Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 01-2021

Das Renteneintrittsalter und der südeuropäische Populismus

Nicht nur Corona, sondern auch der Demographie geschuldet: Nach 14 Jahren sinkt in Deutschland erstmals die Zahl der Erwerbstätigen. Die Schieflache des deutschen Rentensystems wird unübersehbar und die inneneuropäischen Unterschiede im Renteneintrittsalter bergen enormes Erregungspotenzial.

picture alliance / blickwinkel/allOver/TPH

Was das Statistische Bundesamt am Montag verkündete – Erwerbstätigkeit 2020: Aufwärtstrend am Arbeitsmarkt nach 14 Jahren beendet – Statistisches Bundesamt (destatis.de) – stellt für den Arbeitsmarkt in Deutschland eine Zäsur dar: Nach 14 Jahren einer außerordentlich dynamischen Entwicklung maßen die Statistiker im vergangenen Jahr erstmals wieder einen Rückgang der Erwerbstätigenzahl. Nicht einmal in den globalen Finanzkrisenjahren 2008/2009 war der Aufschwung unterbrochen worden, der nach den Agenda 2010-Beschlüssen unter Kanzler Gerhard Schröder eingesetzt hatte. Um sagenhafte 5 Millionen stieg die Zahl der Erwerbstätigen mit Arbeitsort in Deutschland zwischen 2007 und 2019. Im vergangenen Jahr, dem Corona-Pandemie-Jahr, sank die Zahl dagegen von 45,27 Millionen auf knapp 44,8 Millionen Erwerbstätige. Bis auf den Bausektor verzeichneten alle Branchen – Dienstleistungen, produzierendes Gewerbe und die Land- und Forstwirtschaft – Rückgänge.

Die Lockdowns haben vor allem in der Gastronomie, im Tourismus und im Kulturbetrieb einen kräftigen Rückgang bei den marginal Beschäftigten, den Minijobbern, ausgelöst. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer blieb dagegen wegen der Kurzarbeit weitgehend stabil. Dass dagegen die Zahl der Selbständigen im Corona-Jahr deutlich um rund 153.000 Personen zurückging, verwundert nicht – ein besorgniserregender Trend allerdings, der bereits neun Jahre anhält, sich in der Krise aber verschärfte. Zwei Sätze in der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts aber haben es in sich, weil sie auf das demographische Problem aufmerksam machen, das den Arbeitsmarkt, die Sozialkassen und den Staatshaushalt in diesem Jahrzehnt auch nach der Corona-Krise mit voller Wucht erfassen wird: „Allerdings wäre der seit 2007 dauernde Beschäftigungszuwachs vermutlich auch ohne die Corona-Krise bald zum Ende gekommen, da das Erwerbspersonenpotenzial aufgrund des demografischen Wandels schwindet. Diese Entwicklung wird derzeit immer schwächer durch eine höhere Erwerbsbeteiligung der inländischen Bevölkerung sowie die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte kompensiert.“

Die Babyboomer gehen in Ruhestand

Die zwischen 1955 und 1967 geborenen und geburtenstarken Jahrgänge wechseln jetzt und in den kommenden Jahren in den Ruhestand. Weil deutlich mehr Menschen aus dem Erwerbsleben ausscheiden als jüngere Erwerbstätige nachrücken, geraten vor allem die Altersversorgungssysteme unter Druck. In der gesetzlichen Rentenversicherung sinken die Beitragseinnahmen, zum anderen wachsen die Ausgaben. Weil die Großen Koalitionen in der Ära Merkel gleichzeitig teure Ausgabensteigerungen beschlossen haben (abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren; Mütterrenten; Grundrente; doppelte Haltelinie), wurde das zurückliegende gute Jahrzehnt der Rentenversicherung nicht zur demographischen Vorsorge genutzt, sondern schlicht verprasst. Auch die Ausgaben für die teure Beamtenversorgung, die fast komplett aus Steuermitteln in den Bundes- und Länderhaushalten bezahlt werden müssen, kennen nur eine Richtung: sie steigen. Innerhalb des letzten Jahrzehnts erhöhten sich die staatlichen Pensionsausgaben von knapp 50 Milliarden Euro auf rund 73 Milliarden Euro jährlich.

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Doch um die heiklen Themen bei der demographischen Altersversorgungs-Problematik macht die Politik – Regierung wie Opposition – einen großen Bogen. Dabei können sich alle, die Adam Riese beherrschen, ausrechnen, dass eine steigende Lebenserwartung der Versicherten nichts anderes als eine laufende Rentenerhöhung darstellt. Denn eine längere Rentenbezugsdauer erhöht die Rentenauszahlungssumme, die von den erwerbstätigen Beitragszahlern, deren Zahl im Gegensatz zu den Rentenbeziehern aber sinkt, mit immer höheren Beiträgen und Steuern bezahlt werden muss. Eine relativ einfache Lösung läge in der Koppelung des regulären Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung. Das bisherige Renteneintrittsalter von 67 Jahren, das nach bestehender Rechtslage aber erst 2031 ab Geburtsjahrgang 1964 gilt, reicht nicht zur Abmilderung der demographischen Folgelasten. Eine Reihe von nordeuropäischen Staaten hat diese Lösung bereits auf den Weg gebracht. Die Diskussion darüber muss auch in Deutschland wieder Fahrt aufnehmen, weil man solche unpopulären Entscheidungen, die sich auf die Lebensplanung von Millionen Menschen auswirken, mit langem Vorlauf treffen muss. Doch an dieser Entscheidung wird die Politik auch bei uns nicht vorbeikommen. Denn die Hoffnung, mit besserer Bildung und höherer Produktivität ließe sich die Wertschöpfung des sinkenden Erwerbspersonenpotentials steigern, erscheint mehr als fahrlässig.
Ein populistischer Brandbeschleuniger: Dolce vita in Südeuropa?

Wer mit rentennahen Jahrgängen diskutiert, weiß um die Emotionalität des Themas. Ganz häufig wird die lange Rentenbezugsdauer in europäischen Nachbarländern ins Feld geführt, wenn man das Reizthema Erhöhung des deutschen Renteneintrittsalters anspricht. Denn in Griechenland, Italien und Spanien beziehen Männer im Durchschnitt rund 21 Jahre Rente, Frauen mehr als 25 Jahre. In Frankreich genießen Männer ihre Rente 22,7 Jahre lang, Frauen sogar 26,9 Jahre. Die Zahlen basieren auf Daten der OECD. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Rentenbezugsdauer für Männer bei 19,1 Jahren, für Frauen bei 22,5 Jahren. Der Grund für die längere Bezugsdauer in den anderen EU-Staaten liegt fast ausschließlich in einem früheren Renteneintrittsalter als bei uns.

„Warum sollen wir in Deutschland noch später in Rente gehen, wenn Italiener und Spanier so früh in Rente gehen dürfen? Die EU überweist jetzt hunderte Milliarden an Transfers aus dem Corona-Wiederaufbaufonds an diese Länder. Deutschland trägt davon netto den Löwenanteil. Dann sollen die doch erstmal in ihren teuren Rentensystemen sparen.“ Solche Sätze fallen häufig und sie belegen das Erregungspotential im politischen Meinungskampf. In den „Club Med“-Staaten scheuen Politiker unpopuläre Reformen ihrer Alterssicherungssysteme – aus Angst vor dem weiteren Aufwachsen „populistischer“ Parteien. Deshalb bedienen italienische und spanische Politiker auch jetzt das sozialpolitische Füllhorn, wenn sie darum wetteifern, wie die Unsummen an EU-Geldern aus dem Corona-Wiederaufbaufonds ausgegeben werden sollen. Vorrang haben meist sozialpolitische Versprechungen. Von Investitionen ist selten die Rede, von Strukturreformen der Sozialsysteme schon gar nicht.

Den deutschen Parteien ist gerade im Bundestagswahljahr zu raten, das Verhetzungspotential im Auge zu behalten, das aus dieser europäischen Schieflage resultiert. Denn auf Dauer wird die Geber-Mentalität überstrapaziert, wenn Deutschland nicht auch die Notwendigkeit von Rentenreformen in den Nehmerländern einfordert. Glaubwürdig sind in einer solchen Reformdebatte aber nur die Parteien, die auch die Notwendigkeit von weiteren Strukturreformen im deutschen Renten- und Pensionssystem auf der politischen Agenda haben.

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