Tichys Einblick
Mehrwertsteuerwahnsinn

Viel Aufwand für wenig Ertrag

Die Bundesregierung glaubt, mit der Mehrwertsteuersenkung Kunden wie Geschäftstreibende mobilisieren zu können. Doch Aufwand und Nutzen heben sich bei verringerten Umsätzen fast auf. Neue Kassensysteme zur Steuerkontrolle, Bon-Zwang und zweimalige Kassenumstellungen verursachen nur Kosten, die zeitweise reduzierten Steuern kommen beim Kunden kaum an.

imago/Christian Ohde

Wenn die Regierenden nicht ihre Beamten oder Konzerne, sondern normale hart arbeitende Menschen gefragt hätten, wären sie schlauer geworden. Sie hätten wichtige Fragen vorher klären können: Was bringt eine Mehrwertsteuersenkung für nur sechs Monate Gewerbetreibenden? Welcher Aufwand kommt für die zweimalige Kassenumstellung auf sie zu? Was haben die Konsumenten davon? Die Mehrwertsteuer soll ja nur ein halbes Jahr von 19 auf 16 Prozent sinken, also auf den Satz, bevor CDU-Kanzlerin Angela Merkel 2005 eine große Koalition mit der SPD einging. Zudem reduziert sich vom 1. Juli bis 31. Dezember auch der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von sieben auf fünf Prozent für Grundnahrungsmittel, Presseerzeugnisse und Übernachtungen. Falls man die Senkung an die Kunden weiterreicht, müssen für kurze Zeit neue Preise ausgewiesen werden.

Wird die Bild-Zeitung in Berlin dann für 98 Cent statt für einen Euro angeboten, und zwar streng genommen schon um 1/10 Cent abgerundet? Wird eine Hotelübernachtung dann von 100 auf 98,1 Euro sinken und so Gäste anlocken? Oder ein Stück Angebotsbutter für 1,36 statt 1,39 Euro im Supermarkt-Regal stehen? Wohl kaum. Denn viele Hotelbetreiber oder Friseure erheben schon wegen zusätzlicher Kosten Hygienezuschläge. Außerdem dürfen Hotels ihre Häuser nur bis maximal 60 Prozent auslasten.

Seit 2005 zahlt jeder 19 Prozent „Merkelsteuer“

So sieht’s ab Juli für sechs Monate aus: Bei Speisen sinkt die Mehrwertsteuer für im Restaurant sitzende Gäste kurzzeitig von 19 auf sieben Prozent, bei Getränken jedoch nur von 19 auf 16 Prozent. „Obwohl Getränke für Gaststättenbetreiber die größte Gewinnmarge bringen“, weiß Michel Brinck, Unternehmensberater und Gutachter für die Gastronomie. Er hört zudem von Gästen, ab Juli würden die Preise in den Gaststätten für Speisen und Getränke sinken. „Aber das ist nicht der Plan. Die Steuern sollten gesenkt werden, um den Gastronomen eine Finanzhilfe nach der Krise zu gewähren“, dämpft Brinck, die von Politik und Presse ausgelösten Erwartungen. Vor allem viele Medien haben die Koalitionsbeschlüsse nicht richtig oder nur oberflächlich dargestellt.

Das hat auch Gastronomin Yvonne Reichelt aus dem sächsischen Kurort Seiffen beobachtet. In ihrer Gaststätte „Holzwurm“ gab es früher 80 Plätze drinnen und gut 50 im Freien auf der Terrasse. Heute sind es wegen der Corona-Vorschriften nur noch rund 50 Prozent. Wirtin Reichelt sieht nur wenig Sinn in der aktuellen Politik der großen Koalition: „Aufwand und Nutzen stehen bei dieser Mehrwertsteueroperation der Bundesregierung in keinem Verhältnis“, meint die Gastronomin. „Die Preise werden aber nicht sinken, da die niedrigeren Mehrwertsteuern nur unsere Ausfälle etwas ausgleichen.“

Eine Senkung der Mehrwertsteuern ohne Befristung wäre vernünftiger als der beschlossene Bundes-Steuer-Zick-Zack: „Aber jetzt müssen wir Gastronomen vom 1. Juli bis 31. Dezember die Mehrwertsteuer für Speisen auf fünf Prozent in unseren Kassen programmieren. Aber ab 1. Januar bis 30. Juni 2021 dann auf sieben Prozent wieder umstellen und ab 1. Juli 2021 wieder auf 19 Prozent Mehrwertsteuer ändern“, erklärt Yvonne Reichelt den geplanten Steuerwahnsinn. Zudem müssten Getränke vom 1. Juli bis 31. Dezember von 19 auf 16 Prozent und ab Januar dann wieder auf 19 Prozent umprogrammiert werden.

Am Ende bleibt für die ebenso hart arbeitende Mittelschicht immer nur das Gefühl eine Melkkuh zu sein: „Für unsere tägliche Arbeitsleistung, die von uns hart erwirtschaftete und an den Staat abgeführte Mehrwertsteuer von 19 Prozent, dafür hat sich noch keiner bedankt“, betont Holzwurm-Wirtin Reichelt.

Termine für Kassenumstellungen – Mangelware

Obendrein verursachen die Kassenumstellungen vielen kleinen Geschäften Probleme und Ausgaben. „Wir haben bereits ein modernes TSE zertifiziertes Kassensystem für erhebliche Kosten angeschafft“, berichtet Yvonne Reichelt. Da ginge die digitale Umstellung etwas leichter. Aber wer so ein modernes System nicht besitzt, sei vor Ort auf die Umstellung einer Kassenfirma angewiesen, wenn ihre Kollegen überhaupt jetzt einen Termin dafür bekämen.

Mangelware wird wieder zu einem Alltagsbegriff in Merkels Deutschland. Besonders kleinen Gaststätten und Einzelhändlern kann die zweimalige Umstellung der Mehrwertsteuern auf ihren Kassen für nur sechs Monate teuer zu stehen kommen. „Weil die Steuerdaten der Kassen für Händler und Gastronomen nur durch einen zertifizierten Experten der Kassenherstellerbranche geändert werden können“, erklärt Gutachter Brinck. Das Problem: Die meisten Standard-Kassen für kleine Händler seien von vorherein nur mit den fixen Steuersätzen sieben und 19 Prozent versehen. Im Schnitt könne die Umstellung für Artikel in einer Warengruppe jeweils 49 Cent kosten, wissen Branchenexperten wie Brinck.

Kleine Geschäfte, wie das einer Weinhändlerin in Berlin, befürchten neben höheren Kosten auch noch, dass sie bis zum 1. Juli keinen zertifizierten Experten bekommen, weil alle einen brauchen. Und nach den Weihnachtsfeiertagen geht vor dem 1. Januar 2021 das staatlich organisierte Mehrwertsteuer-Theater wieder los, und dies alles bei gesunkenen Umsätzen.

Onlinekassensysteme hingegen wie die beim „Holzwurm“ in Seiffen können die Änderungen ohne großen Aufwand einspeisen. Dennoch muss auch diese digitale Umstellung zertifiziert sein und wird Geld kosten.

Steuerkontrolle und Bon-Zwang kommen als Belastung hinzu

Bäckermeister Walter Köhler aus Graben-Neudorf in Baden-Württemberg kann für viele Kollegen ein ähnlich kritisches Lied singen. Seit 1800 in Familienbesitz betreibt seine Landbäckerei mit 35 Filialen und gut 250 Mitarbeitern im Raum Karlsruhe, Mannheim und Heidelberg unter dem Label „Laib & Leben“ auch Cafés und Bistros mit Gastronomie.

Aber alle Kassen müssen nun bis Oktober mit neuen Updates umgestellt werden. Die Bundesregierung beschloss im Herbst 2019 die Technische Sicherheitseinrichtung (TSE) zur Vermeidung von Steuerbetrug. Schummeln an der Kasse war ohnehin kaum noch möglich. Die Steuerprüfer konnten schon seit 2018 eine unangekündigte Kassenprüfung jederzeit durchführen. Die sogenannte TSE wird jetzt als doppelte Kontrolle noch obendrauf gesetzt. „So wird nur Eindruck erweckt, dass die Selbstständigen in Deutschland unlautere Geschäfte betreiben“, klagt Köhler.

Dabei konnten die Kassenhersteller bis Januar 2020 gar nicht so schnell neue Produkte dafür liefern, wie von der Bundespolitik gefordert. Die Geschäftsleute müssen das jedoch bis zum Oktober definitiv umsetzen. „Das kostet uns als Gewerbetreibende rund 500-600 Euro pro Kasse.“ Wer bei so viel Geschäften wie Filial-Bäcker Köhler gleich ein noch neues Kassensystem anschaffen muss, wird sogar mit Investitionen von rund 200.000 Euro rechnen können.

Mit den wechselnden Steuern gibt’s noch den Bon-Irrsinn

Hinzu kommt eine sagenhafte Umweltsauerei im klimairren Deutschland. Die Bons sind meist auf Thermopapier gedruckt, das mit der schädlichen Chemikalie Bisphenol A beschichtet ist. Viele Bäckereien kämpfen jetzt auch noch mit jede Menge Sondermüll, den der staatliche verordnete Bon-Zwang an der Kasse erzeugt. Angela Merkels Bundeskabinett traute kleinen Einzelhändlern, anders als die französische Regierung, einfach nicht über den Weg. Die Franzosen pfeifen auf Kassenbons an der Theke – Deutschland nicht.

Vorher kauften Bäckereien wie Köhler nur kartonweise Bons-Rollen: „Heute müssen wir sie Palettenweise einkaufen“, weiß Bäckermeister Köhler. Für eine Palette Bons pro Monat seien 700 Euro fällig.

Köhler macht die Konsequenzen deutlich: „Wir haben rund 10.000 Kunden täglich und somit auch fast 10.000 unnötige Bons.“ Viele Bons fliegen nach dem Kauf sogar noch auf die Straßen. Bei etwa zwei Millionen Kassen in Deutschland und 200 Buchungen pro Kasse je Tag sowie einem geschätzten Anteil von 20 Prozent Belegausdrucken müssen rund 400 Bäume für die Herstellung des Bon-Papiers zusätzlich sterben, hat die Fachzeitschrift back.intern ermittelt. „Das ist kontraproduktiv für die Umwelt und im Grunde eine ganz üble Nummer von der Bundesregierung“, kritisiert Köhler.

Der Mehrwertsteuerplan ist ein „Bürokratiemonster“

Damit nicht genug: „Wenn die Mehrwertsteuer, laut Bundespolitik, an die Kunden weitergegeben werden soll, wo wird denn das Gewerbe entlastet?“, fragt Bäcker Köhler. Bei nur noch durchschnittlich 50 Prozent Auslastung durch die enormen Hygienevorschriften, „hilft das vor allem der Gastronomie auf gut deutsch nix.“ Denn die Kosten für Hygienematerial wie Mitarbeiter-Masken und Desinfektionsmittel seien stark gestiegen. Die großen Supermarktketten hingegen hätten während der schlimmsten Corona-Phase als Monopolanbieter sehr gute Geschäfte machen können.

Ergo: Der kleine Geschäftstreibende schaut dann halt, schon allein wegen der stark gesunkenen Umsätze, im Jahr 2020 wieder einmal in die Röhre.

Zumindest verbliebene Teile der Opposition erkennen in den Regierungsbeschlüssen immerhin eine bürokratische Propaganda. „Union und SPD laufen Gefahr, mit der vorübergehenden Senkung der Mehrwertsteuer keine Abhilfe in der Corona-Krise, sondern ein neues Bürokratiemonster zu schaffen“, kritisiert FDP-Fraktionsvize Christian Dürr. Die FDP sei im Bundestag dagegen, „da der Aufwand zu groß ist und unklar bleibt, ob der reduzierte Steuersatz auch wirklich bei den Menschen ankommt.“

Auch Bundesvorstandsmitglied Torsten Herbst warnt: „Der Glaube der Bundesregierung, dass mit dieser kurzzeitigen Mehrwertsteuersenkung die Krise am 31. Dezember vorbei ist, wird sich als schwerer Trugschluss erweisen.“ Denn: „Deutschland braucht für einen Aufschwung eine dauerhafte Steuerentlastung.“

Die Zweifel am Mehrwertsteuer-Zick-Zack sind vollauf berechtigt. So will die Deutsche Bahn die Senkung mit 1,9 Prozent bei den Tickets an ihre Kunden weitergeben. Anfang 2021 wird der Fahrpreis jedoch wieder erhöht und im kommenden Jahr mit Sicherheit noch eine Fahrpreisanhebung drauf gepackt. Das würgt eine anspringende Konjunktur schnell ab.

Spannend wird es auch, ob die Mineralölkonzerne die niedrigere Mehrwertsteuer von 16 Prozent an den Tankstellen ihren Kunden weitergeben. Vielleicht auf der Rechnung. Aber wie hoch ist der wirkliche Rohölpreis? Ab Juli müsste der Spritpreis dann im Schnitt eigentlich um drei bis vier Cent sinken. Doch welcher Autofahrer kann das beim Tanken nachprüfen, wenn morgens, mittags und abends sich die Preise im Halbstundentakt ändern. Da kommt beim Kunden die berechtigte Vermutung auf, die Ölkonzerne stecken sich die drei Prozent Mehrwertsteuersenkung nur in die Tasche, weil sie von März bis Mai viel weniger Treibstoff und dazu noch mit Tiefstpreisen verkauft hätten. Na dann, allzeit gute Fahrt im Mehrwertsteuer-Irrgarten!

Anzeige