Tichys Einblick
Schmierentheater

Demokratie à la EU – Der Sonnenkönig erlaubt Scheinmitsprache

Um zu wissen, dass ziemlich niemand für die Zeitumstellung ist, hätte man sich lediglich beim Bäcker um die Ecke oder auf dem Bahnhof am Tage nach der Zeitumstellung ein wenig umhören müssen.

Ben Stansall/AFP/Getty Images

Irgendwie bin ich immer noch fassungslos. Fassungslos deshalb, weil ich mir so etwas schlicht nicht vorstellen konnte. Da stellt ein irgendwie institutionalisiertes Entscheidungsorgan auf seinen Seiten ein Abstimmungstool bereit – und ohne irgendwelche Regeln stimmen irgendwelche Menschen über ein scheinbares oder tatsächliches Ärgernis ab.

Irgendwann – in den staatlichen Informationsverbreitungsorganen wurde zuvor regelmäßig auf den Fristablauf verwiesen – endete die nunmehr schon zur „Abstimmung“ stilisierte Meinungsmitteilungsmöglichkeit. Nach einigen Tagen dann wird mitgeteilt: Holla! Eine ganz große Mehrheit will da etwas nicht mehr! Dann der Auftritt des Gutsherren – Vorhang auf. Und der alles beschreibende Satz: „Das werden wir* heute beschließen. Es wäre sinnlos, die Menschen erst zu etwas zu befragen, und dann, wenn es einem nicht passt, dem nicht zu folgen!“ (*“Wir“ im Sinne des pluralis majestatis)

Worum es geht? Selbstverständlich um die regelmäßige Umstellung von Normal- auf Sommerzeit. Alljährlich zweimal mit individuellen Schlafstörungen ebenso verbunden wie mit einem ungeheuren Aufwand in den geregelten und getimeten Abläufen der modernen Gesellschaft – nicht nur Bahnunternehmen können ein Lied davon singen.

Diese Zeitumstellung – vor bald einem halben Jahrhundert einmal eingeführt, weil der sogenannte Ölschock nach Möglichkeiten suchte, Energie zu sparen (ein anderes, allerdings recht schnell überwundenes Instrument waren Wohnungsfenster, die nur noch als Schlitz unter der Decke hingen und den Bewohner gleichsam in ein Erdloch verbannten) – bedurfte tatsächlich seit langem der Hinterfragung. Nichts also dagegen einzuwenden, beim Bürger dessen Auffassung von diesem administrativen Spezialweg abzufragen.

Doch die Art und Weise, wie diese Abfrage erfolgte – und wie das Ergebnis plötzlich Wirkung zeitigte – das muss einem jedem Demokraten sämtliche Nacken, Kopf und Körperhaare gleichzeitig zu Berge stehen lassen.

Die Stimmen des Unverbindlichen

Selbstverständlich kann eine exekutive Institution die Möglichkeit einer Bürgerbefragung nutzen. Wenn sie dieses allerdings tut, dann hat dieses nach strikten Regeln, festgelegt in allgemeingültigen Gesetzen, zu geschehen. Diese Gesetze haben festzulegen, WER an der Befragung teilnimmt und WIE seine Teilnahme im Sinne der Chancengleichheit aller Abstimmungsberechtigten
organisatorisch geregelt ist. Sodann ist gesetzlich festzuschreiben, wie, wann und durch wen die Auszählung erfolgt – und selbstverständlich muss bereits vor Beginn des Prozesses festgelegt sein, welche Quoren und Mehrheiten zu welchem verbindlichen legislativen und exekutiven Handeln führen.

Nichts – aber auch gar nichts davon trifft auf diese ominöse Abstimmung über die Sommerzeit zu. Irgendjemand in der EU-Administration verspürte offensichtlich aus irgendwelchen Gründen das Bedürfnis, ein „Meinungsbild“ (so heißt eine rechtlich und auch sonst gänzlich irrelevante Abfrage von Befindlichkeiten) zu erstellen. Also stellte die EU-Kommission ein Abstimmungstool ins Netz. Und mit Hilfe der staatlichen Informationsmedien sprach sich dann mehr oder weniger rum, dass es bei der EU im Netz ein solches Abstimmungstool gäbe.

Wer sich also langweilte, oder gerade mal etwas Dampf ablassen wollte, der konnte sich den Link googeln und „voten“. Wer besseres zu tun hatte und meinte, dass solche „Votings“ ohnehin keine Konsequenzen haben oder nichts anderes als Kasperletheater sind, konnte auch darauf verzichten. Ich räume ein: Ich gehöre zu den letzteren, denn da es keinerlei gesetzliche Grundlage gab, die aus diesem Voting irgendwelche nachvollziehbaren Konsequenzen hätte erwarten lassen, wollte ich mit diesem EU-Tralala nicht meine Zeit vergeuden.

Beteiligung: 0,9 Prozent!

Irgendwann dann war es vorbei mit dem EU-Tool. Die Sommerzeit-App der Brüsseler Herrschaften wurde abgestellt – und die Auszählung begann. Nun die Bekanntgabe des nicht überprüfbaren Ergebnisses: Rund 4,6 Millionen Menschen hätten an dem Voting teilgenommen. Das entspricht bei 512,6 Millionen EU-Bürgern gerade einmal 0,9 Prozent.

Wer nun die Aussage tätigte, dass dieses Ergebnis keinerlei Relevanz hätte, dem wäre nicht zu widersprechen. Ebenso wenig jenem, der behauptete, das Thema habe die EU-Bürger mit Ausnahme einer verschwindend kleinen Minderheit offensichtlich nicht interessiert. Denn – notabene: Es sind eben nur 0,9 Prozent der potentiell Abstimmungsberechtigten, die am EU-Kasperletheater teilnahmen. Von diesen nun hätten sich wiederum über 80 Prozent für die Abschaffung der Zeitumstellung ausgesprochen. Das sind demnach satte 0,72 Prozent.

Die Unbeliebtheit war bekannt

Nun – um dieses zu wissen, hätte man sich lediglich beim Bäcker um die Ecke oder auf dem Bahnhof am Tage nach der Zeitumstellung ein wenig umhören müssen. Mir persönlich ist noch niemand begegnet, der an dieser Zeitumstellung etwas Gutes gefunden hätte. Und doch hat das Voting immerhin den Beweis erbracht: 0,18 Prozent aller EU-Bürger sind explizit dafür!

Wobei – ist nicht auch diese Aussage schon überaus gewagt? Denn bei diesem Voting hätte sich doch auch jeder Afrikaner, Asiat, Amerikaner oder Ozeanier beteiligen können. Worldwide Web stellt ein Abstimmungstool bereit: Für die Zeitumstellung oder dagegen? Wie ist das mit den Ukrainern, den Russen – wie mit den Türken oder Indern? Haben die vielleicht auch eine Meinung zur Sommerzeit? Haben sie die Chance genutzt, der EU-Kommission auf diesem Wege einmal ganz grundsätzlich ihre Meinung mitzuteilen?

Niemand weiß es – und niemand wird es jemals erfahren. Denn an diesem originellen Voting konnte ja ungehindert jeder der weltweiten human community teilnehmen. Es gab weder Einschränkungen noch etwa gar irgendwelche Kontrollmöglichkeiten, dass tatsächlich nur stimmberechtigte Mitglieder der Europäischen Union zur Stimmabgabe schreiten. Warum auch? Dieses ganze Prozedere hatte ja keinerlei rechtliche Relevanz. Weshalb also irgendwelche Kontrollen einbauen? Weshalb überhaupt an diesem Kasperletheater teilnehmen?

Von Juncker zur Volksabstimmung deklariert

Dabei hätte man es belassen können. Die EU hat mal so aus Jux und Tollerei einigen Interessierten die Möglichkeit gegeben, in Sachen Zeitumstellung Dampf abzulassen. Knappe fünf Millionen hatten gerade nichts Besseres zu tun – und ließen die Kommission mit großer Mehrheit wissen: Finden wir doof.

Was nun allerdings geschah, ist bemerkenswert. Kommissionchef Jean-Claude Juncker lässt sich extra herab, zu für ihn früher Stunde das Morgenmagazin der bundesdeutschen Staatssender zu beglücken, um zu verkünden, dass er sich an dieses Ergebnis halten wolle und daher nun einen Abschaffungsgesetzentwurf einbringen werde. Wobei er auch das etwas anders formuliert hat: „Wir* werden das heute beschließen!“

Ein Schmierentheater

Dieser gesamte Prozess und das Verhalten des Großjunkers von Luxemburg müsste einen halbwegs aufgeklärten Bürger in Lachkrämpfe verfallen lassen – und den Abgeordneten des EU-Parlaments die Zornesröte ins Gesicht treiben.

Nicht das Ziel, diese überflüssige Zeitumstellung abzuschaffen, ist dabei der eigentliche Stein des Anstoßes. Das ist schon lange überfällig und es hätte einer wie auch immer organisierten Befragung nicht bedurft, um dieses zu wissen. Nein – das Unfassbare an diesem gesamten Vorgang ist die Tatsache, dass hier einerseits der Eindruck vermittelt wird, es handele sich tatsächlich um sowas wie einen demokratischen Entscheidungsprozess – und dass dann noch der Ober-EUler gleich einem Sonnenkönig verkündet: Das Volk hat einen Wunsch geäußert – wir werden diesem in all unserer Gnade folgen!

Juncker tut so, als habe er hier in irgendeiner Weise einen demokratischen Prozess vollzogen – und er tut so, als habe dieser irgendeine Bindungswirkung für die Kommission oder sonst wen! Nichts davon ist in irgendeiner Weise so, wie es den Anschein haben soll, zu sein! Nur Schmierentheater – nicht einmal Komödie! Und unsere Medien, die ihre Gehirne offenbar nicht einmal mehr an der Garderobe abgeben, sondern bestenfalls zuhause im Safe dauerhaft abgelegt haben, machen dieses Schmierentheater fröhlich und unreflektiert mit.

Das Scheinmitspracherecht der Volksverblödung

Dem Bürger wird hier seitens der EU ein Scheinmitspracherecht vorgegaukelt, welches an Volksverblödung nicht mehr zu überbieten ist.

Dieses ganze Theater ist ein juristisches Nichts!

Es ist mit keinem Gesetz unterlegt, hat keine klaren Inhalte und keine ein Ergebnis nachvollziehbar machenden Regelungen. Es kann nicht einmal feststellen, ob es tatsächlich die abstimmungsberechtigten Betroffenen waren, die sich an diesem Theater beteiligt haben. Das Ergebnis hatte zu keinem Zeitpunkt auch nur die geringste Bindungswirkung – und einklagbar wäre es ohnehin nicht gewesen.
Doch der Sonnenkönig lässt sich herab und tut so, als habe er hier seinem Volk die Entscheidung über eine staatsrelevante Frage an die Hand gegeben – und sich angesichts eines doch wirklich eindeutigen Votums sich diesem nun zu unterwerfen!

Nein – um es klipp und klar zu sagen: Das, was Juncker hier vollzieht, ist an Unverschämtheit gegenüber dem EU-Bürger nicht zu überbieten! Ja, es wäre angesichts eines nach fragwürdigen Prinzipien zusammengesetzten, letztlich machtlosen EU-Parlaments geboten, die Bürger künftig an den Entscheidungen der Kommission zu beteiligen. Eine solche Bürgerbeteiligung könnte vielleicht sogar dazu beitragen, die ständig wachsende Ablehnung eines selbstverliebten, abgehobenen EU-Apparats ohne jegliche Bodenhaftung zu verringern.
Solche Scheinabstimmungen, im rechtsfreien Raum durchgeführt – das aber kann nicht einmal als Placebo bezeichnet werden! Das ist fette Augenschmiere mit Betonbeimischung!

Demokratie? Unnötig!

Und doch hatten Abstimmung wie Juncker-Auftritt ein Gutes. Wir wissen nun abschließend, dass der Herr die EU für den Hof des Versailler Sonnenkönigs hält. Nach Gutsherrenart darf ohne jegliche rechtliche Grundlage bei Bedarf ohne jegliche Rechtsgrundlage und Relevanz gelegentlich ein Voting durchgeführt werden. Und wenn das Ergebnis – welches völlig unkontrolliert in irgendwelchen Verwaltungskämmerchen festgestellt wird – genehm ist, dann lässt man sich vorbei an verfassten Regeln und gesetzgeberischen Prozessen herab, das Ergebnis als unmissverständlichen Auftrag zu verkaufen und dabei sogar noch den Eindruck zu vermitteln, man hätte sich selbst durch dieses Ergebnis eines Besseren belehren lassen..

Kann man das so machen? Ja – wenn Demokratie für einen bestenfalls noch eine Floskel ist. Eher eigentlich dann, wenn man sie nur für lästig und überflüssig erachtet.

Brosamen für das Volk, welches dank der Staatspropaganda auch noch darauf hereinfällt und begeistert in die Hände klatscht.

Den Sonnenkönig beim Wort nehmen

Vielleicht aber, Herr Juncker, sollten wir als EU-Bürger Sie dann doch noch ein wenig ernst nehmen. Also unterstelle ich jetzt einfach einmal, auch wenn ich nicht so recht dran glaube: Sie haben es Ernst gemeint damit, dass der einfache EU-Mensch gelegentlich zu diesem und jenem Thema seine Meinung sagen darf – und diese dann durch Sie auch berücksichtigt wird.

Deshalb nun zum Einstieg erst einmal nur zwei Vorschläge für die nächsten Bürgerbefragungen – könnten beide noch in diesem Jahr und rechtzeitig vor der nächsten EU-Parlamentswahlveranstaltung durchgeführt werden:

1. Sind die Bürger der EU für das EU-Resettlement-Programm, wonach regelmäßig bedeutende Kontingente von Nicht-EU-Bürgern vorrangig in strukturschwachen Regionen der EU angesiedelt werden?

2. Sind die Bürger der EU dafür, dass die Überschuldung einzelner EU-Länder über die EZB durch die leistungsfähigen EU-Länder und deren Bürger finanziert wird?

Ich wäre mal gespannt, wie bei diesen Fragen das Voting ausfiele. Das Ergebnis kenne ich jetzt schon – und wenn Sie, Herr Juncker, dann wieder den Sonnenkönig geben, dann verzichte ich vielleicht sogar auf eine nicht minder spannende Frage, deren Ergebnis zu entsprechen ich bei Ihnen mit großer Freude sähe:

Sind die Bürger der EU dafür, dass die undemokratisch agierende EU-Kommission durch demokratisch legitimierte Gremien ersetzt und das EU-Parlament zu einem echten Entscheidungsgremium wird?

Trauen Sie sich, Herr Juncker! Sie haben doch nichts mehr zu verlieren! Geben Sie den Sonnenkönig doch auch mal dann, wenn es vielleicht weh tut. Sie sind doch ohnehin demnächst Geschichte.