Tichys Einblick
2001 und 2022

Putin, die russisch-deutsche Großmacht und neue Bedrohungen

Tomas Spahns vierter Teil seiner Antworten auf Leserkommentare zum Themenkreis Russland und Ukraine. – 2001 sprach der damals erst wenige Monate Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin im Bundestag. Zwanzig Jahre später scheint er zwischen damals und heute komplett ausgetauscht.

Wladimir Putin und Angela Merkel bei ihrem Treffen in Meseberg am 18. August 2018

IMAGO / Xinhua

Das stets ambivalente Verhältnis zwischen Deutschen und Russen schien nach der Implosion des Sowjetreichs trotz der lange Jahre beschrittenen, sich voneinander entfernenden Wegen zu einer neuen Nähe zu kommen. Im Jahr 2001 sprach der damals erst wenige Monate als Präsident der Russischen Föderation amtierende Wladimir Putin im Deutschen Bundestag. Zwanzig Jahre später mag es einem vorkommen, als sei irgendwann zwischen damals und heute eine Person komplett ausgetauscht worden.

Die am 25. September 2001 in deutscher Sprache gehaltene Rede ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil damit ein führender russischer Politiker im wichtigsten parlamentarischen Gremium der Bundesrepublik frei reden durfte und damit auch symbolisch einen sechzigjährigen Konflikt zwischen Deutschen und Russen beendete – sie ist es vor allem deshalb, weil ihre Inhalte mit der nachfolgenden Geschichte des Realen so scheinbar überhaupt nicht in Einklang zu bringen sind.

Putin und die Zukunft Russlands

Bereits zu Beginn seiner Rede manifestiert Putin eine Feststellung, die er selbst in seinem späteren Handeln herauszufordern wagte:

„Ich bin mir sicher, dass großartige Veränderungen in Europa, in der ehemaligen Sowjetunion und in der Welt ohne bestimmte Voraussetzungen nicht möglich gewesen wären. Ich denke dabei an die Ereignisse, die in Russland vor zehn Jahren stattgefunden haben.

Diese Ereignisse sind wichtig, um zu begreifen, was bei uns vor sich gegangen ist und was man von Russland in der Zukunft erwarten kann. Die Antwort ist eigentlich einfach: Unter der Wirkung der Entwicklungsgesetze der Informationsgesellschaft konnte die totalitäre stalinistische Ideologie den Ideen der Demokratie und der Freiheit nicht mehr gerecht werden. Der Geist dieser Ideen ergriff die überwiegende Mehrheit der russischen Bürger. Gerade die politische Entscheidung des russischen Volkes ermöglichte es der ehemaligen Führung der UdSSR, diejenigen Beschlüsse zu fassen, die letzten Endes zum Abriss der Berliner Mauer geführt haben. Gerade diese Entscheidung erweiterte mehrfach die Grenzen des europäischen Humanismus, sodass wir behaupten können, dass niemand Russland jemals wieder in die Vergangenheit zurückführen kann.

Zu einem späteren Zeitpunkt seiner Rede fügte Putin hinzu:
„Ich kann mit Zuversicht sagen: Das Hauptziel der Innenpolitik Russlands ist vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit, die Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit des Volkes.“

Ukraine und Russland
Auf der Suche nach der Scheinwelt
Das Irritierende an diesen Passage: Genau das, was Putin 2001 als unmöglich bezeichnete, ist 2021 das treibende Element seiner Politik. In seiner 2001-Rede bekennt er sich zu Demokratie und Freiheit – zu jenen Werten, die für ihn Kernelemente der europäischen Kultur sind und denen die Sowjetdiktatur nicht mehr gerecht werden konnte. Zudem stellt er fest, dass es niemandem möglich sein werde, in Russland die Uhren zurück zu drehen.

Doch zwanzig Jahre später ist es genau dieser Putin, der längst über einen entsprechenden Versuch hinaus genau dieses getan hat und tut. Und der es bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreich tut, soweit es zumindest die Innenpolitik der Russischen Föderation betrifft.

Der Überfall des Jahres 2022 auf die Ukraine ist zudem Beleg, dass Putin sogar das russische Militär einsetzt, um „die Grenzen des europäischen Humanismus“ nicht nur zurück zu drängen, sondern diesen durch aktives Handeln gänzlich zu vernichten.

Putin und die EU

Im Jahr 2022 gilt die Europäische Union dem Russen Putin als ein Konstrukt, welches marode und überflüssig ist und auf deren Zerfall er setzt. Lesen wir, wie er sie 2001 beurteilte:

„Was die europäische Integration betrifft, so unterstützen wir nicht einfach nur diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung. Wir tun das als ein Volk, das gute Lehren aus dem Kalten Krieg und aus der verderblichen Okkupationsideologie gezogen hat.“

Wer die europäische Integration „mit Hoffnung“, sieht, dem darf unterstellt werden, dass er selbst mit dem Gedanken spielt, dabei eine aktive Rolle zu spielen. Erwartete Putin, dass Russland selbst in absehbarer Zeit Mitglied der Europäischen Union werden könne? In diesem Falle wäre seine Begriffswahl der „verderblichen Okkupationsideologie“ in erster Linie als eine Ablehnung der sowjetischen Hegemonialpolitik über die ehemaligen Satellitenstaaten und die zwischenzeitlich unabhängigen Ex-Sowjetrepubliken zu verstehen. Putin unterstreicht insofern die Politik seines Vorgängers, den de-facto-Kolonien an der Peripherie Russlands Eigenstaatlichkeit und Souveränität zuzugestehen. Die 180-Grad-Wende, die die spätere russische Politik kennzeichnet, ist nicht nur bemerkenswert – sie muss irritierend wirken.

In seiner Bundestagsrede fügte der russische Präsident dann noch einen Satz hinzu, der ebenfalls der näheren Betrachtung lohnt:

„In der heutigen sich schnell ändernden Welt, in der wahrhaft dramatische Wandlungen in Bezug auf die Demographie und ein ungewöhnlich großes Wirtschaftswachstum in einigen Weltregionen zu beobachten sind, ist auch Europa unmittelbar an der Weiterentwicklung des Verhältnisses zu Russland interessiert.“

Mit den „Weltregionen“ mit „ungewöhnlich großem Wirtschaftswachstum“ wird Putin im Jahr 2001 vor allem China gemeint haben. Seine Formulierung eines europäischen Interesses an Russland klingt insofern so, als habe er vor 20 Jahren der Europäischen Union sein Russland als eine Art Bollwerk gegen die Volksrepublik China empfehlen wollen. So, wie im 18. und 19. Jahrhundert das katholische Kroatien ein Bollwerk Europas gegen die Expansion des osmanischen Islam darstellte, woraus sich wiederum – dieses nur am Rande – eine weitere Trennungslinie zwischen Westchristen und Ostchristen entwickelte, da die orthodoxen Serben sich – wie zuvor schon Byzanz – vom Katholizismus verraten fühlten, was seinerseits zur Beförderung des zaristisch-orthodoxen Panslawismus und letztlich zum Attentat von Sarajewo geführt hatte.

Ukraine und Russland – Teil 2
Patrioten, Nationalisten, Faschisten, Antifaschisten
Der demografische Faktor dürfte ebenfalls mit Blick auf China, aber auch auf den indo-asiatischen Raum gemeint gewesen sein, womit Putin Russland zudem als Bollwerk gegen jene Migrationsbewegungen empfiehlt, die vor allem ab der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts in die westeuropäischen Länder strebten.
Mit seiner Positionierung machte Putin 2001 jedoch auch deutlich, dass er ausdrücklich nicht den Vorstellungen des internationalistischen Neomarxismus folgte, die, wie vor allem die europäischen Grünen, von einer Multi-Kulti-Weltgemeinschaft träumten. Die Konfrontation zwischen den neomarxistischen Grünen und den postsowjetischen Putinisten, die angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine offen zu Tage treten sollte, zeichnete sich insofern bereits 2001 ab – wenn auch scheinbar auf einem gänzlich anderen Politikfeld.
Die Bollwerk-These Putins von 2001 passte zudem durchaus in seine Vorstellung einer multipolaren Welt, in denen die Kernpole die USA, Euro-Russland und China sind.
Gemeinsam gegen den radikalen Islam

Jenseits der Andeutung einer potentiellen Bedrohung durch das prosperierende China beschreibt Putin 2001 sehr konkret die Gefahr, die den Europäern, vor allem aber Russland seitens des radikalen Islam drohe:

„Oft streiten wir uns weiterhin über Fragen, die unserer Meinung nach noch wichtig sind. Wahrscheinlich sind sie noch wichtig. Aber währenddessen erkennen wir die neuen realen Bedrohungen nicht und übersehen die Möglichkeit von Anschlägen – und von was für brutalen Anschlägen!
Infolge von Explosionen bewohnter Häuser in Moskau und in anderen großen Städten Russlands kamen Hunderte friedlicher Menschen ums Leben. Religiöse Fanatiker begannen einen unverschämten und großräumigen bewaffneten Angriff auf die benachbarte Republik Dagestan, nachdem sie die Macht in Tschetschenien ergriffen und einfache Bürger zu Geiseln gemacht hatten. Internationale Terroristen haben offen – ganz offen – ihre Absichten über die Schaffung eines neuen fundamentalistischen Staates zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer angekündigt, des so genannten Chalifat oder der Vereinigten Staaten des Islam.“

Unabhängig der Beurteilung der Frage, ob besagte Explosionen im russischen Kernland, die die militärische Vernichtungsaktion gegen Tschetschenien legitimierte, wie in westlichen Geheimdienstkreisen vermutet das Werk des russischen Inlandsgeheimdienstes gewesen ist, ist unverkennbar, dass Putin 2001 willens war, gegen den fundamentalistischen Islam eine internationale Anti-Terrorgemeinschaft ins Leben zu rufen. Dabei betont er – und das unterscheidet ihn von manchen seiner westeuropäischen Anhänger – die Differenzierung zwischen den radikalen und nicht-radikalen Muslimen:

„Ich will gleich hervorheben: Ich finde es unzulässig, über einen Zivilisationskrieg zu sprechen. Fehlerhaft wäre es, ein Gleichheitszeichen zwischen Moslems im Generellen und religiösen Fanatikern zu setzen. Bei uns zum Beispiel sagte man im Jahre 1999: Die Niederlage der Aggressoren beruht auf der mutigen und harten Antwort der Bewohner Dagestans – und die sind zu 100 Prozent Moslems.
Kurz vor meiner Abfahrt nach Berlin habe ich mich mit den geistlichen Führern der Moslems in Russland getroffen. Sie haben die Initiative ergriffen und eine internationale Konferenz in Moskau unter der Losung durchgeführt: Islam gegen Terror. Ich finde, wir sollten diese Initiative unterstützen.“

Die Illusion von 1813
Die deutsch-russische Superweltmacht
Putin erteilt in dieser Passage fast schon mehr als unterschwellig zugleich einer US-Weltinterpretation eine Absage: Huntingtons „The Clash of Civilisations“, in Deutschland missverständlich übersetzt mit „Kampf der Kulturen“, war 1996 erschienen und ist unverkennbar gemeint, wenn Putin, näher am Original als die deutsche Übersetzung, von einem „Zivilisationskrieg“ spricht.
So sehr Putin im Grundsatz mit Huntingtons These einer multipolaren Geopolitik ebenso wie der vom 2008 verstorbenen Amerikaner beschriebenen Konfrontation zwischen Muslimen und Nichtmuslimen übereinstimmen mag, so wenig kann Putin der Konsequenz Huntingtons folgen, wonach eine Geopolitik der Macht unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika die Welt des 21. Jahrhunderts ordnen müsse.
Das von Putin anstelle einer US-Weltführung postulierte – nennen wir es durchaus Dogma fasst der Russe bereits zu Beginn seiner Rede zusammen:

„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird. Die ersten Schritte in diese Richtung haben wir schon gemeinsam gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, daran zu denken, was zu tun ist, damit das einheitliche und sichere Europa zum Vorboten einer einheitlichen und sicheren Welt wird.“

Es sind Passagen, die eigentlich keinen Platz für falsche Interpretationen haben lasen können.

  • Die USA werden als weltpolitisch wichtiger Faktor akzeptiert, doch sie sollen keinen Einfluss auf Europa und Russland nehmen.
  • „Europa“ – hier noch als Europäische Union gedacht, soll als Großmacht agieren, indem es sich mit Russland zu einem unüberwindlichen Block als von Außenstehenden unabhängige Macht etabliert.
  • Das Kernelement und die treibende Kraft dieser, nennen wir sie in der Diktion des Kremls „Eurasische Union“ sollten in der 2001er-Auffassung des russischen Präsidenten eben jene Bundesrepublik, in der er das Machtzentrum der EU sah, und die Russische Föderation sein.

Dass Putin damit bereits im Jahr 2001 an eine US-amerikanische Urangst rührte, wird zumindest unter den Zuhörern damals kaum einem bewusst gewesen sein.

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