Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 11-2021

(Vorläufiger) Impfstopp für AstraZeneca nur ein Symptom: Leben in der risikoaversen Gesellschaft

Die Corona-Lage hat den Taktschlag auf dem Marsch in den teuren Vollkasko-Staat erhöht. Das wird auch dadurch begünstigt, dass es in Deutschland keine unabhängige Folgekostenberechnung der wohlfeilen Wahlversprechen politischer Parteien gibt.

IMAGO / Chris Emil Janßen

Die Kanzlerin, ihr Kanzleramtschef und die SPD waren involviert, ehe am Montagnachmittag gegen 16.00 Uhr Jens Spahn den abrupten vorläufigen Impf-Stopp mit dem Vakzin von AstraZeneca verkündete. Weil 7 (!) Geimpfte im Alter zwischen 20 und 50 Jahren Hirnvenenthrombosen entwickelt hatten und drei Menschen starben, empfahl das staatliche Paul-Ehrlich-Institut der Politik diese Maßnahme bis zu einer fachlichen Klärung. Die kleine Spitzenpolitiker-Runde versteckte sich in „bester“ Beamtenmentalität hinter dem fachlichen Rat, ohne die Zahl 7 in Relation zu 1,6 Millionen bereits in Deutschland verabreichten Impfungen zu stellen. Dass die Impfverzögerung und der nachhaltige Vertrauensschaden für diesen Impfstoff weit mehr negative Corona-Krankheitsverläufe und tödliche Folgewirkungen provozieren wird, spielte für die Spitzenpolitiker im Abwägungsprozess keine Rolle. Dass in Großbritannien Millionen von Menschen mit AstraZeneca erfolgreich geimpft wurden und werden: ohne Belang! Wir in Deutschland halten das Vorsorgeprinzip hoch, weil unsere Gesellschaft jegliches Risiko ausschließen will. Doch das Leben ist nie risikolos. Das scheinen viele nicht nur in der Pandemie vergessen zu haben.

Der Vollkasko-Staat feiert fröhliche Urständ

Der Vollkasko-Staat hat sich längst als politisches Leitbild durchgesetzt. Die Corona-Lage hat den Taktschlag allerdings wieder deutlich erhöht. Das kurze Intermezzo einer Agenda-Reformpolitik, die ein SPD-Kanzler vor 18 Jahren im Bundestag brachial durchsetzte, fußte noch auf der richtigen Erkenntnis, dass der Mensch auch eine Eigenverantwortung hat: „Fordern und Fördern“ lautete ein Leitsatz von Gerhard Schröder. Gerade weil die Hartz IV-Reformen auch die Mitwirkungsbereitschaft von Menschen einforderten, die arbeitslos geworden waren, und Sozialtransfers nicht mehr als dauerhafte Stilllegungsprämien ausgezahlt wurden, erhöhte sich die Mobilität am Arbeitsmarkt. In den 15 Jahren nach Inkrafttreten der Agenda-Reformen sank die Arbeitslosigkeit in allen Altersgruppen massiv. Selbst der über Jahrzehnte beständig gewachsene und verfestigte Sockel der Langzeitarbeitslosen schrumpfte deutlich. Doch die Erfolgsgeschichte wurde so nie erzählt, weil sie nicht ins Bild der links tickenden Parteien passte. Und so kam es, wie es kommen musste: Die SPD distanzierte sich unter dem Druck der Linkspartei und zunehmend auch der Grünen ganz schnell von ihrer angeblich „neoliberalen“ Politik. Als zunehmend kleiner werdender Koalitionspartner der CDU-Kanzlerin setzte sie trotzdem die Rückabwicklung der Reformpolitik durch, weil die Kanzlerin und ihre Gefolgsleute so gut wie keinen Widerstand leisteten. Denn populär ist Widerstand gegen mehr sozialstaatliche Fürsorge auch bei der großen Mehrheit der Wählerinnen und Wähler nicht. Der fürsorgliche Staat in allen Lebenslagen steht hoch im Kurs.

Spahns Pflegeversicherungsreform ist ein Irrweg

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Der jüngste Zweig der Sozialversicherung wurde einst als Teilkasko-Versicherung konzipiert. Nicht alle Kosten der Pflege im Alter sollten von der Solidargemeinschaft übernommen werden. Wer etwa über eigenes Einkommen und Vermögen verfügt, sollte das vorrangig einsetzen müssen und nicht für die Erben schonen. Jens Spahn ist derzeit zwar politisch angeschlagen. Doch in seinem Haus wird eine Pflegereform vorangetrieben, die es in sich hat und dabei so populär daherkommt. Er will neben kleineren Leistungsverbesserungen vor allem eine bessere Entlohnung der Pflegekräfte und eine geringere Eigenbeteiligung der Heimbewohner an den Kosten. Dafür braucht er viele zusätzliche Milliarden Euro im Jahr. Damit die Beitragssätze nicht über die Maßen steigen (für Kinderlose plant er schon mal eine Erhöhung ein), will er sich Milliarden aus dem Steueraufkommen organisieren. Beim SPD-Finanzminister rennt er da offene Türen ein. Und in der CDU? Traut sich da noch jemand, ihrem Gesundheitsminister in die Parade zu fahren und das Projekt vor der Wahl zu stoppen? Tut sie das nicht, dann „möchte die Union kurz vor der Wahl den endgültigen Beleg dafür liefern, dass sie – wie die SPD – finanzpolitische Solidität und Schuldenbremse aufgegeben hat“, kommentierte absolut zutreffend Heike Göbel in der FAZ.
Was Wahlversprechen wirklich kosten

Der Marsch in den teuren Vollkasko-Staat wird auch dadurch begünstigt, dass es in Deutschland keine unabhängige Folgekostenberechnung der wohlfeilen Wahlversprechen politischer Parteien gibt. Gerade in diesem Wahljahr stellen sie wieder sündhaft teure Projekte ins Schaufenster, unterschlagen aber, dass die Zeche teuer wird und von den Wählern selbst mit immer höheren Steuern und Abgaben bezahlt werden muss.

In den Niederlanden gibt es ein staatliches Institut, das CPD (Centraal Planbureau), das wenige Monate nach dem II. Weltkrieg gegründet wurde. Eine öffentlich in den Wahljahren besonders beachtete Arbeit dieser Institution besteht darin, die Wahlprogramme der Parteien auf ihre Kostenfolgen zu untersuchen und die Ergebnisse vor der Wahl öffentlich zu machen. Obwohl diese Behörde zum Wirtschaftsministerium gehört, ist ihre Arbeit durch die Gründungssatzung in ihrer Unabhängigkeit geschützt. Fast alle bedeutenden Parteien in den Niederlanden legen ihre Wahlprogramme der CPD zur Analyse vor. Die Ergebnisse sind oft alles andere als schmeichelhaft, weil sich auch in den Niederlanden der Trend zu immer mehr Staat in den Wahlprogrammen spiegelt. Aber immerhin sorgt das CPD dafür, dass die Wähler konkret erfahren, was die Umsetzung der jeweiligen Parteiprogramme kosten würde. Die niederländische Institution ist die einzige ihrer Art in Europa. Leider!

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