Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 35-2019

„Laufzeiten“-Verlängerung für Merkel & Co.

Zwar erodieren die Wahlergebnisse der Volksparteien weiter. Aber Sachsen bleibt schwarz, Brandenburg rot regiert. Urplötzlich wirkt die GroKo stabilisiert.

Maja Hitij/Getty Images

Trotz der historisch schlechten Ergebnisse in Sachsen und Brandenburg freuen sich Christ- wie Sozialdemokraten wie Bolle: In ihrer Lesart haben sie das schwarze und rote Land gehalten, weil sie – in neuen Dreier-Koalitionen zwar – nach wie vor die Ministerpräsidenten stellen. Dass die AfD in Sachsen trotz oder gerade wegen des lautstarken „Nazis-Raus“-Sounds der etablierten Parteien ihre Wählerschaft fast verdreifachte und in Brandenburg nahezu verdoppelte: geschenkt! Mit denen will die „freundliche“ Mehrheit nichts zu tun haben, von denen die Herren Woidke (SPD) und Kretschmer (CDU) am Wahlabend unisono sprachen. Der Kampf gegen rechts vereint die etablierten Parteien. Linke, Grüne, FDP, SPD und Union eint nur eins: die AfD. „Klare Abgrenzung“ postuliert die geschwächte CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer auch nach der Wahl, obwohl sie mit ihrer Maaßen-Maßregelung in der Endphase des Wahlkampfs eher der AfD als der CDU genutzt hat.

Das Paradoxon des Wahlausgangs – Klatsche für die erodierenden Volksparteien, Absturz der Linken, Scheitern der FDP an der Fünf Prozent-Hürde, gemessen an der Erwartungshaltung bescheidenen Zuwächsen der Grünen – erlebt man aber im politischen Berlin. Die Laufzeit der abgewirtschafteten Großen Koalition wird sich verlängern. Der Eindruck ist im Regierungsviertel mit Händen zu greifen. Von Endzeit-Stimmung ist nach der Sommerpause nicht mehr die Rede. Angela Merkel hat alle Chancen, ihre Verweildauer im Amt auf Helmut Kohl-Niveau zu verlängern. Auch wenn der sozialdemokratische Partner jetzt einen mühsamen Personalausleseprozess für die Kür eines neuen Vorsitzenden-Duos startet, der sich bis zu einem Parteitag im Dezember hinzieht und die GroKo-kritischen Kandidaten klar überwiegen: Die Koalition in Berlin stabilisiert sich nicht nur, weil die erodierenden Volksparteien Neuwahlen nach wie vor fürchten. Union und SPD werden sich jetzt um grüne Zeitgeist-Themen kümmern und beim Klimagipfel am 20. September und den sich anschließenden Gesetzgebungsinitiativen im Bundestag inhaltliche Handlungsfähigkeit beweisen. Das schweißt zusammen, vor allem dann, wenn zur Abwechslung auch die Grünen Umfragewerte wieder schmelzen. Außerdem kann niemand behaupten, dass die SPD den überwiegend sozialdemokratisch geprägten Koalitionsvertrag bis zur Halbzeitbilanz im Herbst nicht abgearbeitet haben wird. So viel Sozialdemokratie war selten im Land. Warum also sollte die gebeutelte Partei dann frustriert in die Opposition marschieren?

Bemerkenswert nach diesem Wahlsonntag ist auch die weitere Stärkung der Rolle der Grünen im Bundesrat. Obwohl ihr Wahlergebnis unter den eigenen Erwartungen lag, werden sie sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen in die Regierung aufsteigen. Damit erhöht sich die Zahl der Regierungsbeteiligungen der Grünen auf 11. Insgesamt können die Grünen damit in der Länderkammer, dem „Parlament“ der 16 Landesregierungen, 41 Stimmen beeinflussen. Die absolute Mehrheit im Bundesrat liegt bei 35 Stimmen. Weil die Regierungsparteien in den Ländern grundsätzlich in ihre Koalitionsverträge schreiben, dass sich das Land bei Uneinigkeit über Gesetzesinhalte des Bundes enthalten muss, können die Grünen alle ihnen missfallenden Zustimmungsgesetze der schwarz-roten Bundesregierung im Bundesrat ausbremsen oder in ihrem Sinn über den Vermittlungsausschuss verändern.

Was hellsichtige Politiker wie Roman Herzog, Klaus von Dohnanyi oder Erwin Teufel schon vor mehr als einem Jahrzehnt angesichts der immer bunter werdenden Regierungslandschaft in den Ländern vergeblich anmahnten, manifestiert sich in der politischen Praxis immer stärker. Weil ein Land nur einheitlich abstimmen kann, können kleine Koalitionspartner mit der Enthaltungskarte ihre großen Regierungspartner ausbremsen, selbst dann, wenn diese auf Bundesebene mitregieren. Denn Enthaltungen im Bundesrat wirken wie Neinstimmen, weil für die erforderliche Mehrheit immer die absolute Mehrheit von mindestens 35 Stimmen notwendig ist. Doch den Vorstoß der oben genannten „elder statesmen“, Enthaltungen nicht mehr als Neinstimmen zu werten, lehnten die Parteien rundheraus ab. Denn mit diesem wohlfeilen Instrument können die Länder dem Bund regelmäßig auch finanzielle Zugeständnisse abtrotzen, wenn er für seine Zustimmungsgesetze ihre Stimmen braucht. Dieser Stimmenkauf höhlt sein vielen Jahren den Föderalismus aus, weil sich die Länder inzwischen sogar originäre Kernkompetenzen abkaufen lassen. Der Marsch in den Zentralstaat hat längst begonnen.

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