ka-52. Das Problem dieser Maschinen: Sie basieren weitgehend auf der Technologie des vergangenen Jahrhunderts und sind zwar gegen größere, bekannte Einheiten und feste Ziele erfolgreich einsetzbar, versagen jedoch im Straßenkampf in Städten ebenso wie gegen Kleingruppenkommandos. Zudem soll es Russland bislang nicht gelungen sein, für seine Luftwaffe ortsnahe Stützpunkte einzurichten. Die ursprünglich geplante Übernahme ukrainischer Flughäfen scheiterte am Widerstand der dortigen Verteidiger und hinterließ unbrauchbare Flugfelder. Die Einrichtung provisorischer Stützpunkte aber soll bislang an logistischen Problemen, den nach Regen und Tauwetter durchfeuchteten Böden – und an einer mangelnden Arbeitsmoral der russischen Soldaten gescheitert sein. Das bedeutet: Haben die Hubschrauber ihre Raketen verschossen, müssen sie sich auf einen langen, ungeschützten Rückflug begeben.

Kein Blitzsieg vorstellbar

Ohnehin stellen Klima und Bodenverhältnisse für die Invasionsarmee ein erhebliches Risiko dar. In ebenem und trockenem Gelände sollen die Panzer aus Sowjetkonstruktion mit einer Tankfüllung plus Zusatztanks eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern entwickeln können. Allerdings reduziert sich diese Reichweite in den durchfeuchteten Böden deutlich – und bereits in der Nordukraine war festzustellen, dass zahlreiche Panzer nicht einmal bis nach Kiew kamen.

Dabei ist es für eine gepanzerte Armee nicht damit getan, 500 Kilometer in feindliches Gebiet vorzudringen und dort die dann fahruntüchtigen Fahrzeuge abzustellen. Entweder, die Reichweite reduziert sich auf deutlich weniger als die Hälfte, um Panzer und Besatzung zurück zum Stützpunkt zu bringen – oder aber eine umfassende Tanklastwagenlogistik folgt dem Vorstoß und sichert über steten Nachschub im Feindesland die Funktionsfähigkeit der Truppe.

Nato-Experten bezweifeln, dass Russland nach der relativ kurzen Vorbereitungszeit bei der Umstellung vom gescheiterten Blitzvorstoß im Februar auf einen konventionellen Kriegseinsatz im April überhaupt in der Lage gewesen sein kann, hinter ihren Linien im Osten der Ukraine eine solche Logistik aufzubauen. Üblicherweise hätte nach der Erkenntnis des Scheiterns bei der Übernahme Kiews eine völlig neue Vorgehensweise strategisch und taktisch entwickelt werden müssen – orientiert an einem auf Zeit ausgerichteten Land-Angriffskrieg mit klaren strategischen Zielen. Die allerdings sind gegenwärtig nicht zu erkennen: Eine Konzentration des Einsatzgeräts im Osten bei unstrukturiert wirkenden Luftangriffen auf die bewohnten Gebiete könnten bestenfalls Sinne machen, wenn Kadyrows Vision eines „Aufrollens“ von Ost nach West geplant ist. Doch zwischen Donezk und Lemberg/Lwiw sind es über 1.000 Kilometer Luftlinie – von den zu überwindenden Widerständen auf dem notwendigerweise zu nutzenden Landweg ganz zu schweigen.

Der Überfall auf die Ukraine kennt zudem in der jüngeren russischen Militärgeschichte keinerlei Beispiel, welches – ob erfolgreich oder nicht erfolgreich – der Armeeführung Anhaltspunkte für ein erfolgreiches Vorgehen in der Ukraine bieten könnte. Weder Witterung noch Bodenbeschaffenheit – vor allem aber auch die Qualität und Motivation der ukrainischen Verteidiger sind in keiner Weise mit Erfahrungen in Afghanistan, Tschetschenien oder Syrien zu vergleichen.

Den 9. Mai im Nacken

Offenbar aber sitzt der russischen Militärführung der 9. Mai als „Tag des Sieges“ im Nacken. Putin, der sich ohne Not in seinen Terrorkrieg verstrickt hat, muss in drei (!) Wochen auf dem Roten Platz irgendeinen Sieg in der Ukraine verkünden können. Bis dahin wird es ihm jedoch nicht gelungen sein, die ihm verhasste „drogenabhängige Faschistenbande“ in Kiew aus dem Amt vertrieben zu haben. Auch die „Befreiung“ einer ukrainischen Metropole wäre eher eine Farce, da diese nur dann als Erfolg verbucht werden könnte, wenn sie wie Mariupol auf verbrecherische Weise niedergebombt wurde. Möglich, dass Putin solches dennoch nun bei Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, beabsichtigt. Doch mehr als eine verbrecherische Massenvernichtung an Infrastruktur und Zivilbevölkerung wird auch dort innerhalb der kommenden drei Wochen nicht zu erreichen sein.

Eine zielorientierte Strategie der russischen Invasionsarmee sei, darüber sind sich die Beobachter mittlerweile einig, nicht einmal ansatzweise zu erkennen.
Insofern deutet einiges darauf hin, dass zumindest eine „Befreiung“ des angeblich russisch besiedelten Ostens der Ukraine auf dem Roten Platz gefeiert werden soll. Militärexperten weisen allerdings darauf hin, dass angesichts der kurzen Vorbereitungszeit, der Witterungs- und Klimabedingungen sowie der logistischen Herausforderungen der übereilte Vorstoß durchaus auch in einem Desaster für die russische Armee enden kann. Ein solches hätte dann allerdings wesentlich weitreichendere Konsequenzen als nur die Niederlage gegen die Ukraine und den dann vermutlich fälligen Sturz Putins.

Putin’sche Dörfer statt leistungsfähiges Kriegsgerät?

Ohnehin reiben sich die westlichen Beobachter und Militärs jetzt schon die Augen. Die angeblich so überlegene Armee Russlands erweist sich in der Ukraine weitgehend als begrenzt leistungsfähige Sammlung von Kriegsgerät aus der Zeit der Sowjetunion. Der mit viel Brimborium vorgestellte Armata wurde bislang auf dem Schlachtfeld nicht gesehen. Spätestens aber bei der Neuausrichtung des Überfalls wäre ein solches Hochleistungsgerät unverzichtbar. Zudem hat sich auch der angebliche Einsatz einer Hyperschallrakete offensichtlich als Propagandashow herausgestellt. Gesehen hat eine solche Rakete noch niemand – nicht einmal Putin, der sie einst anhand einer Computersimulation präsentierte.

Die Zweifel an der Leistungsfähigkeit Russlands gehen sogar noch weiter. Bislang wurde befürchtet, Russland könne auf dem Gefechtsfeld taktische Atomwaffen einsetzen. Doch haben die Nato-Beobachter nicht den geringsten Hinweis darauf, dass solche Waffen tatsächlich existieren – und schon gar nicht darauf, dass sie irgendwo in Bewegung gesetzt worden wären. Wenn nun schon Russland in der Ukraine in einem höchst gewagten Schnellschuss alles auf eine Karte setzt oder setzen muss, dann hätten solche Waffen zumindest in die Nähe des Einsatzortes gebracht werden müssen, um im absoluten Ernstfall der unvermeidbaren Niederlage vielleicht noch das retten zu können, was ohnehin nicht mehr zu retten wäre. Also auch hier nichts anderes als „Putin’sche Dörfer“, wie es ein polnischer Nato-Offizier im internen Gespräch nennt?

So deutet nun einiges darauf hin, dass Russland gegenwärtig auf dem besten Weg ist, eine weitere Erkenntnis des Sun Tzu lernen zu müssen: „Strategie ohne Taktik ist der langsamste Weg zum Sieg. Taktik ohne Strategie ist der Lärm vor der Niederlage.“

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