Tichys Einblick
Von der Genese eines Begriffs

Klassenfeind – Faschist – Nazi

Wer andere Menschen zu Nazis erklärt, der erklärt diese im Sinne Lenins auch heute unverändert zu Feinden der internationalen Arbeiterklasse und erklärt sie nicht nur als Metapher in einer entmenschlichten, politischen Debatte, sondern tatsächlich für vogelfrei.

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Sprache ist Kampfinstrument. Diese Erkenntnis prägt vor allem die Revolution der internationalistischen Sozialisten. Durch das Prägen und Besetzen von Wörtern auf der einen, der inhaltlichen Umfunktionierung von Begriffen auf der anderen Seite soll das ideologische Ziel vorangebracht werden. Dabei gilt es, durch Wortneuschöpfungen Erkenntnis- und Verhaltensmarken zu setzen und durch die Neubesetzung positiv im Bewusstsein der umzustrukturierenden Massen verankerter Begriffe den gesellschaftlichen Umbau zu verschleiern, ihn als scheinbar evolutionäre und damit selbstverständliche Entwicklung erscheinen zu lassen.

Der Klassenfeind

Eine der politisch relevantesten Neuschöpfungen der internationalistischen Sozialisten ist das Wort „Klassenfeind“. Als im heutigen Verständnissinn rassistische Ausgrenzung einer durch den Sozialisten zu erkennenden und zu vernichtenden Menschengruppe dient diese Bezeichnung seit dem 19. Jahrhundert als Kampfbegriff im Verständnis der kollektivistisch-totalitären Visionäre des Kollektivismus dazu, missliebige Personenkreise zu definieren, welche aus dem Volkskollektiv, alternativ: „Volkskörper“, als ebenfalls Wortschöpfungen des 19. Jahrhunderts, wobei letzterer im 20. Jahrhundert vorrangig von nationalistischen Sozialisten okkupiert und im Sinne der anti-judaistischen Rasseideologie zum ausgrenzenden Kampfbegriff wurde, zu entfernen seien.

Der Klassenfeind-Begriff prägte maßgeblich die Machtusurpation des Russischen Reichs in der Folge des verlorenen Krieges gegen das Deutsche Reich. Am 8. September 1918 erließ der sogenannte „Rat der Volkskommissare“ ein „Dekret über den Roten Terror“. Dieses Dekret forderte die Revolutionäre auf, den Klassenfeind in wörtlich so genannten Konzentrationslagern – ebenfalls eine Erfindung internationalistischer Sozialisten, später von den nationalistischen Sozialisten in ihrem Sinne perfektioniert – zu separieren, um sie dort zu vernichten.

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Anders als im heutigen Massenverständnis wahrgenommen, ist der Begriff „Terror“ für Lenin und seine Bolschewisten sowie deren Anhängerschaft nicht negativ besetzt. Der Usurpator, der mit einem als „Oktoberrevolution“ in seinem Sinne positiv bezeichneten Staatsstreich die Macht im bürgerlich regierten Russland ergriffen hatte, bezog sich mit dem Terror-Begriff auf die Auswüchse der Französischen Revolution. Terror als im Sinne der angeblichen Revolution legitimierter Massenmord an den Gegnern der Machtokkupation sollte tatsächlich im lateinischen Sinne des Wortes systematisch Schrecken über die zu unterwerfende Bevölkerung bringen, mögliche Widerständler oder auch nur das Schreckensregime passiv ablehnende Bürger gefügig machen, sich den neuen Herren zu unterwerfen. Lenin lehnte sich mit seinem Roten Terror an die Aussage des Franzosen Robespierre an, der am 5. Februar 1794 festgestellt hatte: „Terror ist nichts anderes als rasche, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Er ist eine Offenbarung der Tugend. Der Terror ist nicht ein besonderes Prinzip der Demokratie, sondern er ergibt sich aus ihren Grundsätzen, welche dem Vaterland als dringendste Sorge am Herzen liegen müssen.“

Der russische Terrorist Lenin betrachtete den Staatsterror als unverzichtbares Instrument, um „Großes, Unvergängliches und Unvergessliches vollbringen“ zu können. Er dokumentierte mit dieser Aussage die psychopatische Hybris seines Denkens, das offenbar allen Ernstes davon überzeugt war, in einer Welt der Vergänglichkeit etwas „Unvergängliches“ schaffen zu können.

In dieser Selbstüberschätzung bezeichnete es der Rat der Volkskommissare als „absolut lebensnotwendig“, den bolschewistischen Terrorapparat der Tscheka (Abkürzung der in der Übersetzung „Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“ lautenden Bezeichnung für den 1917 gegründeten, sogenannten Staatssicherheitsdienst der sozialistischen Usurpatoren) zu stärken mit dem Ziel, „die Klassenfeinde der Sowjetrepublik in Konzentrationslagern zu isolieren und so die Republik gegen sie zu schützen; jeden, der in weißgardistische Organisationen, in Verschwörungen, Aufstände und Erhebungen verwickelt ist, auf der Stelle zu erschießen, die Namen der Erschossenen mit Angabe des Erschießungsgrundes zu veröffentlichen.“

„Klassenfeind“ war somit jeder, dem die Usurpatoren unterstellten, nicht hinter den Zielen der vorgeblich revolutionären Kämpfer zu stehen. Im postzaristischen Russland traf es zuerst die Vertreter der bürgerlichen „Konstitutionell-demokratischen Partei“, auch „Kadettenpartei“ genannt, sowie streikende Arbeiter und „renitente Bauern“ – folglich mit Ausnahme jener „Kadetten“, die nach der tatsächlichen russischen Revolution des Februars 1917 mit dem Fürsten Lwow den ersten russischen Ministerpräsidenten mit demokratischer Legitimation gestellt hatten, vorrangig jene „Klasse“, die zu vertreten der Marxismus vorgab.

Lenin selbst gab die Befehle zum Massenmord an jenen Vertretern der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums. So ordnete er beispielsweise angesichts einer befürchteten Niederlage der Bolschewiken im Kampf um die Stadt Nischni-Nowgorod am 9. August 1918 an, „den Massenterror sofort einführen, Hunderte von Prostituierten, die Soldaten zum Suff verführen, ehemalige Offiziere u.a. (zu) erschießen und ab(zu)transportieren“. Gleichen Tages erging von ihm ein weiterer Befehl, der sich gezielt gegen Bauern, den Klerus und jene republikanischen Einheiten richtete, die sich der Machtokkupation durch die Kommunisten zu widersetzen wagten: „Der gnadenlose Massenterror gegen Kulaken, Popen und Weißgardisten ist durchzuführen; zwielichtige Elemente sind in ein Konzentrationslager außerhalb der Stadt einzusperren.“

Da die Konzentrationslager offenbar schnell an die Grenzen ihrer Kapazitäten gelangten und der Widerstand gegen die Machtübernahme trotz des Terrors größer war als erwartet, wurde am 22. August aus dem Einsperrbefehl ein Mordauftrag. Lenin befahl nun, „die Verschwörer und Schwankenden zu erschießen, ohne um Erlaubnis zu bitten und den idiotischen Amtsschlendrian zuzulassen“. Somit ging es nicht mehr nur um jene Personenkreise, die offenen Widerstand gegen die Sozialisten leisteten, sondern faktisch konnte jeder Russe, dem nicht absolute Treue zu den neuen Machthabern unterstellt wurde, als „Schwankender“ ohne Gerichtsverhandlung ermordet werden.

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Wie viele Menschen dem Massenmörder Lenin und dessen Handlanger Feliks Dserschinski als Leiter der Tscheka zum Opfer fielen, ist bis heute umstritten und auch deshalb nicht mehr konkret nachzuvollziehen, da Lenin 1922 mit der Umstrukturierung der Tscheka in den Militärgeheimdienst GPU (Akronym, übersetzt als „Vereinigte staatliche politische Verwaltung“) das Archiv vernichten ließ. Allein für den Zeitraum bis zur offiziellen Auflösung der Tscheka wird die Opferzahl auf eine Million geschätzt – zu verantworten durch einen Apparat, der von 600 Mitarbeitern im März 1918 auf 280.000 Mitarbeiter im Jahr 1921 angewachsen war. Lenin selbst allerdings sprach bereits 1918 von allein bis zu drei Millionen „Kulaken“ als nicht kollektivierten Bauern, mit denen entsprechend zu verfahren sei. Dabei sind die zaristischen Offiziere sowie die russischen Soldaten, die als „Weiße“ gegen die Machtusurpation kämpften, der Adel, das Bürgertum und die Sozialdemokraten, die ebenfalls den Sozialisten im Weg standen, nicht berücksichtigt.

Lenin legte mit seinem Staatsterror den Grundstein für den Kampf seines Nachfolgers Stalin gegen das eigene Volk. Bis 1933 erstreckte er sich nun auch auf die nicht zur Zwangskollektivierung bereiten Kleinbauern und sogenannte „Konterrevolutionäre“ (Sammelbezeichnung für jeden, der sich dem Roten Terror nicht widerstandslos unterwarf). Stalin wandelte 1936 die Staatsdoktrin des „Roten Terror“ in den „Großen Terror“ (Bolschoj Terror). Dieser richtete sich nun faktisch gegen jeden, organisierte im angestrebten Arbeiter- und Bauernparadies der russischen Räterepublik eine Gesellschaft von psychopathologisch Paranoiden und machte im Kampf um die Macht auch vor früheren Weggefährten und Wegbereitern Stalins nicht halt.

Auch hier sind die Opferzahlen des staatlich organisierten Massenmordes nicht konkret zu beziffern. Es gibt jedoch Belege dafür, dass allein in den 16 Monaten zwischen Juli 1937 und November 1938 1,5 Millionen Menschen verhaftet wurden, von denen rund die Hälfte ermordet wurde, während der Rest in den nun als „Gulag“ bezeichneten Konzentrationslagern der „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien“ verschwanden.

Der Faschist

Während in dem sowjetrussischen Imperium mit der Bezeichnung UdSSR der „Kampf gegen den Klassenfeind und den Konterrevolutionär“ gekämpft wurde, beschäftigte die aus Moskau gelenkte internationale Abteilung der Kommunisten als Kommunistische Internationale („Komintern“) die Entwicklung in Westeuropa.

Dort hatte in Italien 1919 der ursprünglich sozialistisch geprägte Benito Mussolini eine Bewegung mit der Bezeichnung „Fasci italiani di combattimento“ (deutsch sinngemäß: Italienisches Bündnis des Kampfes) aus der Taufe gehoben. Diese Bewegung des „Faschismus“ orientierte sich ebenfalls am kollektivistischen Weltbild der Sozialisten und suchte den bürgerlichen Parlamentarismus durch ein bündlerisches Rätesystem, ähnlich dem der frühen Sowjetunion, zu ersetzen. Diese „Bünde“ gaben der Bewegung unter dem vom Fascia abgeleiteten Schlagwort „Fasci“ als Synonym für „Verbindungen“ den Namen und können als Vorläuferidee der seit der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts propagierten „Zivilgesellschaft“ aus nicht-parlamentarisch legitimierten Gruppierungen mit der Bezeichnung „Nichtregierungsorganisationen“ (englisch abgekürzt „NGO“ – NonGouvernmentalOrganizatons) betrachtet werden.

Anders als die marxistische Ausrichtung jedoch stellte die faschistische Bewegung nicht die imperialistische Vorstellung eines internationalen Weltkollektivismus der Gleichen in den Vordergrund, sondern legte ihren Schwerpunkt auf die Nation – für die Internationalisten insofern ein Rückfall in die präsozialistische Phase der bürgerlichen Republik, welche sie als eine der Hauptursachen des Krieges von 1914 bis 1918 auszumachen meinten und die sie als Unterdrückungsinstrument des Klassenfeindes begriffen.

Verharmlosung des Totalitären
„Stalins geistige Groß-Neffen sind unter uns“
Die Beschäftigung der internationalistischen Kollektivisten mit den ihnen in der sozialistischen Idee geistesverwandten nationalen Kollektivisten rückte mit der Ernennung Mussolinis zum Ministerpräsidenten Italiens durch das Staatsoberhaupt König Victor Emmanuel III im Oktober 1922 über die nunmehr in „Partito Nazional Fascista“ umbenannte Bewegung in den Vordergrund. Es galt vorrangig, den Erfolg der nationalen Kollektivisten zu erklären und diesen gegenüber eine ideologische Abgrenzung finden zu können.

Der sozialistische Chefdenker Leo Trotzki sah in der nunmehr zur Abgrenzung vom internationalistischen Sozialismus als „Faschismus“ bezeichneten Staatsidee eine organisierte Bewegung des vom sozialen Abstieg bedrohten Kleinbürgertums, welche sich in Worten gegen das „rechte“ Großbürgertum und in Taten gegen die organisierte, „linke“ Arbeiterklasse richte. Zutreffend ist, dass die sozialistische Grundausrichtung der Faschisten ebenfalls gegen das Großbürgertum als Träger des Finanzkapitals zielte. Zutreffend ist weiterhin, dass das vom sozialen Abstieg bedrohte, proletarische Kleinbürgertum in den sozialistischen Verheißungen der Faschisten nach den Verwerfungen des Krieges eine seine Interessen vertretende Bewegung erkannte.

Der kommunistische Ideologe Antonio Gramsci schuf seine Interpretation des Faschismus „als Bewegung der bewaffneten Reaktion, die sich das Ziel stellt, die werktätige Klasse zu zersplittern und zu desorganisieren, um sie zu entwaffnen“. Gramsci orientierte sich als überzeugter Kommunist an der ideologischen Konfrontationsstellung gegen den Kapitalisten als Eigner der Produktionsmittel sowohl in der Industrie als auch im Bereich der Agrarwirtschaft, blendete jedoch die maßgebliche Rolle des kleinbürgerlichen Proletariats beim Erstarken der faschistischen Bewegung insofern aus, als er jene Werktätigen, die sich nicht der kommunistischen Idee anschlossen, gleichsam als vom Kapital korrumpierte, auf Irrwege geleitete Personen verstand. Dieser Auffassung entsprach der andauernde Konflikt zwischen systemüberwindenden Sozialisten und systemerhaltenen Sozialdemokraten, welch letztere durch die Kommunisten als „Sozialfaschisten“ diffamiert wurden.

Die bis heute das sozialistische Weltbild prägende Faschismus-Definition lieferte der Bulgare Georgi Dimitroff anlässlich des 13. Plenums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (Komintern) im Jahr 1933. Seinerzeit bereits mit Blick auf die in Deutschland in der Übernahme der totalen Macht stehende national-sozialistische Partei beschreibt die sogenannte „Dimitroff-These“ den Faschismus als „offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Es war somit eine in der Sache verwandte Antithese zu jener „Verschwörung des jüdischen Finanzkapitals“, die Hitler erkannt zu haben und deren Handlanger er in den internationalistischen Sozialisten zu erkennen meinte.

Am 2. August 1935 hielt Dimitroff auf dem 7. Weltkongress der Komintern eine Grundsatzrede zur Abgrenzung des internationalen Kollektivismus vom nationalen Kollektivismus, die für die kommunistische Ideologie bis heute Gültigkeit hat. Der spätere Diktator Bulgariens und Verantwortliche für die Ermordung von mindestens 2.730 Vertretern der bulgarischen Elite allein um den Jahreswechsel 1944/45 unterstrich die bereits anlässlich des 17. Parteitages der KPdSU von Stalin getroffene Feststellung der Schuld der Sozialdemokratie an der Machtergreifung der Faschisten durch die „Spaltung“ der Arbeiterklasse, verursacht durch die „Arbeitsgemeinschaft mit der Bourgeoisie“.

Die Abrechnung mit den sozialen Demokraten als Steigbügelhalter des Faschismus formulierte Dimitroff wie folgt: „Die Führer der Sozialdemokratie vertuschten und verhüllten vor den Massen den wirklichen Klassencharakter des Faschismus und riefen nicht zum Kampf gegen die immer schärferen reaktionären Maßnahmen der Bourgeoisie auf. Sie tragen die große historische Verantwortung dafür, dass im entscheidenden Moment der faschistischen Offensive ein bedeutender Teil der werktätigen Massen in Deutschland und einer Reihe anderer faschistischer Länder im Faschismus nicht das blutdürstige Raubtier des Finanzkapitals, seinen schlimmsten Feind erkannte, und dass diese Massen nicht zur Abwehr bereit waren.“

Sozialfaschismus
Die Sprachregelung von Josef Stalin wirkt immer noch
Seinen Schwerpunkt jedoch legte er auf die Trennung der beiden artverwandten, kollektivistischen Weltanschauungen. Der nationale Sozialismus musste als Faschismus im Sinne Gramscis ein Herrschaftsinstrument der herrschenden, kapitalistischen Klasse sein – eine spezielle Ausformung der durch den Kommunismus zu überwindenden Bourgeoisie, „die vor der Herstellung der Kampfeinheit der Arbeiterklasse Angst hat, vor der Revolution Angst hat und nicht mehr imstande ist, ihre Diktatur über die Massen mit den alten Methoden der bürgerlichen Demokratie und des Parlamentarismus aufrechtzuerhalten.“

Die sozialistischen Wurzeln der nunmehr als „faschistisch“ bezeichneten Bewegungen eines national-totalitären Kollektivismus erklärte der Bulgare als Mimikri der Bourgeoisie zum Zwecke des Machterhalts: „Es gelingt dem Faschismus, die Massen zu gewinnen, weil er in demagogischer Weise an ihre brennendsten Nöte und Bedürfnisse appelliert. Der Faschismus entfacht nicht nur die in den Massen tief verwurzelten Vorurteile, sondern er spekuliert auch mit den besten Empfindungen der Massen, ihrem Gerechtigkeitsgefühl und mitunter sogar ihren revolutionären Traditionen. Warum spielen sich die deutschen Faschisten, diese Lakaien der Großbourgeoisie und Todfeinde des Sozialismus, vor den Massen als Sozialisten auf und stellen ihren Machtantritt als Revolution hin? Weil sie bestrebt sind, den Glauben an die Revolution, den Drang zum Sozialismus auszunutzen, der in den Herzen der breiten werktätigen Massen Deutschlands lebt. Der Faschismus handelt im Interesse der extremen Imperialisten, aber vor den Massen tritt er unter der Maske des Beschützers der beleidigten Nation auf und appelliert an das gekränkte Nationalgefühl, wie z.B. der deutsche Faschismus, der die Massen mit der Losung ‚Gegen Versailles!‘ mit sich riss. Der Faschismus erstrebt die zügelloseste Ausbeutung der Massen, tritt aber mit einer raffinierten antikapitalistischen Demagogie an sie heran, macht sich den tiefen Hass der Werktätigen gegen die räuberische Bourgeoisie, gegen die Banken, die Trusts und die Finanzmagnaten zunutze und stellt Losungen auf, die im gegebenen Moment für die politisch unreifen Massen die verlockendsten sind.“

Dimitroff definierte in diesem Zusammenhang das bis heute für jeden Kommunisten, und mag er sich noch so scheinbar bürgerlich geben, verbindliche Ziel der Abschaffung der parlamentarischen Demokratie: „Der Machtantritt des Faschismus ist keine einfache Ersetzung der einen bürgerlichen Regierung durch eine andere, sondern eine Ablösung der einen Staatsform der Klassenherrschaft der Bourgeoisie – der bürgerlichen Demokratie – durch eine andere Form – durch die offene terroristische Diktatur.“ Der pluralistische, repräsentative Parlamentarismus als Perfektion einer freiheitlich-bürgerlichen Organisation für den modernen Massenstaat bleibt damit in der sozialistischen Ideologie das um jeden Preis abzuschaffende Instrument des Finanzkapitals zur Unterdrückung der arbeitenden Massen.

Der Nazi

Die herablassende bis verniedlichende Wortschöpfung „Nazi“ entspricht als Pendant der bereits früher eingeführten Bezeichnung „Sozi“ für Anhänger des internationalistischen Sozialismus. Die ~zi-Endung macht dabei im Gegensatz zu bürgerlichen Politik- und Gesellschaftsauffassungen die ideologisch-radikale Ausrichtung der Bezeichneten deutlich: Weder kennt die politische Sprache einen „Konsi“ oder einen „Libi“ für die beiden Hauptrichtungen des bürgerlich-politischen Pragmatismus, noch einen „Parli“ für einen Vertreter der Parlamentarischen Demokratie.

Anfänglich sogar vom NS-Propagandaexperten Joseph Goebbels selbst genutzt, wurde der „Nazi“ insbesondere im angelsächsischen Sprachraum die gängige Bezeichnung für einen Deutschen, der der national-sozialistischen Weltanschauung anhing. Die Nazi-Welle schwappte insofern nach dem Untergang der NS-Diktatur mit den Protektoratsmächten massiv über den Atlantik. Diese sprachliche Nazi-Inflationierung, die mit der politischen Ent-Nazifizierung einherging, bot den deutschen Kriegsverlierern eine zunehmend gern wahrgenommene Möglichkeit der inhaltlichen und sachlichen Distanzierung von ihrer Mitverantwortung an den Verbrechen der nationalen Sozialisten. Die mediale Trivialisierung durch Inflationierung und der Versuch, die Mitverantwortung der Deutschen für die Phase von 1933 bis 1945 zu verschleiern, schuf durch die sprachliche Nazifizierung die Möglichkeit, die Handlungen eines kriminellen Regimes von einer deutschen Kollektivverantwortung zu trennen, indem zunehmend mehr die ausschließliche Alleinverantwortung einem nie existierenden Staat mit der Bezeichnung „Nazideutschland“ oder „Hitlerdeutschland“, und damit einhergehend den „Nazis“ oder dem „Hitlerregime“ statt den Deutschen zugewiesen wurde. Unter „Nazi“ konnte nun alles subsummiert werden, was als zivilisatorischer Bruch zwischen 1933 und 1945 von Deutschen, im Namen der Deutschen oder von deutschem Boden ausgehend aus der nachkriegsdeutschen Verantwortung genommen werden sollte. Der „Nazi“ kennzeichnet somit einen im moralischen Sinne absolut bösen, deutschen Undeutschen – oder, wie es Dimitroff in seinem Bemühen, das faschistoide Vorgehen sozialistischer Diktaturen vom entsprechenden Vorgehen der nationalen Sozialismus abzugrenzen, sagte:

„Der Faschismus ist die wütendste Offensive des Kapitals gegen die werktätigen Massen. Der Faschismus ist zügellosester Chauvinismus und Raubkrieg. Der Faschismus ist wütende Reaktion und Konterrevolution. Der Faschismus ist der schlimmste Feind der Arbeiterklasse und aller Werktätigen.“

Helds Ausblick – 3/2020
Faschismus-Vorwurf: Die neue Konjunktur der Verfemung
Die sozialistischen Ideologen taten sich aufgrund der sprachlichen Nähe des Nazi zum Sozi anfangs schwer, dem Trend der sprachlichen Nazi-Inflationierung zu folgen. Eine Zeitlang noch versuchten die internationalistischen Sozialisten, den „Nazi“ als Synonym für den bourgeoisen Klassenfeind aufgrund der nicht nur sprachlichen Nähe zum Sozialismus zu vermeiden und stattdessen den „Faschisten“ zum Begriffsstandard zu machen.

Je mehr jedoch der „Nazi“ in der umgangssprachlichen Verwendung das absolut Böse verkörperte, und je mehr es den „Sozis“ gelang, das Totalitarismusgebot ihrer Ideologie hinter scheindemokratischen Instrumentarien wie Räten und NGO zu verstecken, desto mehr bedienten auch sie sich des Nazi-Begriffs als Synonym nicht nur für die ihnen geistesverwandten, nationalen Sozialisten, sondern für jeden, der sich außerhalb des Bekenntnisses zur internationalistisch-sozialistischen Weltanschauung bewegt.

Wer „Nazi“ sagt, meint „Demokrat“

Die Begriffsgenese vom Klassenfeind über den Faschisten zum Nazi sollte sich sowohl für die sich der Verantwortung für die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 entziehenden bürgerlichen und sozialdemokratischen Kreise, als auch für die in ihrem totalitären Vorgehen weitgehend den Faschisten identischen Sozialisten als zunehmend hilfreich darstellen. Gleichwohl stehen faktisch immer noch zwei Begriffswelten hinter der scheinbar identischen Verwendung des „Nazi“.

Identifiziert der bürgerlich-demokratisch geprägte Mensch mit dem Begriff Nazi immer noch jene kriminellen Vertreter der kollektivistischen, national-sozialistischen Ideologie, so umfasst er für den internationalistischen Sozialisten das gesamte Spektrum der bürgerlichen Gesellschaft vom klassischen Sozialdemokraten über den Liberalen und den Konservativen bis hin zu eben jenen Geistesverwandten aus der Fraktion der nationalen Sozialisten.

Da dieser klassenkämpferische Wert des „Nazi“ als Instrument der Ausgrenzung und Entmenschlichung des gesamten, außerhalb der Ideologie des internationalistischen Kollektivismus stehenden Fraktion nunmehr den revolutionären Zweck der Überwindung der aus sozialistischer Sicht bürgerlichen und damit faschistischen, parlamentarischen Demokratie erfüllt, dient die inflationäre Verwendung des Begriffs durch die Sozialisten ebenso wie die gedankenlose Verwendung durch die bürgerlich-liberalen Kreise dem spätestens seit Lenin ausgegebenen Ziel der Liquidierung der bürgerlichen/bourgeoisen Gesellschaft.

Die im Sinne eines pluralistisch aufgebauten Herrschafts- und Partizipationsmodells der modernen, freiheitlichen Gesellschaft inhaltlich unverzichtbare Unterscheidung zwischen den nicht ideologischen Politik-Pragmatikern der Liberalen und Konservativen – in der Diktion der Sozialisten als „Bourgeoisie“ zusammengefasst – auf der einen, sowie Faschisten wie Nationalen Sozialisten als Variante des Kollektivismus auf der anderen Seite wird bis zur Unkenntlichkeit verwischt.

Teil 3 von 3 - Wiederkehr des Kulturpessimismus
Deutsche Kontinuität: gegen Freiheit und Marktwirtschaft
Damit stehen die revolutionären Internationalisten unmittelbar vor ihrem Ziel, die res publica als „öffentliche Angelegenheit“ ausschließlich unter ideologischen Aspekten gelten zu lassen. Der pluralistische Diskurs wird ersetzt durch das als „Haltung“ bezeichnete, ideologische Diktat einer einzig zulässigen, politischen Weltanschauung. Damit wird die gesellschaftliche Grundlage geschaffen, bürgerlich-demokratische Vorgänge im Bewusstsein der Massen als Instrumente des Faschismus zu diskreditieren, wie dieses jüngst anlässlich der demokratisch und parlamentarisch nicht zu beanstandenden Wahl eines anschließend zum Rücktritt gezwungenen Ministerpräsidenten aus dem bürgerlichen Lager zwecks Ersetzung desselben durch einen Vertreter des sozialistischen Lagers zu beobachten gewesen ist.

Dabei gilt, da im sozialistischen Lager zu keinem Zeitpunkt eine Abkehr von der Dimitroff-Doktrin erfolgt ist, nach wie vor, dass klassische Sozialdemokraten, Liberale und Konservative als Kollaborateure oder Vertreter des pluralistisch-demokratischen Bürgertums und Anhänger des repräsentativen Parlamentarismus – sprich: der Bourgeoisie – aus sozialistischer Sicht Klassen- und damit Menschenfeinde sind.

Wer heute „Nazi“ sagt, meint nicht mehr nur jenen Anhänger eines kriminellen, nationalen Sozialismus, sondern er meint „Demokrat“ auch dann, wenn ihm dieses nicht bewusst sein sollte.

Wer andere Menschen zu Nazis erklärt, der erklärt diese im Sinne Lenins auch heute zu Feinden der internationalen Arbeiterklasse und gibt sie nicht nur als Metapher in einer entmenschlichten, politischen Debatte, sondern tatsächlich für die eigene Anhängerschaft zum Abschuss frei.

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