Tichys Einblick
Rezension

„Occupied“ – eine gar nicht so irreale Fiktion aus norwegischer Produktion

Im Zweifel für den Zweifel – in gar nicht so sehr herbei phantasierten Szenarien. Die Empfehlung für eine filmische Langstrecke mit offiziellem Trailer unter dem Motto: „Wir haben etwas, das unsere Feinde nicht haben – jedes Recht unser Land zu verteidigen!“

Screenshot arte / Occupied

Als 2015 Star Wars mit dem „Erwachen der Macht“ in die Kinos kam und der Broccoli Familienbetrieb mit „Spectre“ einen neuen James Bond ablieferte, wagte ein Team von norwegischen, schwedischen und französischen Filmemachern eine Kleinserie der besonderen politischen Art. „Occupied“ handelt als RealFiction von der fiktiven Übernahme Norwegens durch Russland. Damals lag die Annexion der Krim auf Putins Befehl gerade fast ein Jahr zurück – ein Anlass, den gewagten und mit nicht wenig positiver wie negativer, internationaler Kritik bedachten 24-Teiler auf die Spur und in die Wohnzimmer zu bringen.

Nach der Erstausstrahlung auf arte fast schon in Vergessenheit geraten, soll, wie zu hören ist, nun Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron persönlich darauf gedrängt haben, die RealFiction-Serie erneut auszustrahlen. Wieder mit aktuellem Hintergrund, denn während in der BRD die rotgrüngelben Appeaser der Vision anhängen, mit Russlands Präsident eine gedeihliche Aufteilung des europäischen Kontinents bewerkstelligen zu können, gehen die französischen Nachbarn davon aus, dass Russlands Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine vorrangig dem Zweck eines unerwünschten Nachbarschaftsbesuchs dient. Da passt „Occupied“ nun wieder einmal perfekt in die Aktualität der Szene.

18 Folgen der ersten beiden Staffeln sind gegenwärtig bei arte.tv und arte.fr zu sehen, abzurufen über die Mediathek. Mit zunehmender Aktualität wurde in der zweite Hälfte der vergangenen Dekade die finale Staffel 3 mit weiteren sechs Teilen abgedreht – darauf warten die TV-Zwangsgebührenzahler noch.

Start schon 2008

Die Vorgeschichte zu „Occupied“ begann bereits 2008. Damals schrieb der Essayist Jo Nesboe erste Episoden zu einem Projekt, welches von Tag zu Tag umfangreicher und zeitnaher werden sollte und dennoch bereits deutlich vor der Ukraine-Krise des Jahres 2014 weitgehend produziert war. Geplant als historisch inspirierte Science Fiction hatten Nesboe und seine Co-Autoren Erik Skjoldbjærg und Karianne Lund vor allem die Situation Norwegens nach der Besetzung durch das Deutsche Reich im Jahr 1940 vor Augen. Heute zumeist als Epoche des heldenhaften Widerstandes gefeiert, hatte der Norweger vor allem die tiefen Rissen auch in der eigenen Familie und der norwegischen Gesellschaft in Erinnerung – ein Trauma, das bis heute wirkt und dennoch verdrängt und überwunden scheint.

Kaum jemand in Norwegen hat die Vasallenregierung des Vidkun Quisling vergessen, der als Statthalter Hitlers von 1942 bis 1945 das Land am Nordatlantik willfährig verwaltete. Weil seinerzeit auch Frankreich mit der Vichy-Regierung unter Piere Laval ähnliche Erfahrungen zwischen Kollaboration und Widerstand gemacht hatte, lag eine norwegisch-französische Filmkooperation quasi in der Luft. Dabei wurden auch die Unterschiede offenbar, mit denen Norwegen und Frankreich der deutschen Besatzung begegneten, sowie den Schweden, die „neutral“ mit den Deutschen kooperierten, um nicht selbst zum Ziel der Kriegsmaschine zu werden. Die deutsche Besetzung lief im Land der Fjorde deutlich gemäßigter ab als im Frankreich der traditionell unbändigen Franzosen. Und das wirkt auch in den Film.

Typisch skandinavische Filmsprache und gedachte Russophobie

Dramaturgisch kommt das Projekt skandinavisch daher. Es wirkt in Teilen langatmig und aus der Hektik der Zeit gefallen. Wenn sich neben exzellent ausgearbeiteten Einzeldramaturgien das Gesamtbild gleichwohl nur auf einer sehr flachen Lernkurve entwickelt, dann warten unter den Zuschauern die einen verzweifelt auf einen nächsten Höhepunkt, während die anderen gelangweilt wegschalten. Das ist bedauerlich, denn die Geschichte hat es in sich, ist weit mehr als die Kolportage einer in Vergessenheit geratenden Besatzungszeit mit der Neubesetzung durch einen zeitaktuellen Okkupanten. Sie ist eine Studie menschlichen Verhaltens – von Opportunismus über Apathie bis Widerstand. Norwegen wird hier zu Symbol und Beispiel. Was wir erleben kann sich überall abspielen, wenn eine Großmacht die Spielregeln in einem zuvor unabhängigen Land bestimmt.

Vielleicht auch deshalb war bei der Erstausstrahlung vor gut fünf Jahren neben der positiven Kritik viel ablehnendes Kopfschütteln zu vernehmen. Allzu fern von der eigenen Wirklichkeitserwartung erschien der Plot vielen naiven Geistern, während Russophile sofort bösartiges Russenbashing witterten und die Rede von Stimmungsmache und Hetze war. Russland selbst legte offiziellen Protest ein, weil die Serie „in sensibler Zeit eine Gefahr aus dem Osten“ beschwöre. Dabei lag die Geschichte einer russischen Besetzung Nordwestskandinaviens über das nordische Eis niemals jenseits der Realität. Es ist das alte Dilemma Russlands, keinen unmittelbaren Zugang zum Atlantik zu haben – schon Briten und Deutsche hatten 1939/40 die geostrategische Lage des dünnbesiedelten Lands der Wikinger in ihrem Wettlauf um den Zugriff auf das Nordmeer erkannt.

Wenn aus ScienceFiction RealFiction wird

Jüngste Ereignisse nun rücken das Szenario erneut in ein erkennbares, reales Licht. Während Russland unverhohlen Truppen zur Ukraine auffährt und seinen Anspruch auf die Krim sowie Lugansk und Donezk als naturgegeben betrachtet, ändert sich auch im Westen des europäischen Kontinents behutsam die Wahrnehmung. Russlands Politik der Expansion und Drohung von Ostsee bis ans Kaspische Meer gibt der Serie eine spezielle, ja aggressive Aktualität.

Arte hatte bereits 2015 den Mut, die umstrittene Serie kurz nach der Erstausstrahlung in Norwegen zu platzieren. Allerdings mussten die Deutschen schon damals von ihren französischen Kollegen zum Jagen getragen werden. In Berlin war man ob der ungewollt deutlichen Beschreibung des russischen Vorgehens in der Ostukraine wenig amüsiert – das maßgeblich von der damaligen Frau Bundeskanzler ausgehandelte, wirkungslose Minsker Protokoll sollte nicht durch gefühlte Provokationen Moskaus gefährdet werden. So erfolgte die Sendung in den späten Abendstunden und ohne große Medienbegleitung – der Erfolg sah folgerichtig zunächst bescheiden aus. Doch behutsam entwickelte sich das RealFiction-Projekt zum Geheimtipp.

Tatsächlich kann sich die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes sehen lassen. Auch deshalb, weil Autoren und Produzenten keine irrealen Szenarien benötigen, um die Ursache des russischen Vorgehens zu begründen.

Expansion und Energiepolitik

Die in Occupied erzählte Geschichte passt in die Zeit: Das kleine, aber energiemächtige Norwegen stellt wegen der Umweltproblematik seine Erdöl- und -gasproduktion und damit den Export dieser fossilen Brennstoffe ein. Stattdessen soll künftig Thorium als Energieträger die Versorgung des Wohlstandslandes sicherstellen. Da das Atlantikland über die mächtige Thoriumvorkommen verfügt, kann Norwegen nun ganz Europa mit günstigem und umweltfreundlichem Atomstrom versorgen. Dadurch jedoch kommt es zur Verletzung bestehender Handelsverträge, was Russland mit Billigung durch die Europäische Union, welche ihre eigene Energielobby gefährdet sieht, zum Anlass der Besetzung nimmt. Es erfolgt der Einmarsch über das Nordmeer und die schrittweise Übernahme des Landes und seiner Institutionen. Tatsächlicher Hintergrund ist neben geostrategischen Überlegungen die russische Ambition, sich die Thoriumtechnologie nebst der Vorräte zu sichern, um so die eigene Energieversorgung gegen das Auslaufmodell fossiler Energieträger zu gewährleisten.

Der fast reale Hintergrund des Dramas: Die bekannten Thoriumreserven Norwegens in den vielleicht ältesten Gesteinsformationen der Erde sind immens. Überlegungen zur Nutzung dieses leicht radioaktiven Elements gibt es seit geraumer Zeit: Bereits als Zusatzstoff zum klassischen Kernbrennmaterial soll es überaus effizient sein. Während Indien mit den behauptet weltweit größten Thoriumvorkommen aktiv Thorium-Reaktorforschung betreibt, hält sich Norwegen, das mit dem staatlichen Government Pension Fund Global über einen mit deutlich über einer Billion Euro mehr als gut bestückten Staatsfond verfügt, bislang zurück. Hintergrund sind Risikostudien, deren kritische Faktoren bislang offenbar nicht abschließend als bewältigbar gelten.

Nichts ist wirklich Fiction

Gleichwohl greift die Dramaturgie von „Occupied“ dieses Szenario als Urknall seiner Geschichte auf – der Rest ist klassische Drehbucharbeit: Es geht um Schläfer, Schafe und Schlafmützen; um Liebe, Mord, Lug und Betrug; um Unterwerfung, Kollaboration und Widerstand. Kurz: Norwegen wird zum Spiegelbild menschlicher Vielfalt mit allem, was diese Spezies seit Ewigkeiten ausmacht. Unverhohlener Opportunismus, bis zur Blödheit grenzender Hader und große wie kleine Intrigen haben fast Shakespeare’sche Qualität. Ein wenig „House of Cards“ und Real-Bundeskanzleramt schimmert mehr als einmal durch. Nichts Menschliches ist fremd, und so wird, wer sich darauf einlässt, mit einer gut gemachten Schau menschlicher Abgründe ebenso wie Höhen exzellent belohnt.

Während (nicht nur) skandinavische Gutmenschen an eine kurzfristige Krise glauben wollen, schreiten die Russen vorwärts. Sie sind subtil und reden von Kooperation, Zusammenarbeit, überschreiten, ganz wie in der realen Politik, Schritt um Schritt jede völkerrechtliche Grenze.
Inzwischen treiben nun EU und NATO Ihren Verrat auf die Spitze. Schnell hatte sich wie Anno 1940 
eine Widerstandsbewegung gegründet. Russen, Nato und EU nennen diese selbstverständlich und unisono Terroristen, was gern auch in Rest-Europa und den USA so verstanden wird. 
Der Zuschauer hadert mit der Zögerlichkeit der meisten Hauptfiguren, die immer wieder fast schon sklavisch betonen, wie gut es Alle mit Allen meinen. Jeder Bürger, jeder Zuschauer kennt diese Handlungs- und Entscheidungsschwäche in der eigenen Rückschau auf die Politik seiner Heimat. Norwegen ist Deutschland ist Europa. In der Serie erkennt der politisch Agierte, was er längst persönlich erfahren hat.

Skandinavische Filmsprache

Regietechnisch bedient sich die Serie der aus Wallander und Co. bekannten, typisch skandinavischen Arbeitsweise aus langen Phasen und langem Atem. So ist sie weit davon entfernt, ein Thriller zu sein, auch wenn die Produzenten ihr Produkt als solchen verkaufen. Manche Charaktere entwickeln sich langsam, zu langsam, fast schleppend – und manche gar nicht. Das strapaziert die Geduld. Spannung erzeugt der Mehrteiler dennoch, wenn er Konflikte in komplexen, erst schwer erkennbaren Zusammenhängen aufbaut. Es sind dieses filmische Mittel, die in Deutschland unüblich geworden sind – ein aus der Mode gekommenes Instrument selbstreflektierender Gesellschaftskritik. Es erinnert an Frank Castorf, den langjährigen Intendanten der Berliner Volksbühne, und an die Filme von Rainer Werner Fassbinder, Frank Beyer und Margarete von Trotta aus den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts.

So lebt „Occupied“ von einer Film- und Formensprache, die vielen heutigen Rezipienten abhandengekommen ist auch deshalb, weil sie mehr Aufmerksamkeit und Nachdenken einfordert, als man dieser Tage den Produzenten zu gestatten bereit ist. Dennoch wird der Zuschauer vor allem mit sehr guten Dialogfragmenten versöhnt. Diese haben Gestalt und Charakter politischer Statements und werfen nicht zuletzt einen irritierenden Blick auf die real existierende Außenpolitik Europas.

Eine partiell exzellente Besetzung

Mit in Deutschland wenig bekannten Schauspielern wie Henrik Mestad als Ministerpräsident, Ingeborga Dapkūnaitė als ambivalente, russisch-böse Botschafterin und Ragnhild Gudbrandsen als Geheimdienstchefin liefert „Occupied“ dennoch auch exzellentes Theater. Andere Protagonisten wie Hauptakteure bleiben hingegen über lange Phasen merkwürdig blass. Das nimmt Fahrt aus der Dramaturgie, wo doch Dampf erwünscht ist. Es sind solche Passagen, die um der insgesamt gut erzählten Geschichte überwunden werden müssen. Gleichwohl ist diese Filmsprache mit den Movies aus unseren drei nördlichen Nachbarländern seit Jahren im deutschen Programm – vorwiegend mit Filmen und Serien wie „Die Brücke“ oder besagtem „Kommissar Wallander“, aber auch mit dem Historiendrama „1864“, das an einen in Deutschland vergessenen Krieg erinnert. Zumeist jedoch sind es Kriminal- oder Polizeigeschichten mit übersichtlicher Handlung – alles gut gemacht, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die Kameraführung erinnert an ein deutsches Kammerspiel, so wie bei der ARD üblich. Sie ist seriös, doch ohne jeden Effet. Mancher, der sich neben der Arbeit berieseln lässt, mag das zu schätzen wissen, weil seine Aufmerksamkeit nicht immer wieder zurückspringen muss.

Die Regie in der Produktion wechselt. Das ist zu spüren, tut aber dem Streifen keinen Abbruch – eher wertet es diesen auf. Die Musik des englischen Komponisten Nick Sillitoe liefert ein inspiriertes wie unterstreichendes, meist düster-hintergründiges Musikfragment mit sparsam-pulsierendem, dramatischem Sound. Es lässt der Handlung ihren Vorrang und bleibt doch im Ohr. Das erinnert ein wenig an die 80er und findet seinen Niederschlag auch in der Auswahl des Titelsongs „Black & Gold“ des norwegischen Metall-Rockers Sivert Hoeyem. Insgesamt hat die einst von Starautor Henning Mankell und Producer Ole Sondberg gegründete Yello Bird Produktionsgesellschaft mit „Occupied“ gezeigt, dass sie hochaktuelle und brisante Stories umsetzen kann.

Zur richtigen Zeit in die erneute Ausstrahlung

Arte holt den Stoff nun zur genau richtigen Zeit aus der Kammer. Die Handlung erfasst den Zuschauer in der aktuellen politischen Situation noch deutlich intensiver als vor fünf Jahren. Nicht nur Länder wie China, die Türkei und Russland gehen zunehmend den Weg der imperialen Konfrontation statt auf Entspannung und faire wirtschaftlich-politische Kooperation zu setzen. Klassische Machtpolitik bestimmt, allen Globalvisionen der Konstruktivisten zum Trotz, das 21. Jahrhundert. Wem dieses immer noch nicht bewusst geworden ist, der findet im Occupied-Politkino Weckruf wie Nachhall.

Der Blick auf den Forderungskatalog des russischen Präsidenten Wladimir Putin, vorgeblich vorgelegt um eine bewusst herbeigeführte Ukraine-Krise zu überwinden und dennoch nichts anderes als Russlands imperiale Machtpolitik, kommt einher mit Schlagworten wie „Vereinbarung für Sicherheit und Zusammenarbeit“. Fast wirkt es, als habe Putin aus dem norwegischen Politdrama abgeschrieben, wenn beispielsweise aus Erpressung „Energiekooperation“ wird.

Das Occupied-Team beweist sich als hellsichtig und intelligent in der Beobachtung politischer Prozesse. Da will es überfällig erscheinen, dass die deutsch-französischen TV-Kooperateure endlich auch die längst abgeschlossene und über Pay-TV seit 2019 verfügbare dritte Staffel ohne Bezahlschranke liefern.

„Occupied“ bei arte in deutscher Sprache und in französischer Sprache


Co-Autor Torsten Kurschus

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