Tichys Einblick
Die Causa Ukraine

Die perfide Logik von Krieg, der keiner ist – Teil 2

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts einigten sich die damals führenden Staaten und Imperien auf das, was sie eine Landkriegsordnung nannten. Dabei definierten sie den Krieg als etwas, das zwischen souveränen Staaten eine Konfliktlösung mittels des Einsatzes regulärer, bewaffneter Kräfte herbeiführen sollte. - Teil 2 von 3.

Die Delegationen Russlands und der Ukraine am Verhandlungstisch im Dolmabahce-Palast in Istanbul, 29.3.2022

IMAGO / SNA
Was ist das, was in der Ukraine geschieht? Krieg, Angriffskrieg, militärische Spezialoperation – oder etwas gänzlich anderes?

Der Augenschein mag den Eindruck eines klassischen Krieges vermitteln. Russische Militäreinheiten – also mit mörderischem Militärgerät ausgestattete Menschen unter Befehl staatlicher Organe – sind auf ukrainischen Boden vorgerückt und vollziehen dort nicht nur einen Feldzug gegen die Infrastruktur, sondern auch gegen die Bevölkerung. Die russische Führung verbreitet das Narrativ, hier in einen sogenannten Bürgerkrieg einzugreifen: zugunsten einer vorgeblich geknechteten und von einem Völkermord bedrohten, russischen Bevölkerung gegen das, was Wladimir Putin wahlweise „Nationalisten“, „Faschisten“, „Nazis“, oder, in Anlehnung an einen im 20. Jahrhundert gegen Russland kämpfenden Ukrainer, „Banderovci“ nennt.

Zu jenen, die Widerstand leisten, gehören neben der regulären Armee und freiwilligen Söldnern auch jene Ukrainer, die als Zivilisten gegen die Invasoren kämpfen – und dieses unabhängig davon, ob sie in der regulären Armee organisiert sind oder als Bürgerwehren aktiv werden. Laut Haager Landkriegsordnung haben Letztere in einem Krieg Kombattantenstatus – bei einer „militärischen Spezialoperation“ allerdings könnten sie schnell als das wahrgenommen werden, was im Ersten Weltkrieg mit „Franctireurs“ oder Freikorps bezeichnet wurde.

Die Voraussetzungen eines Krieges

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts einigten sich die damals führenden Staaten und Imperien auf das, was sie eine Landkriegsordnung nannten. Dabei definierten sie den Krieg als etwas, das zwischen souveränen Staaten eine Konfliktlösung mittels des Einsatzes regulärer, bewaffneter Kräfte herbeiführen sollte. Ein solcher Krieg nach internationalem Völkerrecht konnte nur zwischen Staaten geführt werden – und er bedurfte einer offiziellen Kriegserklärung, was allerdings nicht nur Japaner und Deutsche in der Nachfolgezeit bei ihren Überfällen gelegentlich mit Vorsatz übersahen.

Bereits vor 1945 führte das internationale Recht deshalb den Begriff des Angriffskriegs ein. Ein solcher liegt demnach vor, wenn ein Staat angegriffen wird, ohne dass dieser zuvor aggressiv gewesen wäre. Zudem fehlt beim Angriffskrieg die Kriegserklärung. Mit anderen Worten: Es handelt sich bei einem „Angriffskrieg“ nicht tatsächlich um einen Krieg im völkerrechtlichen Sinne, sondern um einen durch nichts gerechtfertigten Überfall mit militärischen, somit kriegerischen Mitteln. Zudem ist die Definition eines „Angriffskriegs“ in sich problematisch, denn sie stellt eine einseitige, unveranlasste und unangekündigte Gewaltanwendung, die wir gemeinhin als kriminellen Akt aus niederen Beweggründen bezeichnen würden, auf dieselbe Ebene mit dem, was unter Nationen und im Völkerrecht als „zivilisierter“, vielleicht sogar als „gerechter“ Krieg gilt.

Es gibt keinen „zivilisierten“ Krieg

Unabhängig davon, inwieweit überhaupt Begriffe wie „zivilisiert“ oder „gerecht“ auf das, was das Völkerrecht Krieg nennt, zutreffend sein können, sollte unter tatsächlich zivilisierten Menschen Einigkeit bestehen: Ein Überfall kann niemals aus Notwehr heraus erfolgen. Er kann deshalb weder „zivilisiert“ noch „gerecht“ sein – gleich, was immer auch an fadenscheiniger Begründung vorgetragen werden mag. Der Überfall – und damit das, was fälschlich als Angriffskrieg bezeichnet wird – entspricht dem Verhalten einer unzivilisierten Schimpansenhorde, die grundlos in das Territorium der Nachbargruppe einfällt, um dort wahllos andere Schimpansen zu Tode zu quälen.

Es ist an dieser Stelle angemessen, ein Wort zu diesem Vergleich zu verlieren. Denn in der TE-Redaktion ist die Heranziehung des Schimpansen auf Vorbehalte gestoßen. Ursächlich war die in Generationen im kollektiven Bewusstsein verankerte, religiös veranlasste Vorstellung, der Mensch sei etwas Besonderes – etwas, das sich vom Tier maßgeblich und einzigartig unterscheide. Als „Krönung der Schöpfung“, wie die Autoren religiöser Werke sich selbst zu überhöhen suchten und damit sich zudem die Legitimation gaben, die „niederen“ Kreaturen nach Belieben auszubeuten und misshandeln zu dürfen, verbiete sich jeglicher Mensch-Tier-Vergleich.

Nun, ich hatte bereits vor einigen Jahren das unterschiedliche Verhalten von Pan troglodytes, dem „Gemeinen Schimpansen“, und Pan paniscus, dem „Bonobo“, als Analogie für menschlich-politisches Verhalten herangezogen. Damals wie heute gilt: Jenseits der Feststellung, dass philosophische Denkmodelle der Antike, die in kollektive Gruppenidentitäten mit der Bezeichnung Religion geführt haben, zwar immer noch dann eine gewisse Rechtfertigung haben mögen, wenn sie der Kreatur Mensch Regulative eines kooperativen Individualverhaltens in der Gruppe vermitteln, dürfen wir heute davon ausgehen, dass Homo nicht von dem Götterkollektiv der Alahijm aus einem Klumpen Lehm oder einer Rippe geformt wurde, sondern das Ergebnis eines langwierigen Evolutionsprozesses ist.

Die moderne Genbiologie hat nachgewiesen, dass die größte Verwandtschaft von Homo sapiens zu den beiden Arten des Pan besteht. In nur knapp 1,4 Prozent unterscheiden sich die Gencodes von Homo und Pan. Mensch und Schimpanse sind überaus enge Verwandte – und wenn wir dem Schimpansen ein „Mensch-sein“ absprechen, so kommen wir gleichwohl nicht umhin, dem Menschen sein „Tier-sein“ zuzusprechen. Der evolutionäre Entwicklungsunterschied ist marginal – und die Berechtigung, Verhaltensmuster unseres nächsten Verwandten als Vergleichsmöglichkeit zu menschlichem Verhalten heranzuziehen, ist insofern in jeglicher Hinsicht gerechtfertigt, ohne dabei den einzelnen Menschen etwa gar zu beleidigen. Oder vielleicht auch den Schimpansen in seinem Selbstverständnis zu kränken, sollten wir sein Verhalten an dem des Menschen messen wollen.

Das Verhalten einer Schimpansenhorde

Menschen – so sie sich denn tatsächlich als Krone der Schöpfung betrachten und sich nicht als nur geringfügig weiterentwickelte Schimpansen begreifen – sollten den animalischen Überfall auf Mitmenschen nebst deren Ermordung grundsätzlich aus ihrem Verhalten bannen. Tun sie es nicht, so liefern sie nicht nur den abschließenden Beweis, dass der aus der Bibel abgeleitete Krönungs-Anspruch ein fundamentaler, philosophischer Irrtum ist, sondern unterstreichen eben auch ihre überaus enge Verwandtschaft zu und nur marginale Weiterentwicklung gegenüber dem Schimpansen.

Wollen oder müssen wir dennoch akzeptieren, dass die unbelehrbare Menschheit als Horde eines Homo panensis über Nachbarn herfallen kann, um dortige Rohstoffe und Territorien zu erobern oder auch nur etwas Pseudoreal-Imaginäres wie eine „Ehre“ zu verteidigen, dann haben Völkerrecht und Landkriegsordnung zumindest den Versuch unternommen, das Verhalten des Homo panensis in irgendwelche „zivilisierten“ Bahnen zu lenken. Damit ist das, was als „Krieg“ zu bezeichnen wäre, den dort beschriebenen Regularien unterworfen. Zwar machen diese Regularien das Ermorden der Mitmenschen nicht tatsächlich zivilisierter, doch kann sich das geschundene Gewissen des Aggressors immerhin in eine Scheinberuhigung retten, hat er sich doch, so er sich an die scheinzivilisierten Regeln hält, nur begrenzt barbarisch verhalten.

Es gibt keinen Angriffskrieg

Im Ergebnis jedoch bleibt die Feststellung, dass der sogenannte „Angriffskrieg“ eben kein und vor allem kein zivilisierter Krieg ist, sondern ein barbarischer Überfall. Es kann dafür keine wie auch immer geartete Legitimation oder Rechtfertigung geben, und jedweder Versuch, einen solchen Überfall durch Regeln eines vorgeblich zivilisierten Vorgehens betrachten zu wollen, ist nichts als ein Versuch der selbstreferenzierenden Rechtfertigung des arteigenen Verhaltens eben jenes Homo panensis.

Derjenige, der einen „Angriffskrieg“ startet, kann im Verständnis des zivilisierten Homo sapiens nichts anderes sein als ein Verbrecher, ein Krimineller, der mit Vorsatz den Tod seiner Mitmenschen verursacht. Er ist dieses unabhängig davon, ob bei seinem Überfall möglicherweise zudem noch etwas festzustellen ist, was nach Kriegs- und Völkerrecht dann als „Kriegsverbrechen“ zu beurteilen wäre, wenn es sich um einen regulären Krieg handelte. Denn selbst nach archaischem Recht ist der Überfall auf einen Nachbarn, der Motiven wie der persönlichen Bereicherung oder gar einer imaginären, eingebildeten „Rache“ oder anderen Vorstellungen des Irrationalen dient, ein Verbrechen. Was wiederum bedeutet: Wer als Staatsführung die Menschen eines anderen Staates ohne Anlass und ohne Ankündigung überfällt oder überfallen lässt, ist nach allen denkbaren Kriterien ein Krimineller. Nichts anderes. Das war so, als Japaner 1905 Port Arthur und 1941 Hawaii überfielen. Das war so, als Deutsche 1914 in Belgien einmarschierten und ab 1938 ihre Nachbarn überfielen. Das ist so, seit am 24. Februar 2022 Russen zur Vergewaltigung der Ukraine ansetzten.

Rudimentäre Versuche von Scheinlegitimation

In der konkreten Situation dieses Überfalls russischer Armeeeinheiten auf die ukrainischen Nachbarn ist zudem bemerkenswert zu beobachten, wie die Personen, die diese Tat zu verantworten haben, zumindest rudimentär den Versuch unternehmen, eine Scheinlegitimation für ihr kriminelles Handeln zu konstruieren, dabei aber tunlichst selbst alles vermeiden, ihr kriminelles Handeln als Krieg annehmen zu lassen. War 1914 zumindest dem deutschen Kanzler Bethmann Hollweg bewusst, dass der Überfall auf Belgien ein Bruch des Völkerrechts war, so hat die Proletarisierung des Rechts bei gleichzeitigem Versuch einer propagandistischen Scheinlegitimation in den vergangenen 100 Jahren offensichtlich psychopathische Formen angenommen.

Die Perfidität dieser Versuche der Rechtfertigung des Kriminellen wird beispielsweise dann deutlich, wenn der durch den Vergewaltiger vollzogene Massenmord mit einem angeblich vollzogenen oder zumindest geplanten Genozid des Überfallenen begründet wird, der faktisch zu keinem Zeitpunkt stattgefunden hat und nie geplant gewesen ist, sondern lediglich auf Lügengeschichten von Terroristen beruht, die von den Aggressoren selbst persönlich zum Zwecke der Zersetzung eines souveränen Staatswesens installiert worden sind.

Ähnlich absurd sind Behauptungen, der Kriminelle, der den Überfall zu verantworten hat, täte dieses, um irgendwelche eingebildeten oder tatsächlich existierenden „Nationalisten“ und/oder „Faschisten“ zu eliminieren. Hierzu ist schlicht festzustellen: Sollte es tatsächlich solche „Elemente“ im überfallenen Staat geben und sollten sie eine reale Gefahr darstellen, ist es angesichts des Völkerrechts sowie der bestehenden Verträge zwischen den beteiligten Staaten ausschließlich Angelegenheit der dortigen staatlichen Organe, diese „Elemente“ für ihre Handlungen zur Verantwortung zu ziehen. Erst in dem Moment, wo solche „Elemente“ außerhalb des eigenen Staatsgebietes aktiv werden, hätte der davon Betroffene das Recht, gegen diese Gruppen auf seinem eigenen Staatsgebiet vorzugehen. Eine Staatsführung, die ansonsten größtmöglichen Wert darauf legt, dass sie sich jedwede Einmischung in ihre sogenannten „inneren Angelegenheiten“ verbietet, begründet zwangsläufig das eigene, verbrecherische Tun mit dem Moment, zu dem sie sich zur Ordnungsmacht in einem anderen souveränen Staat erhebt.

Der Faschist im Mantel des Antifaschisten

Im konkreten Fall der Scheinlegitimation eines Überfalls durch ein der kriminellen Handlung anzuklagendes Regime ist nun sogar jene Umkehrung des Tatsächlichen zu erkennen, die durch ein keiner konkreten Quelle zuzuordnendes, gleichwohl stets präsentes Zitat exakt transportiert wird. Es lautet: „Die Faschisten der Zukunft werden sich Antifaschisten nennen.“

Nicht nur die in den vergangenen zwanzig Jahren erfolgte Umwandlung eines auf dem holprigen Wege zur Demokratisierung befindlichen Russlands in einen totalitären Führerstaat – vor allem auch die offen rassistisch-nationalistische Hybris eines ethnorussischen Überlegenheits- und Herrschaftsanspruchs, aus dem eine kleine politische Elite ihre Binnenlegitimation konstruiert, mit der sie sich das vermeintliche Recht gibt, aus einem bestehenden Freundschaftsvertrag heraus einen unprovozierten Vernichtungskrieg gegen ein Nachbarland und Nachbarvolk zu führen, sind in ihrem Kern das, was gemeinhin als faschistisch bezeichnet wird. Putin beklagt in der Ukraine einen angeblichen Nationalismus, den er Faschismus nennt, und übernimmt damit die Erzählung der politischen Linken, die seit eh das Heil der Menschheit in einer internationalistisch-kommunistischen Weltdiktatur erkennt. Dabei begründet er seinen vorgeblichen Antifaschismus mit eben jenem vorgeblich naturgegebenen Führungs- und Herrschaftsanspruch des Russen, der selbst nichts anderes ist als die konstruierte Nationalidentität eines Völkergemisches aus Germanen, Slawen, Kaukasiern und Asiaten – gleichwohl ein klassisches Kollektiv mit Nationalcharakter, welches im Verständnis des Internationalisten nichts anderes als nationalistisch und somit faschistisch sein kann.

Das nun führt zu jener Verwirrung der politischen Linken außerhalb der Russischen Föderation, die in marxistisch-internationalistischer Nostalgie der UdSSR als real existierendes Modell des angestrebten Sozialismus nachtrauerten und sich in die Mär vom guten Mensch von Moskau zu retten suchten, nun jedoch vor dem Scherbenhaufen ihrer ideologischen Selbsttäuschung stehen, wenn sie erkennen, dass nicht erst der Putinismus nichts anderes ist als ein ethnorussisch-faschistischer Nationalismus, sondern auch die verklärte Union der Sozialistischen Räterepubliken nichts anderes gewesen ist als die Fortsetzung des ethnorussischen Großreichs der Zaren in der Camouflage des Marxismus. Der von der angeblich antifaschistischen Linken propagierte „Kampf gegen Rechts“ müsste sich, so er die Fähigkeit besäße, seine aus sozialistischer Sowjetnostalgie gespeiste Russophilie zu überwinden, vor allem anderen gegen jene Herrschaftsclique im Kreml wenden: Die Faschisten sitzen in diesem Konflikt nicht in Kiew, sondern in Moskau. Und er befindet sich in der Zwickmühle, die es vor allem den sozialdemokratischen Linksvisionären so unendlich schwer macht, sich der Realität zu stellen. Denn die angebliche Zeitenwende, die den außergewöhnlichen Zustand des weiblich konnotierten Friedens in den Normalzustand des männlich konnotierten Krieges zurückzwingt, bringt es zudem mit sich, in dem Überfallenen jemanden erkennen zu müssen, der seinen Widerstand gegen die verklärten Internationalisten Russlands aus der nationalen Identität der Ukraine schöpft. Der erträumte Heilsbringer wird zum Täter – der gedachte Menschheitsfeind zum Opfer, dem zu helfen die einzig menschliche und legitime Antwort auf eine illegitime Aggression sein kann.

Die Faschisten des Kreml wiederum sind sich der entsprechenden Fadenscheinigkeit und Unhaltbarkeit ihrer eigenen Argumentation durchaus bewusst, weshalb sie sich, um ihren Faschismus zum Antifaschismus umzudichten, des Basisdogmas jeglicher politischen Propaganda zu bedienen suchen, wonach eine Lüge zur Wahrheit werde, wenn man diese Lüge nur häufig genug wiederhole. Unabhängig davon, dass dieses allein schon deshalb nie der Fall sein kann, weil in der Logik der Wahrheit etwas Unwahres niemals wahr sein kann und die Protagonisten der Propagandalüge insofern eine von ihnen gewünschte Wirklichkeit der kollektiven Wahrnehmung vorsätzlich mit Wahrheit verwechseln, funktioniert die Propagandalüge nur so lange, wie sie nicht an den Tatsachen zerschellt.

Die versuchte Umkehr der Täter-Opfer-Rolle

Wenn nun der Sprecher des faschistischen Regimes zudem die toten Soldaten eines kriminellen Überfallkommandos zu Opfern zu stilisieren sucht, deren Tod eine „Tragödie“ sei, so ist diesem Zynismus kaum noch eine Krone aufzusetzen. Der Vergewaltiger beklagt sich nicht nur, dass sich das Opfer zu wehren wagt – er beweint zudem, dass das Opfer dem Täter in seiner legitimen Abwehr ernsthafte Wunden zugefügt hat. Perfider geht es nicht mehr: Der Täter, dessen kriminellen Handelns Widerstand entgegengesetzt wurde, ist das vermeintliche Opfer – und das Opfer wird zum Täter, welcher für seinen Widerstand in besonderem Maße bestraft werden müsse.

Diese Umkehr der Täter-Opfer-Rolle folgt gleichwohl einer systemimmanenten Logik, mit der die Kriminellen im Kreml bereits zu Beginn ihres Überfalls eine vorgebliche Bedrohung des von ihnen kontrollierten Staatswesens herbeifabuliert hatten. Das souveräne Recht eines unabhängigen Staates und seiner Bürger, sich zum Zwecke der Selbstverteidigung einem von ihm gewählten Bündnis anzuschließen, wurde umgedeutet, um aus einem Überfall als krimineller Handlung einen völkerrechtlich gerechtfertigten Verteidigungskampf herzuleiten.

Die Herren im Kreml konstruierten eine erdichtete Bedrohung ihrer selbst aus der perfiden Umkehr einer tatsächlichen Bedrohungslage, deren reale Existenz sie selbst mit ihrem konkreten Handeln definitiv unter Beweis gestellt haben: Putin legitimiert mit seinem Überfall auf die Ukraine, der deren Beitritt zu einem internationalen Verteidigungsbündnis verhindern soll, den unabweisbaren Anspruch der Ukraine, als Mitglied eben genau dieses Verteidigungsbündnisses aufgenommen zu werden.

Zudem und hilfsweise – was wiederum nicht nur die begrenzte intellektuelle Erkenntnisfähigkeit der Aggressoren belegt, sondern auch deren tatsächliche Motivation auf der Verhaltensebene des Homo panensis – begründet der Hauptverantwortliche seinen kriminellen Überfall zudem wider die von seinem Staat vertraglich anerkannte Völkerrechtssituation damit, dass es sich bei dem überfallenen Staatswesen um eben ein solches nicht handele, sondern die entsprechenden Territorien eigentlich zum eigenen Staatsgebiet des Aggressors gehörten. Deshalb, weil er so den Eindruck zu erwecken suchte, es handele sich lediglich um eine Ordnungsmaßnahme auf eigenem Staatsterritorium, wählte er für seinen kriminellen Überfall die Bezeichnung „militärische Spezialoperation“ – und belegt zudem einmal mehr den faschistischen Charakter seiner eigenen Herrschaft.

Doch selbst unterstellt, für eine solche Darstellung eines völkerrechtlich legitimen Territorialanspruchs, welche begründen soll, weshalb es sich bei dem Überfall nicht um einen Krieg und schon gar nicht um einen „Angriffskrieg“ handele, gäbe es irgendwelche realen historischen, philosophischen oder wirtschaftlichen Begründungen, spricht gegen diese – wie sollen wir sie nennen: Lüge?, Interpretation?, Dummheit? … die Tatsache, dass zwischen dem Völkerrechtsobjekt Russische Föderation und dem Völkerrechtsobjekt Ukraine ein ungekündigter Freundschaftsvertrag existiert, der ausdrücklich nicht nur die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des befreundeten Staates verbietet, sondern auch dessen territoriale Integrität und Souveränität festschreibt und garantiert.

Ein ungekündigter Vertrag hat Bestand

Es ließe sich möglicherweise argumentieren, einer der Vertragspartner habe besagten Vertrag gleichsam fristlos dadurch gekündigt, dass er im Widerspruch zum Vertragsinhalt die territoriale Integrität des Partners im Jahr 2014 vorsätzlich verletzt hat – doch hätte auch eine solche, vertraglich nicht vorgesehene „fristlose“ Kündigung nur im Einvernehmen beider Beteiligter erfolgen können. Das ist nicht geschehen, und insofern hätte der Aggressor, unabhängig von einer möglichen Legitimität seiner nach Vertragsschluss geltend gemachten Forderungen und Ansprüche, entweder vor seiner Aggression eine Vertragsauflösung mit entsprechender Zustimmung durch den anderen Vertragspartner erwirken oder aber den bestehenden Vertrag zum 31. Mai 2017 kündigen müssen.

Tatsächlich jedoch ist eine solche Kündigung seitens der Russischen Föderation noch nicht einmal erfolgt, nachdem sie die vertrags- und völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Unterstützung angeblicher „Separatisten“ im Osten des Territoriums des Vertragspartners vollzogen hatte. Es mag argumentiert werden, dass besagter Vertrag von 1997 mit diesem Verhalten des Jahres 2014 obsolet geworden ist – doch gilt grundsätzlich, dass Verträge auch dann fortbestehen, wenn eine Seite gegen Inhalte des Vertrages verstößt. Zwar setzt sich der Vertragsbrüchige notwendig ins Unrecht, ist aber dennoch weiterhin durch den Vertrag gebunden, solange dieser nicht auf regulärem Wege beendet wurde – wozu es im konkreten Falle bei einer automatischen Vertragsverlängerung um weitere zehn Jahre eben jener Kündigung zwingend bedurft hätte. Da bislang ungekündigt, bildet der Vertrag von 1997 auch in der aktuellen Situation die Grundlage für das Verhältnis zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine. Er kann, da automatisch jeweils um zehn Jahre verlängert, erst zum 31. Mai 2027 gekündigt werden – und bis dahin erwirkt jedwedes vertragswidrige Verhalten eines der Vertragspartner aus sich selbst heraus bereits unbefristeten Regressanspruch auch über eine mögliche Kündigung hinaus.

Es gibt kein „Recht des Siegers“

Es mag die Frage im Raum stehen, ob und welche Relevanz diese Feststellungen haben, wonach die Russische Föderation nicht nur vertragsbrüchig geworden ist, sondern zudem auch deren Führung sich unzweifelhaft und jenseits möglicher „Kriegsverbrechen“ eines Verbrechens an sich schuldig gemacht hat.

Pragmatisch betrachtet mag man sich der Auffassung hingeben, dass der Sieger über die Erzählung des Zustandekommens des Sieges und dessen Folgen bestimmt. Nun gibt es zwar derzeit (noch) keinen Sieger – also jemanden, der die mit seinem Handeln verbundenen Ziele erreicht hätte. Doch es sollte unabhängig davon die Feststellung gelten, dass auch diese Pragmatik des vermeintlichen Rechts des Siegers aus einer Zeit der präzivilisatorischen Phase der Menschheit stammt und deshalb in einer sich zivilisiert verstehenden Welt keine Relevanz haben kann. Sollte folglich jene Seite, die für den kontinuierlichen Vertragsbruch verantwortlich zeichnet, dennoch den Vorgang, der als Verbrechen und nicht als Angriffskrieg und schon gar nicht als Krieg zu bezeichnen ist, vollständig in ihrem Sinne entscheiden, so ist damit eine dort behauptete Erzählung doch nichts anderes sein können als ein klassisches Narrativ, welches mit einer sachgerechten Tatsachenbeschreibung nicht das Geringste zu tun haben wird.


Lesen Sie in Teil 3 die Konsequenzen des Überfalls

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