Tichys Einblick
In Ungnade gefallen?

Lebt er oder lebt er nicht? Rätsel um Schoigu

Gemeinsam mit Putin war Schoigu letztmalig an einem Tisch gesehen worden, als jener am 28. Februar den Befehl gab, die „Abschreckungskräfte“ – gemeint sind die Atomwaffen – in Alarmbereitschaft zu versetzen.

IMAGO / SNA

Zu Sowjetzeiten gab es in der Kreml-Astrologie ein sicheres Signal dafür, dass jemand aus der Führung in Ungnade gefallen ist: Er wurde in einem ersten Schritt zu dem, was wir heute als virtuelle Persönlichkeit bezeichnen würden. Scheinbar noch da, aber doch irgendwie weg oder gar nicht mehr erwähnt. Erklärt wurde diese Virtualität auf unterschiedliche Weise und abhängig davon, wie der weitere Schicksalsweg des Betroffenen zu erwarten war.

So konnte jemand plötzlich erkrankt sein – was halbwegs plausibel auch darauf hinauslaufen konnte, den Betroffenen in absehbarer Zeit an seiner Erkrankung sterben zu lassen. Denkbar war auch, dass der Virtuelle zu sehr mit anderen wichtigen Aufgaben versehen war, um als Person seine Präsenz auf höchster Ebene wahrzunehmen. Gleichsam die Verkündung des bereits erfolgten Verscheidens war es, wenn eine wichtige Person gänzlich ohne Kommentar und Erklärung von der Bildfläche verschwand. Eine vierte und in gewisser Weise besonders öffentlichkeitswirksame Methode war die offizielle Anklage – im minder schweren Fall mit Ziel der längerfristigen Verbringung in ein Straflager wegen steuerlicher oder korruptiver Vergehen, bei Ausschalten mit Signalwirkung über die Anklage des Verrats.

Welcher der jeweiligen Wege gewählt wurde, um einen in Ungnade gefallenen Mitstreiter aus dem Feld zu schlagen, hing auch davon ab, welchen Beliebtheitsgrad er bei der Bevölkerung hatte. So war das Krankheitsmodell vergleichsweise ungeeignet bei Personen, die sich einer gewissen Beliebtheit erfreuten, denn es organisierte notwendig Mitgefühl und Nachfrage. Das völlige Verschwinden über Nacht bot sich bei Delinquenten an, über deren Demission niemand eine Träne verdrückte. Alle waren froh, dass er weg war – niemand wollte wissen, warum und mit welcher Konsequenz. Die Anklage bot sich vor allem dann an, wenn mit dem Abräumen des nun Ungeliebten ein Signal an Dritte verbunden werden sollte: Achtung, aufgepasst! Euch kann es ebenso ergehen, also verhaltet Euch angemessen! Dieses Modell hatte eine gewisse Allanwendungsqualität – mit Ausnahme ausdrücklich dann, wenn der Delinquent über einen zu hohen Beliebtheitsgrad verfügte.

Für Personen, bei denen davon ausgegangen wurde, dass sie über eine gewisse Hausmacht und über Sympathie beim einfachen Volk verfügten, bot sich die Überbeschäftigungsbehauptung an. Der in Ungnade Gefallene war irgendwie noch da, mehr noch: Er opferte sich in einem Maße für Volk und Vaterland auf, dass seine persönliche Anwesenheit bei maßgeblichen Sitzungen zweitrangig wurde. So konnte ein Delinquent vorübergehend sogar einen gewissen Heldenstatus erhalten. Dieser verblasste in dem Maße, wie weniger über ihn gesprochen wurde. Er wurde ausgeblendet wie das Ende eines Popsongs, dessen Produzenten irgendwie kein schlüssiges Ende gefunden haben. Das Fade-Away eines Individuums.

Da sein oder nicht sein – das ist hier die Frage

In der aktuellen Situation des russisch-ukrainischen Kriegs grübeln nun die Kreml-Astrologen darüber, ob es möglicherweise bereits den Verteidigungsminister Sergej Schoigu getroffen haben mag. Der ist seit dem 11. März nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten. Gemeinsam mit Putin war er letztmalig an einem Tisch gesehen worden, als jener am 28. Februar den Befehl gab, die „Abschreckungskräfte“ – gemeint sind die Atomwaffen – in Alarmbereitschaft zu versetzen. Schoigu, das war auf den erstveröffentlichten Videosequenzen zu erkennen, schien von diesem Befehl Putins wenig erfreut gewesen zu sein. Über das Gesicht des Halb-Tuwinen zuckte ganz kurz ein Ausdruck herablassender Angewidertheit. In späteren Videos des Vorgangs war die kurze Gesichtseinblendung bereits verschwunden.

Bis zum Sonnabend letzter, angeblicher Liveauftritt des offiziell in seiner Arbeit gleichsam erstickenden Oberbefehlshabers des Ukraine-Überfalls war eine Zuschaltung auf einen vielfach geteilten Großbildmonitor mit zahlreichen anderen Führungskräften der Putin-Camarilla. Allerdings brachte sich der oben links platzierte Schoigu nicht mit einem einzigen Wort ein. Zudem wurde sein Konterfei durch angeblich technische Probleme sogar kurzfristig ausgeschaltet, um dann wieder aufzutauchen. Fachleute halten es insofern für möglich, dass hier eine kurze Videosequenz nach Ablauf erneut händisch zugeschaltet werden musste.

Am Sonnabend wieder da?

Wie TE bereits berichtete, kam jüngst aus israelischen Quellen die Mitteilung, Schoigu stehe unter Hausarrest und es werde gegen ihn eine Anklage wegen Kooperation mit der CIA vorbereitet. Wie um dieses zu widerlegen, präsentierte RIA Novosti am Sonnabend dann eine Videosequenz, in der Schoigu auch zu hören und im Kreise anderer hoher Militärs zu sehen ist. Also alles nur Gerüchte? Das Problem bei dem jüngst veröffentlichten Video: Vieles spricht dafür, dass es ebenfalls eine Konserve ist. Denn tatsächlich agiert dort ein sehr lebendiger Schoigu und verkündet seinen Untergebenen, dass die „vorzeitige Lieferung von Waffen und Ausrüstung“ fortgesetzt werde und die Priorität auf Langstreckenwaffen, Flugzeugausrüstung und der Aufrechterhaltung besagter Einsatzbereitschaft der strategischen Nuklearstreitkräfte liege.

Hier scheint insbesondere der letzte Hinweis belegen zu sollen, dass der Mitschnitt aktuell ist – die Bereitschaftsmitteilung allerdings war bereits am 1. März erfolgt. Da im aktuellen Video jeder Hinweis auf den aktuellen Verlauf des Krieges fehlt, kann folglich auch dieser angebliche Lebensbeweis aus der Konserve stammen.

Ein Zivilschützer als oberster Kriegsherr

Verwundern würde es die Nachrichtendienste des Westens nicht, wenn Schoigu bereits in irgendeiner Kremlkammer verschwunden wäre. Denn der Mann, der sich gern militärisch gibt, seine Brust mit der üblichen Ordensflut behängt hat und zudem den Dienstgrad eines Armeegenerals bekleidet, ist nicht nur ein Altbestand aus Jelzins Zeiten – er hat auch nie irgendeine Militärakademie besucht. Sein Weg an die Spitze des Verteidigungsministeriums führte den gelernten Bauingenieur über eine klassische Parteikarriere in der KPdSU und der Putin-Partei „Einiges Russland“ in den Zivilschutz.

Lange, bevor an Wladimir Putin überhaupt zu denken war, zog Schoigu am 31. Januar 1994 in den Nationalen Sicherheitsrat ein und wurde am 20. November desselben Jahres Chef des Ministeriums für Zivilverteidigung, Notstandssituationen und die Beseitigung der Folgen von Naturkatastrophen. Schoigu machte sich einen Namen und bei den Russen beliebt. Als Dank für seine Unterstützung Putins beim Übergang von Jelzin auf dessen Nachfolger bekam der Zivilschützer ohne Militärkarriere und Offiziersausbildung 2003 die Beförderung zum Armeegeneral.

Am 6. November 2012 machte Putin den Bauingenieur im Generalsrang zum Verteidigungsminister – ein Job, in dem Schoigu aufzugehen schien und seine Beliebtheit bei den Russen durch mehr oder weniger erfolgreiche Aktionen wie der Besetzung der Krim weiter steigern konnte. Insofern oblag ihm nun auch Planung und Durchführung des Ukraine-Überfalls – mit Ergebnissen, die Putin alles andere als glücklich machen.

Unruhe in der Truppe und verblendete Aktivisten

Spekulationen kamen auf, dass der Mann sich berufen fühlte, das russische Volk zu schützen und es nicht einem atomaren Gegenschlag auszusetzen, nun versucht sein könnte, Putins Allmacht ebenso wie das Ukraine-Abenteuer zu beenden. Gleichzeitig folgten in der versagenden Armee jene nicht unübliche Befehlshaber-Rotationen und Generals-Absetzung. Wie TE aus Moskau erfahren hat, soll dabei vor allem die auch durch westliche Dienste bestätigte Zunahme von Meuterei bei den Invasionstruppen eine Rolle spielen, bei der die Unzufriedenheit mit Aufgabe und Verlauf oftmals dazu führt, dass die durch das russische Militärsystem verrohten Soldaten sich gegen ihre eigenen Offiziere wenden. Vor allem aber sollen zunehmend Nationalgardisten den Dienst in der Ukraine verweigern. Die Elitesoldaten begründen das damit, dass sie ausschließlich für den Dienst innerhalb der Grenzen Russlands rekrutiert wurden – nicht für Auslandseinsätze gegen ein Brudervolk. Zumindest in diesen Kreisen scheint man sich keinerlei Illusionen mehr hinzugeben.

Trotzdem wirkt Putins Propaganda. Nach wie vor melden sich Freiwillige, die in der Ukraine an der Befreiung Mütterchen Russlands von den Nationalisten und Faschisten mitwirken wollen. Afghanistan-Veteranen allerdings sollen um die Rekrutierungsbüros einen großen Bogen machen. Ihnen steckt der Partisanenkrieg bis heute in den Knochen.

Anders der indoktrinierte Nachwuchs: Die „Putinjugend“ der Partei mit der Bezeichnung „Naschi“ (Wir!) ruft in gänzlicher Verkennung der realen Situation sogar die Ukrainer selbst zum „antifaschistischen Widerstand“ auf und zielt damit nicht auf die faschistischen Herren im Kreml, sondern gegen die demokratisch gewählte Regierung in Kiew und deren Soldaten. Für sie wie offenbar auch eine Mehrheit der Bevölkerung gilt die Ukraine als „abtrünniges“ Inland, welches zurückzuholen und die antirussischen Nationalisten zu vernichten eine heilige Aufgabe ist.

Hoffen auf neues Kanonenfutter

Ihre Hoffnung setzt die Führung im Kreml – ob mit oder ohne Schoigu und dessen Oberbefehlshaber Waleri Gerassimow, der ebenfalls von der Bildfläche verschwunden war und nun erstmals wieder in dem Samstag-Video aufgetaucht ist – gegenwärtig auf den 4. April. An diesem Tag sollen bis zu 300.000 frische Rekruten in die Kasernen einrücken, wodurch die Älteren frei werden, um an der „Spezialoperation“ teilzunehmen.

Ob es Putin allerdings damit gelingen kann, die Initiative am Boden wieder an seine Invasoren zu bringen, darf durchaus hinterfragt werden. Insofern scheint manches darauf hinzudeuten, dass der Kreml begonnen hat, auch über eine Exit-Strategie nachzudenken. Die könnte so aussehen, dass sich Russland den Süden und Osten greifen und im Rest der Ukraine möglichst viel verbrannte Erde hinterlassen will. Bislang allerdings weist die Ukraine jedwede Gebietsabtretung vehement zurück. Und ob eine solche, wenn sie denn herbeigebombt würde, tatsächlich Bestand hätte, darf ohnehin hinterfragt werden. Denn die Zeiten, in denen der Stärkere den Schwächeren vergewaltigt und ihm mit höchstem Segen seinen Willen aufzwingt, sind zumindest nach dem Mehrheitsverständnis der Regierungen dieses Planeten vorbei.

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