Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 12-2021

Bremst das Bundesverfassungsgericht den Teilverzicht des Bundestags auf sein Budgetrecht?

Die Bundestagsmehrheit für NGEU, das 750-Milliarden-Corona-Paket der EU, ist sicher. Mit einem Eilantrag will das „Bündnis Bürgerwille“ die Ausfertigung durch den Bundespräsidenten stoppen, die den teilweisen Verzicht auf das Budgetrecht des Bundestages bedeuten würde.

imago Images/Political Moments

Während sich die deutsche Öffentlichkeit vor allem über die Irrationalitäten der aktuellen Corona-Politik empört – „Stille Ostern“, statt testen und impfen! – , kulminieren in dieser Woche im Windschatten dieses Furors gleich zwei finanzpolitische Kollateralschäden der Corona-Pandemie.

Am heutigen Mittwoch winkt das Bundeskabinett die Eckpunkte für den Bundeshaushalt 2022 und die mittelfristige Finanzplanung durch, die Olaf Scholz als Kabinettsvorlage einbringt. Das Defizit für 2022 wird 81,5 Milliarden Euro betragen und zum dritten Mal in Folge die Aussetzung der grundgesetzlichen Schuldenregel erforderlich machen. Außerdem verabschiedet das Kabinett einen Nachtragshaushalt für das laufende Jahr, mit dem die Nettokreditaufnahme um 60 Milliarden Euro auf sagenhafte 240 Milliarden Euro katapultiert wird. Damit ist Olaf Scholz mit Riesenvorsprung der Schuldenkönig aller deutschen Finanzminister, der den aktuellen Bundeshaushalt mit Ausgaben von knapp 548 Milliarden Euro zu mehr als 50 Prozent mit Krediten finanziert.

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Egal, welche Regierungskonstellation Deutschland nach der Bundestagswahl im September regieren wird: Die Schuldenregel im Grundgesetz, mit der im vergangenen Jahrzehnt der Marsch in den Schuldenstaat erfolgreich gestoppt wurde, steht zur Disposition. SPD, Grüne und Linke fordern die Abschaffung. AfD und FDP sind dagegen. Die Union wird garantiert mit Verweis auf die Zahlen einknicken. Kanzleramtsminister Helge Braun war ja bereits vor Wochen mit dieser Forderung vorgeprescht.
Nationales Budgetrecht wird der EU-Kreditaufnahme geopfert

Ein europapolitischer Kollateralschaden entfaltet an diesem Donnerstag im Deutschen Bundestag seine Wirkung. Um 09.00 Uhr wird der harmlos klingende Tagesordnungspunkt „Eigenmittel der EU“ im Reichstagsgebäude aufgerufen. Ob sich viele Abgeordnete am Donnerstagvormittag bewusst sind, welche Zäsur ihre Zustimmung zum sogenannten „Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz (ERatG)“ für die nationale Souveränität unseres Landes bedeutet, darf bezweifelt werden.

Zu den vornehmsten Rechten (und Pflichten) des Parlaments eines wahrhaft souveränen Staates gehört das Budgetrecht. Doch mit diesem Eigenmittelbeschluss werden nicht nur die Regierungsparteien aus Union und SPD, sondern auch die Grünen eine Ermächtigung zur Kreditaufnahme der EU erteilen, die euphemistisch als „Next Generation EU (NGEU)“-Paket vermarktet wird und vorgeblich der Bekämpfung der Corona-Pandemiefolgen dient. Laut Artikel 310 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der EU) war das jährliche Budget der EU bisher in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen. Zu den Einnahmen gehört aber nicht das Recht auf eigene EU-Kreditaufnahmen. Denn Schulden sind Fremdkapital, keine Eigenmittel. Zu den Eigenmitteln der EU zählen beispielsweise Zölle, die Anteile an der Mehrwertsteuer der Mitgliedstaaten und Eigenmittel auf der Grundlage des Bruttonationaleinkommens der Mitgliedstaaten, die diese an die EU überweisen.

Mit dem NGEU wird jetzt ein europäischer Sonderhaushalt geschaffen, der die aufgenommenen Kredite dem EU-Haushalt zuführt. Dort werden sie als „sonstige Einnahmen“ verbucht. Mit diesem Trick versucht die EU-Administration der Vorgabe des Art. 310 AEUV Genüge zu tun, Einnahmen und Ausgaben auszugleichen. Der Applaus der Eurokraten für diesen Umgehungstatbestand ist gewiss. Auch der Europäische Gerichtshof wird dieser Rechtsbeugung im Streitfall sicher seinen Segen geben.

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Wer erinnert sich nicht an die alten Debatten vor der Aufgabe der Deutschen Mark, als Helmut Kohl und Theo Waigel die Deutschen mit der „No-Bail-Out-Klausel“ in den Maastricht-Verträgen beruhigen wollten: Kein Staat muss für die Schulden eines anderen Staates in der Euro-Währungsunion haften. Weder der Euro-Raum noch die EU sollten in einer Schuldenunion enden. Im Euro-Raum wird längst vom europäischen Norden in den Süden transferiert. Die EZB ist mit ihrer unorthodoxen Geldpolitik und ihren Anleihekäufen längst zum Transmissions-Katalysator geworden. In der Corona-Pandemie hat die europäische Politik jetzt den entscheidenden Vorwand gefunden, auch das gemeinsame Kreditaufnahmeverbot außer Kraft zu setzen. Was im „NGEU“-Paket als Wiederaufbauhilfe für besonders von den Folgen der Pandemie betroffene Länder deklariert wird, hat damit allerdings wenig zu tun. In Wahrheit handelt es sich eher um einen neuen Arm der mittelfristig angelegten europäischen Kohäsionspolitik. Das belegen der Zeithorizont, die Verteilungswirkungen, die Mittelverwendung und auch die Bindung an das Europäische Semester.

Italien gibt beispielsweise von den zugesagten 209 Milliarden Euro an EU-Transfers in diesem Jahr gerade mal knapp 40 Milliarden Euro für die Bekämpfung der Corona-Folgen aus. Große Summen dürften in die soziale Klientelpflege fließen, mit der Italiens Parteien ihre Wählerschaft bei Laune halten wollen. Eine ökonomische Ertüchtigung durch sinnvolle Strukturreformen und Investitionen wird durch die europäische Geldflut in den Krisenstaaten eher behindert als gefördert. Doch für dieses Laissez-faire haften künftig die solideren Mitgliedstaaten mit. Allein Deutschland ist im Falle des Staatsbankrotts eines großen Schuldnerlandes mit hohen zweistelligen Milliardensummen im Obligo. Mit der Zustimmung zu dieser EU-Schuldenvergemeinschaftung verzichtet der Deutsche Bundestag also auf sein originäres Budgetrecht.

Stoppt das Bundesverfassungsgericht die Ratifizierung?

Mit einem Eilantrag versucht das „Bündnis Bürgerwille“ (www.buendnis-buergerwille.de), das Karlsruher Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zum vorläufigen Stopp der Ratifizierung des „Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes“ zu bewegen. Hinter der Verfassungsbeschwerde stehen unter anderem die Professoren Bernd Lucke, Joachim Starbatty und Roland Vaubel sowie Hans-Olaf Henkel. Am Montag hat der Marburger Professor Hans-Detlef Horn in deren Auftrag den Eilantrag in Karlsruhe eingereicht und die Vorsitzende Richterin des Zweiten Senats, Doris König, gleichzeitig ersucht, auf den Bundespräsidenten einzuwirken, damit er seine Unterschrift bis zur Entscheidung über den Eilantrag nicht unter das vom Bundestag am Donnerstag voraussichtlich beschlossene Gesetz setzt. Denn sobald Frank-Walter Steinmeier das Gesetz mit seiner Unterschrift ausfertigt, entfaltet es seine völkerrechtliche Bindungswirkung. Es müsste allerdings schon ein Wunder geschehen, wenn die Karlsruher Verfassungsrichter dem Eilantrag stattgeben würden. Deshalb steht zu befürchten, dass die Preisgabe der nationalen Budgethoheit ebenso zu den kapitalen politischen Kollateralschäden der Pandemie zählt wie die Aufgabe der grundgesetzlichen Schuldenbremse.

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