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METZGERS ORDNUNGSRUF 45-2019

„Verfassungswidrig, ineffizient und ungerecht“: Prof. Ruland verreißt die Grundrente der Koalition

Franz Ruland ist nicht irgendwer. Der Mann war 13 Jahre lang Geschäftsführer des Verbands der Rentenversicherungsträger und lange Sozialdemokrat.

imago images / photothek

Am Dienstag noch bügelte die Unions-Fraktion ihre Grundrenten-Kritiker gnadenlos ab und stimmte, wie von der Kanzlerin und der Parteiführung vorgegeben, in das sozialdemokratische Loblied auf die endlich gefundene Lösung bei der Grundrente ein. Schon anderntags machte in Berlin ein Gutachten des renommierten Rentenexperten Prof. Franz Ruland die Runde, das einem Komplett-Verriss dieser Grundrente gleichkommt. Ruland war nicht nur fast 13 Jahre lang Geschäftsführer des Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR), bis der 2005 als Teilkörperschaft in die Deutsche Rentenversicherung Bund umgewandelt wurde. Von 2009 bis 2013 war er dann nochmals in verantwortlicher Position als Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung tätig.

Der Mann weiß also, wie die Rentenversicherung funktioniert. Und er lässt kein gutes Haar an dem faulen Kompromiss, den Unions- und SPD-Spitzen im Ringen um eine Fortsetzung dieser Koalition am vergangenen Sonntag gefunden haben.

Einige Kernpassagen aus seinem Gutachten:

„Die Erleichterung darüber, dass sich die Koalition nun doch noch auf einen Kompromiss bei der Grundrente durchgerungen hat, wird aber nicht lange vorhalten. Gegen den Vorschlag von Minister Heil zur Grundrente gab es bereits zahlreiche Einwände. Die fehlende Bedürftigkeitsprüfung war ein sehr wichtiger. Er soll durch die nun vorgesehene Prüfung des Bedarfs ausgeräumt werden, was aber nur zum Teil gelingt. Es war aber auch nur ein Einwand unter vielen. Die anderen Gegengründe bleiben und werden dazu führen, dass die Grundrente, so wie sie jetzt geplant ist, nicht Gesetz wird.“

„Dass Versicherte mit weniger als 35 Jahren Beitragszeiten bei der Grundrente und bei dem Freibetrag in der Grundsicherung leer ausgehen, ist nicht nur ungerecht, es lässt das gesamte Modell verfassungswidrig werden.“

„Sehr problematisch ist zudem, dass auch der keine Grundrente erhält, der nach 30 Versicherungsjahren erwerbsunfähig geworden ist.“

„Von den Versicherten, die mehr als 35 Versicherungsjahre aufweisen, bezog nach dem Alterssicherungsbericht der Bundesregierung 2016 nur ein (!) Prozent ergänzende Leistungen der Grundsicherung (…) Das macht deutlich, dass die geplante Grundrente kein Instrument ist, Altersarmut zu bekämpfen.“

„Hinzu kommt, dass die Grundrente entgegen anderslautenden Beteuerungen Frauen benachteiligen würde. Im Rentenbestand 2017 haben nur knapp 40 Prozent der Frauen, die eine Altersrente bezogen, 35 und mehr Beitragsjahre zurückgelegt, bei den Männern waren es knapp 80 Prozent.“

Auch die von Ruland in seinem Gutachten aufgeworfenen Fragen haben es in sich:
„Zählen für die 35 Jahre die ersten oder die letzten Versicherungsjahre? Wie wirkt sich die Grundrente im Versorgungsausgleich oder bei einem Rentensplitting aus? Wie erfolgen die Einkommensprüfung und der Datenaustausch bei nicht ehelichen Lebensgemeinschaften? Ein Verzicht hierauf würde Verheiratete ungleich behandeln und wäre mit Art. 6 GG unvereinbar.“

Beispielrechnungen belegen neue Ungerechtigkeiten

Wie ungerecht sich der Grundrenten-Kompromiss auf stilisierte Rentnerbiografien auswirkt, zeigen aktuelle Beispielrechnungen der Prognos AG. Von Anerkennung der Lebensleistung kann wohl keine Rede sein, wenn man sich folgendes Beispiel anschaut.

Rentner A, nennen wir ihn Emil, fällt knapp, aber noch in die Zielgruppe der Grundrente. Er hat zwischen 1984 und 2018 – also genau 35 Jahre – durchgehend gearbeitet. Sein Jahresarbeitsentgelt entsprach während dieser Zeitspanne jeweils 40 Prozent des durchschnittlichen Jahresarbeitsentgelts in Deutschland. Auf sein Einkommen zahlte er Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung, deren Beitragssätze in diesen 35 Versicherungsjahren zwischen 17,5 und 20.3 Prozent schwankten. Die Hälfte seiner Beiträge wurde von seinem Arbeitnehmerbruttolohn monatlich einbehalten und auf sein Rentenkonto einbezahlt, die andere Hälfte überwies sein Arbeitgeber. In absoluten Werten kam so über die Jahre eine Beitragssumme von 93.200 Euro zusammen. Im Gegenzug schrieb die Rentenversicherung dem besagten Rentner Emil über die 35 Jahre hinweg jeweils 0,4 Entgeltpunkte gut, insgesamt also 14 Entgeltpunkte. Jedem Entgeltpunkt steht derzeit ein Rentenwert in Höhe von rund 33 Euro gegenüber. Die derzeitige gesetzliche Rente von Emil beträgt damit rund 463 Euro.

Emil würde von der Grundrente stark profitieren, unterstellt, dass er außer der gesetzlichen Rente über kein weiteres Einkommen verfügt. Seine erworbenen Entgeltpunkte würden sich in einem ersten Schritt auf 0,8 jährlich verdoppeln. In einem zweiten Schritt würde dieser Zuschlag dann, wie von der Koalition beabsichtigt, wieder um 12,5 Prozent abgesenkt. In der Summe erreicht Emil dann insgesamt gut 26 Entgeltpunkte. Seine Altersrente beträgt dann entsprechend 868 Euro.

Was Emil mächtig freut, dürfte Rentnerin B, nennen wir sie Erna, mächtig aufregen. Sie hat zwei Jahre später als Emil zu arbeiten angefangen. In den 33 Beitragsjahren von 1986 bis 2018 verdiente sie im Durchschnitt mit jeweils 42,4 Prozent des durchschnittlichen Jahresarbeitsentgelts in Deutschland geringfügig mehr als Emil. Insgesamt zahlte sie in ihrer Erwerbsbiografie – wieder Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge aufsummiert – 93.900 Euro in die Rentenkasse ein. Weil sie aber die 35 Beitragsjahre als Voraussetzung der großkoalitionären Grundrente nicht erfüllt, bleibt ihre Rente bei 462 Euro im Monat. Emil erfreut sich dagegen fast einer Verdoppelung seines ursprünglichen Rentenanspruchs.

Nehmen wir jetzt noch einen Rentner C, nennen wir ihn Horst, der ebenfalls 35 Jahre gearbeitet, allerdings deutlich mehr verdient hat als Emil und Erna. Während seines Arbeitslebens kam er auf jeweils 80 Prozent des durchschnittlichen Jahresarbeitsentgelts. Seine Einzahlungen aus Pflichtbeiträgen in die gesetzliche Rentenversicherung beliefen sich auf insgesamt 186.400 Euro. In den 35 Versicherungsjahren bekam er dafür jeweils 0,8 Entgeltpunkte gutgeschrieben. Seine insgesamt 28 Entgeltpunkte bedeuten für ihn eine Monatsrente von 925 Euro. Damit liegt Horst über dem Schwellenwert, ab dem die Grundrente greifen würde. Deshalb bleibt seine Rente bei 925 Euro. Obwohl er doppelt so viel eingezahlt hat wie sein Rentnerkollege Emil, bleibt ihm eine Rente, die kaum höher ist als dessen massiv aufgestockte Rente.

Gerechtigkeit in einem Rentenversicherungssystem sieht anders aus. Und Armutsbekämpfung auch! Diese Grundrente darf nicht Gesetz werden. Da hat Prof. Ruland absolut recht.

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