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Der ewige Landtag – wie die Hysterie Thüringen in die Sackgasse trieb

Solange sich keine 30 Abgeordneten finden, die den Antrag auf Selbstauflösung stellen, und keine 60, die ihm zustimmen, bleibt der Landtag im Amt und mit ihm der amtierende Ministerpräsident.

Jens Schlueter/AFP/Getty Images

Die Geschichte ist bekannt und muss nicht ein weiteres Mal aufbereitet werden: Thüringens früherer Ministerpräsident Bodo Ramelow, nach der Landtagswahl noch amtierend im Amt bis zur Wahl eines Nachfolgers, wollte es wissen. Darauf vertrauend, dass er gemäß Art. 70 (3) der Thüringischen Verfassung (VerfThür) im dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit gewählt werde, ließ er den Wahlgang ansetzen.

Ramelow hatte sich verkalkuliert. Gemäß Artikel 45 (Das Volk handelt mittelbar durch die verfassungsgemäß bestellten Organe der Gesetzgebung – also dem Parlament) und Artikel 48 (Der Landtag ist das vom Volk gewählte oberste Organ der demokratischen Willensbildung und wählt den Ministerpräsidenten) in Verbindung mit besagtem Art 70 (3) VerfThür wählte das Volk von Thüringen via Parlament unerwartet den FDP-Politiker Thomas Kemmerich. Dieser nahm die Wahl an und wurde vereidigt. Ramelow war damit aus dem Amt.

So weit, so demokratisch und verfassungsgemäß. Dann allerdings setzte ein Trommelfeuer ein, das die Demokraten reihenweise einknicken ließ. Kemmerich reichte am 8. Februar 2020 schriftlich gegenüber dem Landtagspräsidenten seinen Rücktritt ein. Das konnte er machen, denn Art 75 (1) VerfThür besagt: „Die Landesregierung und jedes ihrer Mitglieder können jederzeit ihren Rücktritt erklären.“
Allerdings änderte sich dadurch nichts an der Tatsache, dass Kemmerich de facto immer noch im Amt ist. Denn gemäß Art 75 (3) amtiert er, bis das Volk mittelbar durch den Landtag auf dem in der Verfassung vorgesehenen Weg einen Nachfolger gewählt hat.

Diese Situation schafft nun jedoch ein gerüttelt Maß ungewöhnlicher Situationen.

Eine Verwaltung ohne Regierung

Durch den überstürzten Rücktritt Kemmerichs besteht die politische Führung des Landes Thüringen bis auf Weiteres aus nur dieser einen Person: Dem amtierenden Ministerpräsidenten Kemmerich. Denn der versäumte es in der Hektik, für die Landesressorts neue Minister zu benennen. Tatsächlich werden die Ministerien gegenwärtig auf entsprechende, zulässige Bitte Kemmerichs durch beamtete Staatssekretäre geführt. Diese können zwar keine politischen Entscheidungen treffen, doch wird das Land deshalb nicht untergehen. Verwaltung funktioniert in Deutschland auch ohne einen gewählten Volksvertreter an der Spitze.

Gleichwohl kursiert nun in Thüringen ein Gutachten, nach dem die Minister Ramelows – im Gegensatz zu diesem selbst – noch im Amt seien, sie also durch ihre Abwesenheit quasi unentschuldigt fehlen. Verfasser sind Dr. Robert Wille, laut Website der Universität Potsdam dort derzeit ohne aktiven Status, und Prof. Dr. Michael Meier, ebenfalls ohne aktiven Status. Beide Herren vertreten in einem gemeinsam veröffentlichten Aufsatz die Auffassung, Ramelows Minister seien noch im Amt – eine Position, die allerdings durch die Verfassung kaum zu halten sein dürfte.

Laut Art 70 (4) VerfThür ernennt und entlässt der Ministerpräsident die Landesminister. Ramelow hatte letzteres versäumt, Kemmerich mangels Masse ebenso – und als nur noch Amtierender MP kann er es nicht mehr. Das spräche scheinbar für die Position Wille-Meier.

Entgegen dieser Auffassung jedoch spricht Artikel 75 (2) der Landesverfassung. Dort steht: „Das Amt eines Ministers endet auch mit dem Rücktritt oder jeder anderen Erledigung des Amtes des Ministerpräsidenten.“ Folglich gilt: Bereits durch die Erledigung der Amtsausübung Ramelows durch die Wahl eines Nachfolgers verloren dessen Minister ihr Amt.

Zwar hatte Ramelow bis zur Inamtsetzung seines Nachfolgers (der er selbst sein wollte) seine Minister noch darum gebeten, ihr Amt geschäftsführend fortzuführen – doch spätestens mit Kemmerichs Vereidigung war dieser Zug ebenso abgefahren wie eine offizielle Entlassung, welche durch den Ablauf nun auch obsolet war. ´

Die Ministergarde des Ramelow ist mit der Vereidigung Kemmerichs Geschichte – Nachfolger gibt es nicht. Die Thüringische Verfassung ist da eindeutig, schreibt in Art 75 (3) fest: „Der Ministerpräsident und auf sein Ersuchen die Minister sind verpflichtet, die Geschäfte bis zum Amtsantritt ihrer Nachfolger fortzuführen.“

Ramelow, nun nicht mehr MP, konnte dieses Ersuchen nicht mehr stellen. Kemmerich, heute auch nur noch amtierender MP, kann es in dieser Funktion ebenfalls nicht. Er hätte es möglicherweise tun können, als er noch nicht zurückgetreten war – obgleich dieses eine spannende Verfassungsrechtsdebatte über diesen Vorgang hätten auslösen müssen, denn das Amt „ihres“ Ministerpräsidenten hatte sich für Ramelows Ministergarde zwischenzeitlich erledigt, weshalb es zum Erhalt der Personalkontinuität der korrekte Weg hätte sein müssen, die Ramelow-Minister durch Kemmerich erneut zu benennen und sie dann mit dessen Rücktritt von ihm selbst aufzufordern, amtierend im Amt zu bleiben.
Doch selbst das wurde versäumt in der Hysterie – und so steht nun das Land Thüringen bis auf weiteres mit nur einem einzigen und nur noch amtierenden Ministerpräsident da. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Wie soll es weitergehen?

Wie einen neuen Ministerpräsidenten bekommen?

Nach dem Rücktritt Kemmerichs überflügeln sich die Hysteriker mit Vorschlägen, wie das Land künftig ohne Kemmerich regiert werden könne. Und sei es nur für eine Übergangszeit. Die Kommunisten und ihre abgewählten Unterstützer bei Grünen und SPD wollen irgendwie den abgewählten Ramelow reaktivieren – und sei es nur, so die offizielle Darstellung, damit dieser einen Neuwahlprozess einleiten könne. Aus der Union ist zu hören, man möge doch ein Expertenkabinett berufen, das übergangweise bis zu Neuwahlen das Land führen könne.

All diesen mehr oder weniger klugen Vorschlägern sei ein Blick in die Thüringische Verfassung empfohlen. Wobei deren Verfasser vergessen haben, das Vorgehen für den nun eingetretenen Fall konkret zu beschreiben.

Das konstruktive Misstrauensvotum

Grundsätzlich gilt nach Artikel 73 für das Ziel, einen neuen oder anderen MP zu bekommen, das Konstruktive Misstrauensvotum. Dieses besagt, dass ein Ministerpräsident nur dadurch abgelöst werden kann, indem ihm das Landesparlament durch die unmittelbare Wahl eines Nachfolgers das Vertrauen entzieht. Ziel dieser Übung: Es soll kein Interregnum ohne Landesvater geben. Deshalb reicht es auch nicht, wenn, wie beim dritten Wahlgang zur Wahl eines MP, eine relative Mehrheit einem vorgeschlagenen Nachfolger seine Zustimmung gibt. Die Abwahl des alten durch die Neuwahl des neuen Ministerpräsidenten muss zwingend mit der Mehrheit der Mitgliedszahl des Parlaments erfolgen. Im konkreten Falle müssten sich 46 Abgeordnete für einen Nachfolger aussprechen. Bislang spricht nichts dafür, dass eine solche Mehrheit zustande käme.

Doch selbst wenn es so wäre, ist es mehr als fraglich, ob dieses Vorgehen überhaupt durch die Verfassung gedeckt ist. Lesen wir noch einmal Artikel 73:

„Der Landtag kann dem Ministerpräsidenten das Misstrauen nur dadurch aussprechen, dass er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt. Den Antrag kann ein Fünftel der Abgeordneten oder eine Fraktion einbringen. Zwischen dem Antrag und der Wahl müssen mindestens drei, dürfen jedoch höchstens zehn Tage liegen. Die Wahl erfolgt in geheimer Abstimmung.“

Es geht hier ganz offensichtlich nicht um eine beliebige Neuwahl, sondern um eine konkrete Abwahl, welche wiederum nur dem Ziel dient, dem Ministerpräsidenten das Misstrauen auszusprechen. Thüringens Problem: Es verfügt über keinen Ministerpräsidenten, dem das Parlament das Misstrauen aussprechen könnte oder müsste. Denn durch seine Rücktrittserklärung ist Kemmerich dem in Artikel 73 vorgesehenen Verfahren bereits zuvor gekommen. Offensichtlich in der Annahme, dass das Parlament ihm misstraut, und getrieben durch den mangelnden Ehrgeiz, sein Amt auszuüben, hat er bereits sein Ministerpräsidentenamt aufgegeben. Es macht weder verfassungsrechtlich noch politisch Sinn, einem bereits Zurückgetretenen noch nachträglich das Misstrauen auszusprechen. Denn wo niemand ist, gegenüber dem dieses geschehen könnte, kann es auch nicht stattfinden.

Damit ist die offensichtliche Hoffnung der Ramelow-Anhänger im Parlament, nun durch einen einfachen, erneuten Wahlprozess den alten zum neuen MP zu machen, nicht mit der Verfassung des Landes in Einklang zu bringen. Selbst wenn die CDU und die FDP und die AfD wider Erwarten ihre Zustimmung zur Wahl Ramelows gäben und entsprechend abstimmten – nach dem Wortlaut der Verfassung ist ein solches Vorgehen nicht zulässig. Also muss das Parlament, um Kemmerich durch jemand anderen zu ersetzen, einen anderen Weg gehen.

Auch keine Vertrauensfrage

Bedauerlicherweise haben es die Verfasser der Thüringischen Verfassung versäumt, das Prozedere für den aktuellen Fall eines durch öffentliche Hass und Hetze überstürzt erzwungenen Rücktritts eines Ministerpräsidenten explizit festzuschreiben. Offensichtlich gingen sie davon aus, dass ein solcher Rücktritt gesittet und geregelt abliefe – und nicht in der Hektik unter dem Druck der Antifa und anderer demokratiefeindlicher Kräfte. So lässt die Verfassung zwar den Rücktritt der Regierung zu – wie aber dann zu verfahren ist, beschreibt sie nicht. Damit gilt: Es sind jene Artikel anzuwenden, die konkrete Wege auf der Grundlage der geltenden Verfassung anbieten.

Für die geregelte Demission sieht die Verfassung den Weg einer Vertrauensfrage vor. Dieses bedeutet: Der Ministerpräsident stellt an die Abgeordneten die Frage, ob sie zu seiner Amtsführung noch Vertrauen haben. Sollte dabei festgestellt werden, dass dem nicht so ist – also dieser Antrag keine Mehrheit bekommen – dann endet laut Art. 75 (2) die Amtszeit des MP automatisch. In diesem Falle kann das Parlament nach Art. 50 (2) innerhalb von drei Wochen einen Nachfolger wählen.
Diese Nachwahl aber ist eben nur möglich, wenn der MP zuvor jene Vertrauensfrage gestellt hat. Da Kemmerich nun jedoch nicht mehr Ministerpräsident ist, sondern nur noch als solcher amtiert, ist auch dieser Weg versperrt. Damit fällt der Weg über die Vertrauensfrage aus.

Nur die Selbstauflösung bleibt

Somit lässt die Verfassung des Freistaates Thüringen für das Zerschlagen des gordischen Knotens nur einen einzigen Weg: Das Parlament muss sich selbst mit dem Ziel, Neuwahlen herbeizuführen, auflösen. Wie dieses zu erfolgen hat, beschreibt Artikel 50 (2.1): „Die Neuwahl wird vorzeitig durchgeführt, wenn der Landtag seine Auflösung mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder auf Antrag von einem Drittel seiner Mitglieder beschließt.“ Das bedeutet: Mindestens 60 der 90 gewählten Abgeordneten müssen für die Selbstauflösung stimmen, nachdem zuvor mindestens 30 Abgeordnete einen entsprechenden Antrag eingebracht haben. Bislang spricht nichts dafür, dass eine solche Mehrheit zustande kommt – denn damit würden sich voraussichtlich nicht wenige Abgeordnete um ihre parlamentarische Zukunft bringen.

Der ewige, einsame MP

Kommt es nicht zu Neuwahlen über Selbstauflösung, dann greift zwangsläufig Artikel 50 (1): „Der Landtag wird auf fünf Jahre gewählt. Die Neuwahl findet frühestens 57, spätestens 61 Monate nach Beginn der Wahlperiode statt.“ Das heißt: Da die aktuelle Legislaturperiode mit der ersten Plenarsitzung am 26. November vergangenen Jahres begonnen hat, kann die nächste Wahl frühestens im Juni 2024 stattfinden.

Das wiederum bedeutet: Kommt im Parlament keine Zweidrittelmehrheit zustande, die für eine Selbstauflösung stimmt, wird Kemmerich nichts anderes übrig bleiben, als noch bis in den Spätsommer des fernen Jahres 2024 als einziger politischer Vertreter des Landes Thüringen amtieren zu müssen.

Und warum das Alles? Weil in Panik vor einem geschickten Schachzug der AfD alle Welt total die Nerven verloren hat, eine sich als Staatsratsvorsitzende aufführende Frau Bundeskanzler wider jegliches Verfassungsverständnis aus Südafrika die Rückgängigmachung einer auf parlamentarisch verfassungsgemäßen Wege erfolgten Wahl eingefordert hat und alle gesprungen sind. Aber so etwas kann geschehen, wenn man in der Politik das Gehirn abschaltet und nur noch mit dem Bauch in hysterischer Panik agiert.

Vielleicht aber ist es auch ganz spannend zu sehen, wie eine Verwaltung den Staat lenkt, ohne dabei an die Vorgaben von Partei-gesteuerten Chefs gebunden zu sein. Gesetzgebungsverfahren könnte das Parlament immer noch auf den Weg bringen – vorausgesetzt, dessen Abgeordnete finden dafür eine Mehrheit. Entsprechende Regierungsinitiativen der Exekutive allerdings fallen aus – und den nächsten Landeshaushalt müsste dann der amtierende Ministerpräsident im Alleingang einbringen und vertreten. Wobei auch hier die Frage im Raum steht, ob er das als nur amtierender MP überhaupt darf.

Könnte also gut sein, dass Thüringen unterhaltsamen Zeiten entgegen geht.

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