Tichys Einblick

Erdogans desaströse Geldpolitik

Die türkische Lira verliert dramatisch an Wert, weite Teile der Bevölkerung und der Mittelschicht verarmen. Die Wirtschaftskrise droht Erdogans fast unumschränkte Macht zu unterminieren.

IMAGO / NurPhoto

Hire end Fire ist ein beliebtes Vorgehen, wenn es um Jobs in der Zentralbank der Türkei geht. Denn Präsidialdiktator Recep Tayyib Erdogan hat seine ganz besonderen Vorstellungen davon, wie das von ihm gekaperte Land Geldpolitik machen sollte. Für rationales Vorgehen ist da kein Platz – Hauptsache, die Politik steht im Einklang mit dem Koran. Und da die Zentralbanker zwar Muslime sind, aber dennoch spätestens nach ein paar Monaten Verantwortung ein wenig vom Geldgeschäft mitbekommen haben, müssen sie regelmäßig spätestens dann gehen, wenn sie es wagen, an der Zinsschraube drehen zu wollen. Denn Zinsen – da war sich Mohammed mit dem Verursacher der christlichen Welterklärung einig – sind des Teufels. Weil, so die scheinbar naheliegende Erklärung, sie immer gerade genau jene in unzulässigem Maße belasten, die doch angesichts ihr finanziellen Mangellage besonders wenig Möglichkeiten haben, Zinsen zu begleichen.

So steht nun für den Muslimbruder in Ankara fest: Das türkische Geldwesen kommt im islamischen Sinne am besten gänzlich ohne Zinsen aus. Und da laut Koran nur derjenige ein wirklicher Moslem ist, der sein Vermögen dem Chef des islamischen Kollektivs überantwortet, hatte sich Erdogan bereits im September 2018 zum Chef des staatlichen Vermögensfonds – und damit zum Herrn über die staatliche Geldpolitik der Türkei – gemacht. Seitdem befinden sich die türkischen Zentralbanker auf Schleudersitzen: Bereits vier der Chefs wurden von Erdogan seitdem vor die Tür gesetzt, weil sie nicht so wollten wie der Sultan des neoosmanischen Imperiums.
2018 hatte Erdogan ganz im Sinne des byzantinisch-orientalischen Nepotismus noch auf seinen Schwiegersohn Berat Albayrak als jenen gesetzt, der für ihn als Finanzminister den staatlichen Umgang mit dem Zinsgeschäft verwalten sollte. Der hatte sein Geschäft in den USA gelernt – und zog nach ziemlich genau zwei Jahren die persönliche Notbremse. Um nicht im Strudel der von seinem Schwiegervater verursachten Geldkrise zu versinken, warf er dem Vater seiner Gattin Esra den Job am 8. November 2020 vor die Füße. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte die türkische Lira unter Albayrak kräftig an Wert verloren. Mussten Erdogans Untertanen im November 2018 noch sechs Lira für einen Euro hinlegen, so waren es bei Albayraks Abdankung bereits fast zehn.

Danach schien es, als könne sich die Lira sogar ein wenig erholen: Im Februar 2021 schien ein Wechselkurs von acht Lira je Euro in erreichbare Nähe zu rücken. Doch es dauerte nur drei Monate, bis die Lira sogar deutlich über die Zehnermarke kletterte – im Oktober dann, der Euro kostete bereits knapp weniger als 10,50 Lira, durchschlug Erdogan erneut den islamischen Finanzknoten. Weil seine Zentralbanker der mit aktuell über 16 Prozent hohen Inflation mit Zinserhöhungen begegnen wollten, dürfen sich nun drei der Führungskräfte einen neuen Job suchen. Bankpräsident Şahap Kavcıoğlu konnte zwar seinen Kopf gerade noch aus der Schlinge ziehen, indem er sich des Präsidialdiktators Vorstellungen unterwarf, doch gilt auch dieses Verhältnis bereits als nachhaltig gestört.

Nicht das Volk durch hohe Zinsen zermürben?

Weil Erdogan der Rausschmiss allein nicht werbewirksam genug war, verkündete er im November dann noch: „Der Leitzins wird sinken. Wir werden nicht zulassen, dass hohe Zinsen unser Volk und unsere Bauern zermürben!“
Volk und Bauern Anatoliens sind allerdings bereits zermürbt genug. Wiederholt hatte Erdogan in der Vergangenheit an seine Patrioten appelliert, ihre Devisen aus den Stuben der Zinswucherer der Ungläubigen gegen die glaubensgerechte Landeswährung zu tauschen. Nicht wenige folgten diesen Aufrufen und durften anschließend zusehen, wie ihr kleines Vermögen mit Währungskurs und Inflation entschwand.

Da der oberste Herr des Landes – Patriotismus seiner Untergebenen hin oder her – nun jedoch befürchtete, dass manch einer der Zermürbten angesichts der erratischen Geldpolitik schnell noch versuchen könnte, seine Sturzflug-Lira doch besser gegen die härteren Währungen der Ungläubigen zu tauschen, verknüpfte Erdogan seine Personalpolitik mit dem Erlass, dass ab sofort jedes noch so kleine Devisengeschäft mit dem Nachweis des Lira-Veräußerers und dem getauschten Betrag gemeldet werden müsse. Zuvor durfte bis zum Gegenwert von 3.000 US-Dollar unkontrolliert Fremdwährung eingekauft werden – was manch einen Lira-Flüchtling veranlasst haben soll, umfangreiche Wechselstubenreisen vorzunehmen.

Der Entwertungsbooster im wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg

Erdogan ahnte offensichtlich, was sein erneuter Präsidialeingriff in das türkische Geldwesen für Folgen haben werde. Die Lira, mittlerweile bereits auf einen Euro-Wechselkurs von 11,40 geklettert, nahm einen ersten Anlauf, der den Kurs innerhalb nur einer Woche auf eine neue Rekordmarke von fast 13 hochschnellen ließ. Als Erdogan dann am 22. November definitiv noch die Leitzinssenkung verkündete, kam das einem Entwertungsbooster gleich. Fast zwei Tage lang hing der Wechselkurs kurz unter der 15er-Marke, um sich zum Wochenschluss bei recht exakt 14 Lira je Euro einzupendeln.

So ist es ihm im Namen Mohammeds gelungen, sein ohnehin gebeuteltes Volk auch ohne zinsbedingte Zermürbung innerhalb weniger Tage um ein Drittel seines Geldvermögens zu bringen. Wen darf es da wundern, dass die Türken erstmals seit den brutal niedergeschlagenen Gezi-Protesten nun wieder in größerer Zahl auf die Straßen gingen, um ihren Unmut über den Staatschef zu äußern und dessen Rücktritt zu fordern. Der allerdings sieht sich selbst nach wie vor vom Segen Allahs beschienen und die Verursacher der Finanzkrise in ominösen „äußeren Mächten“. Sein Land befinde sich in einem „wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg“ – an der Zinssenkung werde es kein Rütteln geben.

Es trifft nicht mehr nur die Mittelschicht

So ist es nicht nur die türkische Mittelschicht, die von des Receps „Erdonomics“ in die Verarmung getrieben wird – es trifft mittlerweile die gesamte Wirtschaft Kleinasiens. So geht offenbar vor allem bei jenen Begüterten, die den Sirenengesängen Erdogans, ihr Gold und ihre Devisen in türkische Lira zu tauschen, nicht gefolgt sind, die Angst um, der zunehmend unter Druck geratene Diktator könne als nächstes einen Zwangsumtausch dekretieren. Das könnte erklären, weshalb die Türkische Zentralbank nun mitteilen musste, dass innerhalb von nur einer Woche fast eine Milliarde Dollar an Fremdwährungseinlagen verschwunden sind. Wer Dollar oder Euro auf der Bank hat, sieht zu, dass er sie unter das heimatliche Kanapee oder auf Auslandskonten bekommt, zu denen der Staatspräsident keinen Zugang hat.

Die Lira, ohnehin schon beständig unter Druck, wird zur Ramschware. Und zumindest eine jener von Erdogan beschworenen, äußeren Mächte bekennt sich nun auch dazu. Russland, dessen Verhältnis zur Türkei Dank Syrien und Armenien überaus volatil ist, hat seine Gazprom mitteilen lassen, dass ab sofort keinerlei Gas mehr auf Kredit an die Türkei geliefert werde. Den vor allem im harten, anatolischen Winter bitter benötigten Energieträger gibt es ab sofort nur noch gegen Vorkasse – und selbstverständlich nur gegen harte Devisen und nicht gegen türkische Lira, welche sich der kleine Diktator selbst in beliebiger Menge drucken könnte.

Wird aus einem kalten ein unruhiger Winter?

Angesichts dieser aktuellen Entwicklungen, die in besonderem Maße Erdogans treue Gefolgschaft treffen, könnte auf den Staatschef nicht nur ein kalter, sondern ein unruhiger Winter zukommen. Da mögen ihn am Ende auch die 10 Milliarden Dollar nicht retten, die die Vereinigten Arabischen Emirate angesichts der Geldkrise in der Türkei investieren wollen. Denn die Araber werden kein Frei-Cash an Ankara überweisen, sondern sich mit ihren Investitionen unter anderem in türkische Medien einkaufen und dauerhafte Hafenrechte am Schwarzen und am Mittelmeer sichern.
Gleichwohl: Dem radikalen Muslim Erdogan steht immer noch sein Allah zur Seite – und der hat den Hasardeur aus dem Kleinkriminellen-Milieu Istanbuls in der Vergangenheit bereits wiederholt gerettet. Meint zumindest der Präsident, weshalb er unbeirrt seinen Kurs der Ent-Atatürkisierung des postomanischen Reichs beibehält. Doch wer weiß: Vielleicht hört sogar bei Erdogans Allmächtigem eines Tages beim Geld die Freundschaft auf. Bei dem um seine Rücklagen gebrachten Volk zumindest scheint dieser Prozess kaum noch aufzuhalten zu sein.