Tichys Einblick
LINKER UND RECHTER KOLONIALISMUS (3)

Scholl-Latour hat recht behalten: Das Scheitern war unvermeidlich und absehbar

Die Reporter-Legende Peter Scholl-Latour (1924-2014) hat das Scheitern des Afghanistan-Engagements vorausgesehen und die ideologische Blindheit und Vermessenheit westlicher Außenpolitik immer wieder beklagt.

Peter Scholl-Latour (1924-2014)

IMAGO / Reiner Zensen

„In Berlin scheinen das Überleben der Eisbären am Nordpol, die Aufstellung landschaftsverschandelnder Windspargel im Zeichen einer Pseudo-Ökologie und jener Unterwerfungsreflex, der gerade bei den domestizierten Pseudorevoluzzern der 1968er Bewegung seltsame Blüten treibt, den Vorrang zu genießen vor der strategischen Selbsterhaltung der Nation und des Kontinents.“

Als ich den Mann, der 2007 diese Sätze schrieb, die heute aktueller sind denn je, in den 80ern des vergangenen Jahrhunderts persönlich kennenlernen durfte, war er bereits Legende. Peter Roman Scholl-Latour war Vorbild für einen jeden, der den Beruf des Journalisten als Berufung verstand. 1924 geboren in Bochum mit Eltern, die im deutschen Elsass geboren und aufgewachsen waren, mit einer jüdischen Mutter und katholischer Jesuitenausbildung in der Schweiz, war er ein frankophiler Deutscher und als solcher durch und durch europäischer Nationalist.

Zwischen Indochina, Kongo und dem Iran

LINKER UND RECHTER KOLONIALISMUS (2)
Das koloniale Dilemma und die Schizophrenie der Linken
Scholl-Latours Lebensweg gleicht einem Pinball: Der Versuch, im befreiten Frankreich der Armee gegen das nationalsozialistisch beherrschte Deutschland beizutreten, scheiterte in Graz an der Gestapo. Er überlebte mit Fleckfieber und schrieb sich nach Kriegsende bei französischen Fallschirmjägern ein. Im von Japan befreiten Indochina, das Frankreich wieder zu seiner Kolonie machen wollte, lernte er die Kultur der Menschen des heutigen Vietnam, Laos und Kambodscha kennen. Fremde Kulturen begannen den Mann zu fesseln – als Kriegsberichterstatter für die junge ARD fand er sich an den Brennpunkten der Entkolonialisierung. Erst der ehemals belgische Kongo, in dem ein Marxist die Macht an sich gerissen hatte und sie ihm im Namen der UN in einem grausamen Kampf wieder entrissen wurde. Dann wieder Indochina, in dem die Franzosen mit ihrer zumeist aus ehemaligen deutschen Wehrmachtssoldaten und SS-Männern bestückten Fremdenlegion in Dien Bien Phu 1954 an der Sandalenarmee der Viet-Minh gescheitert und nach der Teilung Vietnams durch die Ledernacken der US-Streitkräfte ersetzt worden waren.

1980 veröffentlichte er seine dortigen Erfahrungen in dem Bestseller „Der Tod im Reisfeld“, was ihm nicht nur wochenlang den Platz 1 auf den damals noch seriösen Bestsellerlisten des Hamburger Wochenmagazins Der Spiegel, sondern auch die Berufung in den Vorstand des Bertelsmann-eigenen Verlags Gruner+Jahr einbrachte. Im Jahr zuvor war er mit dem iranischen Ayatollah Khomenei von Paris nach Teheran geflogen, erlebte dort den für Europäer unbegreifbaren Jubel der schiitischen Massen, der das unter dem Schah zum europäischen Kulturkreis ausgerichtete Land in eine bis heute andauernde Klerikaldiktatur verwandeln sollte. Bald jedoch fremdelte der damals bereits Sechziger mit der linken Ausrichtung der G+J-Verlagsprodukte und verlegte sich auf das Schreiben weiterer Bücher, in denen er seine Erfahrungen und Ansichten zu jenen Ländern niederlegte, in die sein Pinball-Leben ihn geführt hatte.

Kenner aus Erfahrung – nicht aus der Studierstube

Scholl-Latour galt als profunder Kenner vor allem des Fernen Ostens und der Islamischen Welt. Dabei beruhte seine Kenntnis nicht auf theoretischen, wissenschaftlichen Studien, sondern auf den Erfahrungen und Erkenntnissen, die er im unmittelbaren Umgang mit den Menschen und ihren Kulturen gemacht hatte – eine Tatsache, die ihm im Alter die zunehmende Kritik des von linken Ideologen unterwanderten Wissenschaftsbetriebs einbringen sollte.

Der Westfale wurde zu dem, was heute verächtlich als „alter, weißer Mann“ abgekanzelt wird – er stand dazu und veröffentlichte 2009 ein Buch mit dem Titel „Die Angst des Weißen Mannes“, das zu einer Generalabrechnung mit den Tendenzen der europäischen Dekadenz ebenso wurde wie mit der Unfähigkeit der Politik, die Entwicklung auf der Welt anders als durch den eigenen, ideologisch verengten Blick wahrzunehmen.

Linker und rechter Kolonialismus (1)
Das koloniale Scheitern der Neokons und Neomarxisten
Sollte Scholl-Latour, wie so viele der Kriegsgeneration, jemals mit den linken Ideologien der Sozialisten und Marxisten geliebäugelt haben – spätestens seine Erfahrungen in Vietnam und Kambodscha hatten sie ihm ausgetrieben. Als er es nun noch wagte, als Autor und Interviewpartner bei der Jungen Freiheit aufzutreten, war der Bruch mit dem politmedialen Mainstream perfekt: Die nicht selten aus der Kaderschmiede der Taz stammenden Haltungsjournalisten verdammten ihn ebenso, wie die pseudowissenschaftliche Garde der neuen Identitätsideologen jene Personen in die Verdammung schickten, die sich zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts mit einem wissenschaftlichen anstelle eines ideologischen Identitätsbegriff beschäftigt hatten.

Auch der Politik galt der lange Zeit Bewunderte nun als suspekt – nicht seine Analysen drangen mehr an die Ohren der politisch Verantwortlichen, sondern die jener Kaste der Gefälligkeitsgutachter, die um der lukrativen Staatsaufträge Willen das schrieben, was gern gehört werden wollte, und die ihren implantierten Irrtum wie jener vom ÖR-TV als „Experte“ ausgewiesene Markus Kaim mit einem „die Entwicklung war so nicht absehbar“ begründen. Die unvermeidbare Frage, wie denn die Entwicklung absehbar gewesen ist, wenn dann nicht „so“; wie anders denn die Entwicklung „absehbar“ und unzutreffend beschrieben wurde und weshalb das geschehen konnte, fällt aus und entlarvt den Gutachter als Scharlatan, dessen Analysen das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben wurden.

Kein Prophet der Unfehlbarkeit

Selbstverständlich: Auch Scholl-Latour war kein Prophet der Unfehlbarkeit mit göttlichem Auftrag. Doch die Treffsicherheit seiner Analysen liegt deutlich höher als bei all jenen sogenannten Politikberatern, die wie die Fliegen beständig um die Ministerbüros schwirren. Als die USA nach Nine-Eleven die Strafexpedition gegen das Afghanistan der Taliban starteten und die NATO-Partner zu Kolonisten der europäischen Werte wurden, gehörte der Journalist zu den ersten Mahnern. Lag er im Ergebnis richtig, so lag er dennoch falsch in der Beurteilung der globalen Konnektivität. 

„Wer Deutschland am Hindukusch verteidigen will, täte gut daran, die geographischen Dimensionen zu berücksichtigen, seine Aufmerksamkeit den Nachbarländern unseres Kontinents zuzuwenden und den Grundsatz Friedrichs des Großen zu beherzigen, der seine Offiziere instruierte, daß derjenige, der alle Positionen verteidigen will, in Wirklichkeit nichts verteidigt“, schrieb er 2007 in seinem Buch „Zwischen den Fronten“ und zielte damit auf die entsprechende Aussage des SPD-Verteidigungsminister Peter Struck. Die Migrantenströme seit der Mitte der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts sollten zeigen, dass in der globalen Weltkommune der unbegrenzten Migration Grenzen und Entfernungen keine Rolle mehr spielen. Doch wer konnte schon 2007 ahnen, dass ein deutscher Bundeskanzler acht Jahre später dem verzweifelten Versuch des UN-Generalssekretärs Kofi Annan bedingungslos folgen würde, der durch die UN offenbar nicht beeinflussbaren Massenvermehrung in den Drittweltländern durch Massenmigration in die Wohlstaatsnationen der Nordhalbkugel zu begegnen?

Das Afghanistan-Desaster vorausgesagt

Und so lag Scholl-Latour, in der kulturpessimistischen Analyse dem Philosophen Oswald Spengler folgend, richtig, als er in eben jenem Buch das aktuelle NATO-Desaster in Afghanistan voraussagte: 

„In den Talk-Shows über Afghanistan offenbart sich eine skandalöse Diskrepanz zwischen den nüchternen, meist pessimistischen Aussagen all derer, die sich an Ort und Stelle aufhielten und in engem Kontakt mit der dortigen Bevölkerung lebten – darunter befinden sich auch die Repräsentanten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz -, und einer Riege von besserwisserischen, beschwichtigenden Politikern jeder Couleur, die sich krampfhaft an getürkte Statistiken und folgenschwere Fehleinschätzungen klammert. Die traurige Realität am Hindukusch wird in Berlin konsequent negiert.“ 

Zeit zum Lesen
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Für Scholl-Latour war der Krieg, der nicht so genannt werden durfte, bereits verloren, bevor die Bundeswehr in ihn geschickt wurde. Aus seiner Sicht agierten die Politiker wider den Willen ihrer Völker und untergruben gleichzeitig die Chancen der Soldaten, ihrem Auftrag in irgendeiner Weise gerecht zu werden. So stellte er die Frage, was man von einem Bundestag halten solle, der eine Aufstockung der deutschen Afghanistan-Präsenz beschlossen habe, sich jedoch in moralischen Vorwürfen gegen die eigenen Soldaten ergehe. Er fügte mit Blick auch auf das Irak-Abenteuer der USA hinzu: „Wenn unsere maßgeblichen Parlamentarier außerstande sind, die jüngsten Ereignisse zu deuten und stattdessen gezielten Fälschungen erliegen, wie verhält es sich dann erst bei ihrer Bewertung weiträumiger geschichtlicher Vorgänge. Auf welches Augurenspiel der Zukunftserkundung lassen sie sich dann ein?“ – Die Bigotterie und Bildungslosigkeit der deutschen Parlamentarier verursachte für ihn mit dem Einsatz in Afghanistan einen Schlüsselfehler deutscher Außenpolitik. 

Scholl-Latour hatte begriffen, dass selbst eine hochgerüstete und dem Gegner technisch um ein Vielfaches überlegene Armee verlieren musste, wenn ihr ein konkretes, nationales Kriegsziel fehlte und sie Krieg gegen ein Volk mit fremder Kultur führt. So hatte der Weitgereiste schon früh prophezeit: Das Afghanistan-Abenteuer wird für den europäischen Kulturkreis zur Katastrophe werden: „Es gibt keine NATO-Kontrolle über Afghanistan, weder im umkämpften Süden und Osten noch im relativ ruhigen Norden, wo die Bundeswehr ihre Schutzburgen aufgebaut hat.“ Er sollte Recht behalten. 

Selbst das schmähliche Ende sah er bereits im Jahr 2007. Auf die Frage, warum er den Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan fordere, antwortete Scholl-Latour: „Weil der Afghanistan-Krieg nicht gewonnen werden kann! Ganz einfach! Obendrein wird der Krieg auch noch unzureichend geführt: Es existieren weder ein Worst-Case-Szenario noch eine Exit-Strategie. Das heißt, man hat sich keine Gedanken darüber gemacht, was man tut, wenn die Situation sich plötzlich dramatisch verschlechtern sollte, beziehungsweise wie man langfristig aus der Situation herauskommt. Das aber sind die Grundvoraussetzungen für eine verantwortungsbewusste militärische Intervention. Die Regierung in Berlin dagegen nimmt die Warnungen der militärischen Kommandeure im Land, des BND und unseres Botschafters in Kabul einfach nicht zur Kenntnis, sondern opfert sie bündnispolitischen Erwägungen.“ Er sollte auch damit Recht behalten.

Die Wahrheiten der Kulturpessimisten

Ohnehin war der alte, weiße und weise Mann im Alter zum Pessimisten geworden. Er sah die Entwicklung der Dominanz Chinas mit einer Mischung aus Erwartung und Skepsis ebenso voraus, wie er das Wiederaufleben des Islam und dessen Übernahme weiter Teile der Welt erwartete und fürchtete. Er wusste: Allein schon die demografische Entwicklung der Weltbevölkerung stellte die Existenz des europäischen Teils der Menschheit mittelfristig infrage. So war für ihn bereits die Öffnung der damals noch westdeutschen Bundesrepublik für die türkischen Anatolier ein Sündenfall, weil er die gelebte Kulturtradition des Islam mit jener der europäischen Aufklärung für inkompatibel hielt.

Als er 2014 starb, stand der von ihm unweigerlich erwartete Untergang des weißen Europas noch vor der Tür – kurz vor der Tür. Merkels bedingungslose Grenzöffnung für die Muslime aus Nah- und Mittelost im Jahr 2015 hätte ihm als Erfüllung seiner übelsten Alpträume und der Prognosen des 2008 verstorbenen US-Wissenschaftlers Samuel P. Huntington gegolten, der den Konflikt zwischen einer ihre Identität aufgebenden, europäischen Zivilisation vor allem mit der überwunden geglaubten Kulturvorstellung des Islam für unausweichlich hielt.

Auch Huntington sollte Recht behalten: Ein europäischer Kolonialismus, der anstrebt, europäische Menschenrechts- und Gesellschaftsvorstellungen weltweit zu etablieren, muss an der archaischen Dynamik einer islamischen Identität scheitern, wenn er seine europäische Identität zur Disposition stellt und sein exklusives Welt- und Menschenbild wider die Realität als bereits erreichtes Endstadium der Geschichte träumt. Beim Pessimisten Scholl-Latour liest es sich so: „Jedenfalls steht der westliche Hedonismus der eifernden, der kämpferischen Wiedergeburt oder Erneuerung anderer Bekenntnisse, vor allem des unmittelbar benachbarten Islam, rat- und hilflos gegenüber.“

Der Untergang des weißen Mannes, den Scholl-Latour als Sinnbild für das Ende der Dominanz von Demokratie und Menschenrechten beschrieb und der von den Multikulti-Apologeten in selbstzerstörerischer Trance herbeigesehnt wird, war für den deutsch-europäischen Analytiker unausweichlich. Die Ursache erkannte er in der Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen, ihren in weltfremde Theorien eingesperrten Horizont für die Lebenswirklichkeit jener zu öffnen, die sie als kolonisierende Neokons oder Neomarxisten mit ihren Wertvorstellungen zu beglücken suchten. Unter Verweis auf den deutschen Historiker Leopold von Ranke stellte er bereits 2005 fest, „dass der Historiker – oder sagen wir, der Chronist – alt werden muss, da man große Veränderungen nur verstehen kann, wenn man persönlich welche erlebt hat. Heute würde ich die Notwendigkeit hinzufügen, eine intime Kenntnis fremder Kulturen erworben zu haben.“

In fremde Köpfe denken

Die Kenntnis fremder Kulturen, die Möglichkeit, sich in die Situation des Anderen zu denken und so sein Handeln zu verstehen, war für Scholl-Latour Grundvoraussetzung verantwortungsvoller Außenpolitik. Die ideologisch bedingte Schönfärberei einer globalen Welt des kuscheligen Miteinanders einseitiger Empathiedominanz, welche ich deshalb im ersten Teil als „weiblich“ bezeichnete, ist eben nicht geeignet, in einer Welt der knallharten Auseinandersetzung zu bestehen. 

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Vor einiger Zeit hatte ich eine Analogie zu der sanften Welt der Bonobo und der harten Welt der Schimpansen beschrieben und die Frage gestellt, was geschähe, wenn der Schimpansen-Mann auf die Bonobo-Frau träfe. Bei aller scheinbaren Gleichheit unfähig, einander zu verstehen, müsste entweder die Bonobo-Kultur zu den Instrumenten der Schimpansen-Kultur greifen, um zu bestehen – oder untergehen. Dieses nicht zu begreifen, ist es, was Scholl-Latour mit seiner Forderung der intimen Kenntnis fremder Kulturen meinte. Und so ist es auch die Ursache des Desasters der globalistischen Politik am Hindukusch, aus der sich die politische Kaste zwischen Washington und Berlin mit jenem „so nicht erwartbar“ heraus zu retten sucht, wenn gleichzeitig ein sichtlich überforderter US-Präsident zeitgleich die Feststellung trifft, dass das durch den Abzug verursachte „Chaos“ unvermeidbar gewesen sei.
Die Verantwortungslosigkeit der Politik

Welch eine Verantwortungslosigkeit hier wie dort, wenn die Analysen der überbezahlten Berater offenbar außerstande waren, alle vorstellbaren Szenarien aufzuzeigen – und die Politik gleichzeitig gewusst haben will oder muss, dass genau jene nun eingetretene Situation unvermeidbare Konsequenz sein wird, wenn die gescheiterten Kolonialisten die Flucht ergreifen.

Sahra Wagenknecht, die offenbar einzige Politikerin der deutschen Echokammer, die sich die Freiheit des Denkens und der Analyse bewahrt hat, stellt sich in einem Essay des Focus selbst die Frage: „Aber warum war der Sieg der Gotteskrieger unausweichlich? Warum konnte kein vernunftbegabter Mensch ernsthaft daran glauben, die von den westlichen Besatzern errichtete Ordnung würde den Tag ihres Abzugs relevant überdauern? Wo wir doch so viele Brunnen gebohrt, so schöne Mädchenschulen eröffnet und so hehre Werte in das Land gebracht haben? Wie erklären sich angesichts dessen die verstörenden Bilder, dass Anwohner die Taliban wie Befreier begrüßen und mit ihnen gemeinsam auf den eroberten Panzern und Pick-ups feiern?“

In ihrer Antwort ist sie uneingeschränkt bei Scholl-Latour, der von ihren sozialistischen Glaubensbrüder*innen längst als rechter Nationalist geschmäht wird. Sie zitiert den ehemaligen US-Verteidigungsminister Chuck Hagel: „Wir haben die Kultur nie verstanden, wir haben die Religion nie verstanden, das Stammesdenken, die Geschichte. Man ist zum Scheitern verurteilt, wenn man das nicht versteht.“

Die islamische Kultur nie verstanden

Die Europäer haben bis heute die islamische Kultur nicht verstanden. Sie verstehen sie nicht einmal dann, wenn sie längst in ihren eigenen Ländern Fuß gefasst hat, sondern irrlichtern mit Wunschvorstellungen eines „gehört zu Deutschland“ durch die Öffentlichkeit.

Die Europäer, zu denen auch jene jenseits von Atlantik und Pazifik gehören, haben nie verstanden, dass ihr Versuch, ihre Werte in Länder zu exportieren, deren kulturelle Basis niemals auch nur im Ansatz den Weg der westeuropäischen Aufklärung gegangen ist, nichts anderes ist als die Fortsetzung des imperialen Kolonialismus ihrer Vorfahren.

Wer einer fremden Kultur seine Wertvorstellungen aufzwingen will, kann unterschiedlich Wege gehen.

  • Er kann als Imperialist dem kolonisierten Volk gewaltsam seine Identität nehmen, es im Notfall sogar vernichten. Es ist dieses der Weg, den die islamische Expansion im Mittelalter nahm und den die europäischen Konquistadoren in Mittel- und Südamerika gingen.
  • Er kann mit seinen eigenen Menschen das zu kolonisierende Volk erst unterwandern und dann kulturell übernehmen. Dieses ist der Weg, den die Chinesen gehen und der einem „friedfertigen“ Islam als Option gilt. 
  • Er kann als Missionar den Versuch unternehmen, die Unterworfenen durch das Argument und sein Vorbild sich gleich zu machen. Das aber funktioniert nur, wenn die damit verbundene Aussicht eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität des Kolonisierten erwarten lässt – und selbst dann ist der Erfolg fraglich, wie nicht nur der Blick in die Vorstädte Frankreichs zeigt. Diesen Weg suchten Europäer so lange, bis sie feststellen mussten, dass ihr Alternativangebot bei der Masse der zu Missionierenden keine ausreichende Attraktivität entwickelte.

Der erstgenannte Weg schloss sich nicht nur in Afghanistan für die Menschenrechtskolonisatoren aus. Für den zweiten fehlt ihnen im 21. Jahrhundert schlicht die Masse. Mit dem dritten sind sie nun in Afghanistan gescheitert, weil sie sich ihrer selbst zu sicher waren und meinten, die regionalen Traditionen ignorieren zu können statt sie in ihr koloniales Projekt einzubinden.

Wie Afghanistan vielleicht doch funktioniert hätte

Das koloniale Projekt Afghanistan – gleich ob von Neokons oder Neomarxisten gestartet – hätte vielleicht eine ganz kleine Chance gehabt, wenn es die Mentalität der Stammestraditionen verstanden hätte. Vielleicht hätte man die Kolonialisierung vorerst auf einige wenige Gebiete beschränken müssen – auf das städtische Kabul und das tadschikische Masar-i-Sharif, in dem vor der NATO-Intervention eine Nord-Allianz erfolgreich gegen die paschtunischen Taliban stand. Hätte es dort die unverzichtbare Attraktivität entwickelt, dann hätte es vielleicht die breiten Massen der Afghanen mitnehmen können. Aber es wäre dieses ein Jahrhundertprojekt gewesen, zu dem den Kolonisatoren der Atem fehlte. Vielleicht hätte es auch Erfolg versprochen, sich in die Traditionen des Landes nicht einzumischen, sondern sich mit Taliban und Stammesführern zu arrangieren, dabei als Lebensumstandsverbesserer und nicht als Kulturbesserwisser zu präsentieren.

Sei es drum: Eine Kolonialisierung Afghanistans mit westlichen Werten, deren Sinn und Nutzen sich der breiten Masse eines in mittelalterlichen Traditionen verharrenden Volkes schlicht nicht erschließt, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Peter Scholl-Latour wusste es – und die heute Verantwortlichen wissen es offenbar auch, denn anders lässt sich die Gleichgültigkeit und Kälte, mit der sie den Abbruch des Experiments durchgezogen haben und von der eigenen Verantwortungslosigkeit abzulenken suchen, nicht erklären. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass nun pflichtschuldig Krokodilstränen vergossen und aus dem Kanzleramt einige belanglose Satzstanzen verbreitet werden.

Der Verrat, den die Kolonisatoren begangen haben, trifft nicht nur jene, die in diesem sinnlosen Krieg geopfert wurden. Er trifft vor allem jene, die den Verheißungen der Kolonisatoren geglaubt haben und ihnen gefolgt sind. Jene, die bereit und willens waren, ihre archaischen Traditionen zu überwinden und Europäer zu werden. Sie stehen nun vor dem Nichts in einer Kultur, die sie aus deren Sicht verraten haben – der Willkür der neuen alten Herren ausgeliefert.

Dieses ist das eigentliche Drama, welches die Kolonisatoren zu verantworten haben: Sie haben Europäer geschaffen, ohne ihnen Europa geben zu können. Am Ende haben sie diese von ihnen geschaffenen, neuen Europäer schlicht im Stich gelassen – daran ändern auch die hektisch ins Leben gerufenen „Rettungsflüge“ nichts. Dieser Verrat wird nicht vergessen werden und nicht vergessen sein, wenn die Kolonialisten von Menschenrecht und Demokratie andernorts erneut antreten sollten, um die Welt nach ihren Vorstellungen zu formen.

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