Tichys Einblick
England und Schottland - eine alte Geschichte

Großbritannien – das gespaltene Königreich

Die zweite Maiwoche war im Vereinigten Königreich eine Woche der Wahlen. Die Schotten stimmten über die Besetzung ihres Landesparlaments ab, in England standen Kommunalwahlen sowie die Nachwahl eines Unterhausmandats an. Das Ergebnis überrascht – oder auch nicht. Und es zeigt: Das jüngst erst aus der EU ausgetretene Königreich ist tief gespalten – regional und politisch.

IMAGO / Panthermedia

Kann sich in England der britische Premierminister Boris Johnson eines ungebrochenen Zuspruchs erfreuen, so sieht es im Norden deutlich anders aus. Die Zeichen stehen auf Sturm aus Nordnordost, „Braveheart“ Nicola Sturgeon sucht die Konfrontation.

Die Neuwahlen des Jahres 2019 zum britischen Unterhaus

Bevor wir auf die aktuellen Ergebnisse der vergangenen Maiwoche schauen, ein kurzer Blick zurück. Im Dezember 2019 hatte Johnson nach der ewigen EU-Austritt-oder-auch-nicht-Hängepartie seiner Vorgängerin Theresa May Neuwahlen des Inselparlaments durchgesetzt. Das Ergebnis der Unterhauswahlen fiel seinerzeit fast ganz in seinem Sinne aus.

In England räumte Johnson mit seinen Tories bei den Wahlen 2019 förmlich ab. Mit einem Zugewinn von 49 Mandaten sitzen derzeit 345 englische Konservative im Unterhaus. Labour verlor 47 Sitze und ist nur noch mit 180 Engländern vertreten. Einen Sitz mussten die Liberaldemokraten abgeben. Sie verfügen nun über sieben Unterhaussitze. Hingegen einen Sitz gewannen die englischen Grünen, die damit erstmals im Unterhaus vertreten sind.

In Wales blieb Labour zwar mit 40,9 % stärkste Partei, musste jedoch auf Grund des Direktwahlsystems sechs seiner ursprünglich 28 Unterhaussitze an die Konservativen abgeben. Die kamen auf 36,1 % und nun 14 Sitze. Die restlichen vier Unterhaussitze der Waliser verteidigte Plaid Cymru, die national-sozialdemokratische Partei jener, die sich gern von London lossagen würden.

In Nordirland verloren die pro-englischen Protestanten der Ulster-Unionisten zwei Sitze, konnten jedoch mit acht Unterhausmandaten ihre führende Stellung knapp verteidigen. Die pro-irischen Katholiken der Sinn Fein verharrten bei sieben Sitzen. Gewinner waren die irisch-nationalen Sozialdemokraten mit erstmals zwei Sitzen und die pro-europäische Allianz der gemäßigten Protestanten mit einem Sitz.

In Schottland zeichnete sich bereits 2019 die künftige Entwicklung ab. Die SNP der schottischen Nationalisten kam auf 48 der 59 schottischen Unterhaussitze – sieben davon nahm sie Johnsons Tories ab, die nun nur noch sechs schottische Abgeordnete in ihren Reihen hatten. Förmlich gerupft wurde Labour: Von ursprünglich sieben Sitzen gingen sechs an die SNP – nun sitzt im Unterhaus nur noch ein schottischer Vertreter der ehemaligen Arbeiterpartei. Die verbleibenden vier Sitze konnten die mit der nordirischen Allianz kooperierenden Liberaldemokraten verteidigen.

Johnson konnte sich fast zufrieden zurücklehnen: Die Engländer und Waliser hatten seine EU-Austrittspolitik überzeugend bestätigt. Gleichwohl machten die Ergebnisse in Schottland und auf der irischen Insel deutlich: Der Bestand des Vereinigten Königreichs ist nicht in Stein gemeißelt.

Die englischen Kommunalwahlen 2021

Der sich bereits 2019 abzeichnende Trend sollte sich bei den englischen Kommunalwahlen 2021 manifestieren. Im traditionellen Kernland der Labour-Party im Nordosten Englands gingen zahlreiche Arbeiter von der roten Fahne und stimmten konservativ. Nach aktuellen Stand musste Labour In sieben Kommunalräten seine Führung an die Konservativen abgeben, die nun in zwölf Kommunalparlamenten den Lauf der Dinge bestimmen können. Zahlreiche Bürgermeisterposten werden von den Tories besetzt. Ein nachzuwählender Unterhaussitz wurde ebenfalls von den Tories erobert und Labour abgenommen. Lediglich in London konnte Labour die Verteidigung des Bürgermeisteramts durch ihren Vertreter Sadiq Khan feiern. In ihrer vergleichsweisen Bedeutungslosigkeit verharren hingegen die Liberaldemokraten, während sich die englischen Grünen über deutlich Zugewinne, jedoch ohne unmittelbare, politische Konsequenzen, freuen und bereits von einem „grünen Frühling“ sprechen.

Die schottische Parlamentswahl

Ganz anders die Ergebnisse in Schottland. Dort verfehlten die schottischen Nationalisten um die kämpferische Premierministerin Nicola Sturgeon bei leichten Gewinnen an absoluten Zahlen mit nur einem Sitz die absolute Mehrheit. 64 der 129 Sitze des Nationalparlaments in Edinburgh gingen an die Partei, die Schottland in die Unabhängigkeit von London und zurück in die Europäische Union führen will. Stark jedoch auch Johnsons Tories, die bei minimalen Verlusten mit nunmehr 31 Sitzen sogar einen hinzugewinnen konnten. Verlierer ist auch in Schottland Labour. Die Unterhaus-Opposition kam im Parlament in Edinburgh dennoch auf 22 Sitze.
Sturgeon reklamierte umgehend den Sieg für sich und erklärte, nunmehr ein zweites Referendum über die Loslösung von England auf den Weg bringen zu wollen. Sie setzt dabei auf die pro-europäischen, schottischen Grünen, die bei Zugewinn von zwei Sitzen nun mit acht Parlamentariern vertreten sind. Den zusammen 72 national-grünen Pro-EU-Separatisten stehen einschließlich der vier verbliebenen Abgeordneten der Liberaldemokraten nur 57 pro-britische Abgeordnete entgegen.

Sprengstoff für das Königreich

Boris Johnson steht nun vor einem Problem. Bereits bei der Abstimmung über den EU-Austritt hatten sich die Schotten mehrheitlich dagegen ausgesprochen. Die Mehrheit jener Volksvertreter im schottischen Landesparlament, die jenen einstmals mit Waffengewalt erzwungenen Beitritt der Clans zum britischen Königreich revidieren möchten, kann er nicht wegzaubern. Gleichwohl kann er es sich nicht erlauben, eine erneute Abstimmung über die Unabhängigkeit der Schotten durchgehen zu lassen.

Die Londoner Zentralregierung vertritt die Auffassung, dass derartige Loslösungen vom Vereinigten Königreich, weil eine Verfassungsfrage, ausschließlich Angelegenheit des Gesamtparlaments in London seien. Die SNP hingegen beharrt auf ihrer Position, dass die Entscheidung über ihre Staatsform ausschließlich eine Angelegenheit der Schotten sei. Um diesen Konflikt zu befrieden, hatten sich der damalige britische Premierminister David Cameron und die SNP auf ein von London genehmigtes, einmaliges Referendum am 18. September 2014 geeinigt. Die einzige Frage dieses Referendums lautete: „Do you agree that Scotland should be an independent country?“

Das Ergebnis fiel gegen die Separatisten aus: 44,82 % der Abstimmenden sprachen sich für die Unabhängigkeit aus, 55,18 % dagegen. Damit schien das Thema vom Tisch – nicht allerdings für Sturgeon und ihre Scottish National Party. Als, ausgehend von England, die Brexit-Pläne zunehmend Fahrt aufnahmen, erklärte sie für Schottland ihr politisches Ziel, bei diesem Brexit nicht mitzumachen und stattdessen einen schottischen Nationalstaat in die EU zu führen. Während nun Johnson jedoch eine erneute Abstimmung mit Hinweis darauf, dass diese Generation bereits darüber abgestimmt habe, kategorisch ablehnt, macht Sturgeon nun geltend, dass die Abstimmung von 2014 unter falschen Voraussetzungen stattgefunden habe. Ihr ist insofern durchaus zu folgen, als die Schotten seinerzeit davon ausgehen mussten, mit einem Austritt aus dem Vereinigten Königreich gleichzeitig die Mitgliedschaft in der EU zu verlieren. Die Brüsseler EU-Vertreter, die einen Domino-Effekt bei den EU-internen Regionalbestrebungen fürchteten, wurden seinerzeit nicht müde, genau diese Konsequenz zu betonen.

2014 und 2021 sind nicht vergleichbar

Diese Situation stellt sich nun, sieben Jahre und einen Brexit später, genau andersherum dar. Das Vereinigte Königsreich hat mit seiner englischen Mehrheit die Europäische Union verlassen. Damit sieht Sturgeon zutreffend eine gänzlich andere Situation als 2014 und geht davon aus, dass die Nordinsulaner nach einer Loslösung vom Vereinigten Königreich problemlos als Rest-Briten wieder in die EU aufgenommen werden.

Für Johnson wäre dieses allerdings aus vielerlei Gründen eine Katastrophe, die durch den Brexit eine völlig neue Dimension angenommen hat. Während eine schottische Unabhängigkeit unter dem gemeinsamen Dach der EU eher symbolischen Charakter und nur wenig Konsequenzen für die militärischen und wirtschaftlichen Verknüpfungen gehabt hätte, müsste ein EU-Schottland heute letztlich entgegen seiner ursprünglichen Aufgabe den Limes zu den Angelsachsen wieder hochziehen. Das Irland-Problem des Warenverkehrs zwischen einem EU- und einem Nicht-EU-Staat verlagerte sich in einem solchen Fall unmittelbar ins britische Kernland. Und auch die Frage, wie Nicht-EU-Land und NATO-Mitglied Klein-Britannien mit seinen Militärstützpunkten im separatistischen EU-Staat Schottland umgeht, stünde im Falle der Unabhängigkeit kaum lösbar auf der Agenda.

Ein schottischer Exit stellt die EU vor Probleme

Jenseits der britisch-internen Probleme muss jedoch auch offen bleiben, wie sich die EU zu einer Separation stellt. 2014, als es um eine Region innerhalb eine EU-Mitgliedslandes ging, waren die EU-Größen strikt dagegen. Zu groß die Gefahr, dass der Funke des Separatismus auf die zahlreichen EU-internen Separatismusbestrebungen bei Südtirolern über Sarden und Korsen bis hin zu Bretonen, Basken und Katalanen überspringen könnte.

Doch auch diese Situation stellt sich nun gänzlich anders dar. Ein EU-Mitglied Schottland könnte von manch einem nach wie vor Brexit-verschnupften EUrokraten als gerechte Strafe für die Engländer betrachtet werden. Auch wäre ein EU-Staat Schottland unter anderem bei Fischereirechten, Nordseeöl und Windkraft durchaus attraktiv.

Überaus ambivalent stellt sich die Situation in Schottland zudem mit Blick auf die irische Insel dar. Offiziell hat sich die Irische Republik als EU-Mitglied damit abgefunden, dass ein Teil der Insel Irland von den Engländern besetzt ist. Unter diesem Mantel des Offiziellen jedoch hat das Ziel, die gesamte „grüne“ Insel eines Tages wieder in einem geeinten Nationalstaat zusammenzuführen, nie seine Wirkkraft verloren. Vor allem die katholischen Nordiren, die sich, obgleich im Norden Mehrheit gegenüber den Nachkommen der im 18.Jahrhundert von der Krone dort angesiedelten Protestanten, sich niemals mit der englischen Besetzung abgefunden haben, sehen in der schottischen Entwicklung die Blaupause für die eigene Loslösung vom Vereinigten Königreich. Die Tatsache, dass den Ulster-Unionisten dieses durchaus bewusst ist, manifestierte sich nicht nur in deren Unterstützung der May-Regierung, sondern findet sein Ventil auch dann, wenn junge Protestanten in Belfast beharrlich daran arbeiten, den mühsam befriedeten Konflikt zu reanimieren. Dieser Konflikt allerdings ist ohnehin nach dem Brexit kaum noch unter der Decke des Karfreitagsabkommens zu halten. Die Unionisten sehen bereits in der künstlichen Zollgrenze in der irischen See mit dem Ziel, den Warenverkehr zwischen Nordirland und Republik zu gewährleisten, einen Schritt zur katholischen Machtübernahme. Für die irischen Katholiken hingegen ist jeder Angriff auf den Wegfall der inneririschen Grenze der unvermeidbare Casus Belli.

Viel Diplomatie und Vernunft sind gefragt

Für die EU-Strategen sind neben diesen großbritischen Konfliktfeldern nach wie vor auch sogenannte „innere Angelegenheiten“ der EU ein Grund, mit dem schottischen Separatismus sorgsam umzugehen. Steigt Schottland aus dem Königsreich aus und in die EU ein, könnte der Separatismus auch innerhalb der EU Schule machen. Der Hinweis darauf, dass die Voraussetzungen nach dem Brexit gänzlich andere sind, wird weder die Nachkommen der von den Franzosen gewaltsam übernommenen, korsischen Bauernrepublikaner noch die Kinder der 1919 durch Siegerdiktat an Italien gefallenen Tiroler oder die ohnehin ständig aufmüpfigen, iberischen Katalanen überzeugen.

So brodelt es nun auf der Europa vorgelagerten Inselgruppe, die einstmals Weltmacht Nummer Eins gewesen ist. Es ist ein großes Pulverfass mit vielen Lunten. Wer kräftig pustet oder wer vielleicht bei dem Versuch, sie auszutreten, am Ende erfolgreich sein wird, ist gänzlich offen. So wie eben auch die Frage, ob das Inselkönigreich dieses Jahrhundert unbeschadet überleben wird, oder ob sich der englische Imperialismus, der erst Waliser und dann Schotten und Iren eingemeindete, um sich anschließend die halbe Welt untertan zu machen, nun kontinuierlich auf seine angelsächsisch-normannischen Ursprungs-Grafschaften zurückschrumpft. Und welche Kollateralschäden bei einer solchen Entwicklung alle Beteiligten treffen – nicht nur auf der Insel.

Sicher ist nur: Die Welt wird in den kommenden Monaten ein diplomatisches Tauziehen mit allen Tricks und Kniffen erleben. Was dabei herauskommen wird, liegt derzeit maßgeblich in den Händen von Boris Johnson und Nicola Sturgeon. Politisches Schlitzohr trifft auf Überzeugungstäterin. Bei solchen Konstellationen ist alles möglich – von einer einvernehmlichen Lösung bis hin zum totalen Bruch. Dabei sollten alle Beteiligten nicht vergessen, dass der schottische Wunsch nach Unabhängigkeit zwar von einer Mehrheit geteilt wird, jedoch auch eine nicht zu übergehende, deutliche Minderheit diesen nicht teilt.

Die Spaltung der Bevölkerung geht eben nicht nur durch das Königreich – sie ist auch in den beiden Unruheländern Schottland und Nordirland unübersehbar.

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