Tichys Einblick
Ohne Durchblick

Verkehrswende? Der reinste Bahnsinn

Der Plan klingt so simpel: Die Bahn fährt uns alle Klimasorgen fort. Deshalb wird die Mehrwertsteuer auf Zugfahrkarten von 19 auf sieben Prozent gesenkt und der Flugverkehr verteuert. Aber hat sich irgendjemand in Berlin gefragt, ob die Bahn die zusätzlichen Passagiere überhaupt befördern kann?

imago images / Ralph Peters

Die können nicht einmal ihren grünen Märchenprinzen vor dem chaotischen Bahnalltag schützen. Es ist der 12. September, ein Donnerstag. Um 17.21 Uhr wird im ICE 296 von Frankfurt nach Berlin klar: Die Bahn kann nicht zum Klimaretter der Bundesregierung werden. An diesem 12. September ist selbst Robert Habeck am Boden: Der Grünen-Chef sitzt in der 1. Klasse auf dem Fußboden im Gang.

Für Kunden der 2. Klasse ist das im Berufsverkehr, besonders montags und freitags, der alltägliche Bahnsinn. Stehen für viel Geld im schnellsten Zug Deutschlands, gern aber auch im überfüllten IC oder Regionalexpress.

Gleichwohl will die Bundesregierung mehr Menschen zum Bahnfahren animieren. Dazu soll die Mehrwertsteuer auf Bahntickets ab 1. Januar 2020 von 19 Prozent auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent sinken. Das bedeutet eine Senkung der Ticketpreise um zehn Prozent. „Wir geben die Absenkung eins zu eins an unsere Kunden weiter und verzichten darüber hinaus auf eine Preiserhöhung“, erklärt Bahnchef Richard Lutz.

Insgesamt rechnet die Bahn mit einem jährlichen Plus von fünf Millionen Fahrgästen allein durch die Absenkung der Mehrwertsteuer. „Attraktivere Preise werden mehr Nachfrage auslösen“, weiß Lutz. Wie er die vielen Leute in seine ramponierten, oft defekten und übervollen Züge stopfen will, weiß er nicht. Auch das Bahnnetz ist marode.

Täglich rollen rund 40.000 Züge verschiedener Bahnunternehmen über das deutsche Schienennetz mit einer Streckenlänge von rund 38.500 Kilometern. Es ist das längste in Europa. Im Jahr der Bahnreform 1994 waren es noch 44.600 Kilometer. Größter Netzbetreiber ist mit aktuell 33.440 Kilometern die Deutsche Bahn mit ihrer DB Netz AG. 27.000 Züge fahren dort täglich.

Etwa 2.700 Stellwerke überwachen und steuern insgesamt fast 66 300 Weichen und Kreuzungen sowie gut 700 Tunnel. Ein- und Aussteigen kann der Kunde an 5.660 Bahnhöfen und Haltepunkten. Es ist ein gigantisches System, das täglich bis an seine Grenzen am Laufen gehalten werden muss.

Nur rund 60 Prozent des Schienennetzes (20.286 km) sind elektrifiziert. E-Loks können hier dank Oberleitung fahren. Der Anteil der Elektrifizierung steigt stetig, jedoch viel zu langsam: Laut Bundesregierung sollen bis zum Jahr 2025 erst 70 Prozent des Schienennetzes über eine Oberleitung verfügen. Die Diesellok wird uns noch lange Zeit erhalten bleiben.

Seit der Bahnreform 1994 wuchs die Verkehrsleistung um 47 Prozent. Doch gleichzeitig ist der Verkehr insgesamt gewachsen, die Schiene holt also nur langsam beim Marktanteil auf. Die Straße bleibt Nummer 1. Das wird durch das künftige Klimadiktat der Bundesregierung nicht viel anders werden. Vor allem im Gütersektor ist die Bahn nicht in der Lage, schnell und flexibel auf Kundenwünsche zu reagieren. Ein ernsthafter Konkurrent für die Lkw-Transportbranche sähe anders aus.

Bahn fährt an der Leistungsgrenze

Seit Jahren ist bekannt, dass die Bahn an ihre Leistungsgrenzen stößt. An neuralgischen Netzstellen kommt es bei der Eisenbahninfrastruktur zu zahlreichen Engpässen. Zwar wird wieder mehr gebaut und erneuert, dennoch kommt es gerade deswegen zu vielen Langsamfahrstellen und Umleitungen und damit zu längeren Fahrzeiten. Kein Wunder, dass die Pünktlichkeit im DB-Fernverkehr 2018 bei nur 74,9 Prozent lag. Derzeit fahren die Züge mit einer Pünktlichkeitsquote von 76,5 Prozent. Doch der Hauptfeind der Bahn kommt noch – der Winter.

Eine Folge der Infrastrukturüberlastung ist, dass auf den Hauptverkehrsstrecken kaum zusätzliche Züge fahren können. Vor allem entlang der Nord-Süd-Hauptkorridore des Schienengüterverkehrs stoßen Teilstrecken immer wieder an die Belastungsgrenze.

Besonders heftig geht es beim Zuggedrängel an den Großknoten Hamburg, Hannover, Köln, Frankfurt am Main, München und Berlin zu. Aber auch die untere Rheintalbahn (Köln− Mainz), die Strecken zwischen Hannover und Hamburg, zwischen Würzburg und Fürth sowie die Oberrheintalbahn zwischen Karlsruhe und Basel ächzen unter der Zahl der Züge. Einzelne Streckenabschnitte der beiden letztgenannten Netzbereiche hatte die DB Netz AG schon lange als überlastet eingestuft. Deswegen wird fast überall gebaut. Und das dauert.

Allein 2019 müssen die Bahnkunden 800 Baustellen gleichzeitig auf dem Netz ertragen – mit Umleitungen und längeren Fahrzeiten. Die Deutsche Bahn muss rund 1.500 Kilometer Gleise, 300 Brücken und rund 650 Bahnhöfe sanieren. 10,7 Milliarden Euro machen Bahn und Bund dafür locker. Vor allem die ICE-Hauptmagistralen sind nach 30 Jahren verschlissen. Die dringend nötigen Arbeiten an Gleisen, Weichen und Technik auf der Schnellfahrstrecke Hannover–Würzburg werden zum Beispiel in vier Abschnitten seit Juni 2019 durchgeführt:

  • 3⁄4 Hannover–Göttingen (11. Juni bis 14. Dezember 2019)
  • 3⁄4 Göttingen–Kassel (23. April bis 15. Juli 2021)
  • 3⁄4 Fulda–Würzburg (2022) 3⁄4 Kassel–Fulda (2023).
Die Bahn bleibt Dauerbaustelle

Die Bahn hatte im Zuge ihres geplanten Börsengangs die eigenen Planungskapazitäten radikal heruntergefahren und ganze Ingenieurbüros aufgelöst. Eine privatwirtschaftliche Bahn sollte ihren Bau mit den Erlösen aus dem Aktienverkauf neu organisieren. Die Politik sagte aber später den Börsengang ab, und die Aktienmilliarden fielen aus. Der Bund sprang nicht ein, so fehlte der Bahn viele Jahre das Geld.

Erst in den vergangenen fünf Jahren erhielt der Konzern wieder mehr Finanzspritzen des Bundes. Doch die Sanierung der maroden Gleise, Weichen, Bahnhöfe und Stellwerke ist inzwischen zu einem Generationenprojekt geworden. Die Bahn hat sich mit 19,5 Milliarden Euro hoch verschuldet, der Konzerngewinn schrumpft.

Allein für die Verdoppelung des chronisch kränkelnden Schienengüter­ verkehrs mahnt eine Engpassanalyse des Netzwerks Europäischer Bahnen 118 Einzelmaßnahmen an 90 Strecken und Abschnitten auf dem deutschen Netz mit einem Gesamtvolumen von 7,26 Milliarden Euro bis zum Jahr 2035 an. Mehr Verkehr ist eigentlich das Letzte, was die Bahn in dieser Situation gebrauchen kann.

Darüber hat die Große Koalition bei ihren Beschlüssen fürs Klima offen­ sichtlich nicht nachgedacht. Doch zu jedem guten Märchen gehören schließ­lich goldene Versprechen. Die Bahn kündigte daher auftragsgemäß an, Ende 2022 zusätzlich 30 neue Hoch­ geschwindigkeitszüge zu kaufen. Selbstverständlich „klimafreundliche Züge für die deutschen Rennstrecken“, wie Vorstandschef Lutz ankündigte – vor allem für die Verbindungen Berlin− München und Köln−Frankfurt.

Anders als das derzeitige Flaggschiff ICE 4 sollen diese neuen Züge 300 Kilo­meter pro Stunde schaffen. Der Auftrag wird aber erst ausgeschrieben, und das kann dauern, genauso wie die Herstel­lung der Züge. Von der Bestellung der jüngsten ICE­4­-Flotte mit 300 Stück im Jahr 2011 bis zur Auslieferung der letz­ten Züge werden am Ende über zwölf Jahre ins Land gegangen sein.

Doch zurück zum Bahnalltag: Signal­störungen, Baustellen, Umleitungen, Ausfälle, übervolle Züge und Stehen im ICE oder Regionalexpress gehören zum Berufsverkehr wie die Pfeife zur Dampflok. Vom langsamen WLAN in der 2. Klasse ganz zu schweigen.

„Die Kapazitätsprobleme bei der Bahn sind fehlende Züge und das ab­ gefahrene Netz“, weiß der Fahrgastver­band Pro Bahn. Da stellt sich natürlich die Frage, ob denn die Bahn ihre Klima­schutzaufgabe überhaupt erfüllen, also mehr Leute befördern kann. „Ganz klar nein!“, sagt Pro­-Bahn­-Sprecher Karl­ Peter Naumann. Das werde nur auf Teilstrecken möglich sein, aber schon gar nicht bei den Netzknoten, im Nah­verkehr oder bei der S­-Bahn. Zum Bei­spiel werde über eine Neubaustrecke Mannheim−Frankfurt seit fast 25 Jah­ren geredet. Jetzt sei man erst in der en­geren Planung. Bauzeit dann bestimmt gut 15 Jahre.

Naumann weiß noch mehr: Zwischen Hamburg­-Hauptbahnhof und Harburg gebe es eine S­-Bahn­-Strecke, die so we­nig Signale habe, dass die Züge nur alle fünf Minuten fahren könnten. Der Be­darf für drei bis vier Züge in zehn Minu­ten sei aber da, was einer Verdopplung des Angebots entspräche.

Und noch ein Beispiel: Die Strecke Rostock−Wismar sei in den 1990er­-Jah­ren ausgebaut worden. Dort führen die Züge seitdem fahrplangenau. Doch wenn die Züge nur fünf Minuten Ver­spätung hätten, breche der Regelzug­ verkehr zusammen. Pro Bahn nennt das alles eine „Schönwetterbahn, die für den plötzlichen Krisenfall nicht ge­wappnet ist“.

Immerhin glaubt die Opposition den politischen Bahnmärchen der GroKo nicht: „Eine schnelle Verlagerung von mehr Personen­ und Güterverkehr auf die Schiene ist eine politische Illusi­on“, stellt FDP­-Verkehrsexperte Tors­ten Herbst klar. „Erst wenn das Netz massiv ausgebaut und modernisiert ist, wird die Schiene für Personen und Gütertransport deutlich attraktiver“, so Herbst. Aber das werde viele Jahre dauern.
Herbst bringt noch einen weiteren Gedanken ins Spiel. Das Schienennetz solle aus dem DB­-Konzern herausgelöst und von einer neutralen staatlichen Ge­sellschaft gemanagt werden. „Dies för­dert den Wettbewerb im Personenfern­verkehr und schafft bessere Angebote für Reisende.“

Hoffen auf Wunder durch Technik

Nun aber soll die digitale Wundertech­ nik ETCS eine Kapazitätssteigerung um 20 Prozent auf einem erneuerten Netz bringen. Modernisierte Signalstrecken sind jedoch keine Garantie für schnellen Fortschritt. In Berlin gehören Signal­störungen und Zugausfälle fast zum Alltagsbetrieb. Selbst das hochtechno­ logische ETCS verursachte auf der Ende 2017 nach fast 25 Jahren endlich fertig­gestellten Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin−München Störungen und Verspätungen. Die Technik ist völlig neu und anspruchsvoll, ortsfeste Signale werden durch digitale Baken (Eurobalisen) ersetzt. Allerdings können nur Züge mit ETCS auf diesen Strecken fahren, und dichtere Zugabstände führen bei technischen Problemen schneller zum Stau auf der Schiene.

Um mit der technischen Entwicklung im Netz Schritt zu halten, rüstet die Bahn jetzt auch ihre ICE-3-Flotte mit der neuen Funktechnik aus. 17 Fahrzeuge der Baureihe 407 erhalten bis 2022 ETCS-Ausstattung. Die Züge sollen auf der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm fahren, in Belgien sowie zwischen Paris und Straßburg. Die Deutsche Bahn investiert dafür rund 30 Millionen Euro. Die neue Technik haben bereits alle ICE-Züge an Bord, die Berlin und München verbinden.

Mehr Auslastung mit neuer Software

Doch auch der Softwarekniff funktioniert nicht sofort; denn der Aufbau des digitalen Bahnbetriebs mit ETCS- Korridoren wird erst ab Januar 2020 durch eine DSD GmbH organisiert werden. Sie soll den industriellen Rollout dieser Zukunftstechnologie in der Fläche vorbereiten. Zudem wird es zunächst nur Starterpakete für die großen ETCS-Vorhaben geben. Zusätzlich muss die Bahn dann noch alle Züge, also auch den Regionalexpress und die Regionalbahnen, digital umrüsten, wenn sie auf ETCS-Strecken fahren.

Derzeit knirscht es fast überall im heruntergefahrenen Netz. Hinzu kommt der ebenso notwendige wie zeitraubende Ersatz veralteter Relais in vielen Stellwerken, für die es kaum noch Ersatzteile gibt. Wie in der Sowjetunion werden alte Relaisanlagen ausgeschlachtet, um Ersatzteile für noch in Betrieb befindliche zu bekommen. Derzeit funktionieren noch über 1200 Relais- und Drucktastenstellwerke, fast 300 elektromechanische und mehr als 650 mechanische von insgesamt über 2600 Stellwerksanlagen im Bahnnetz.

Gleichzeitig jagt eine Hiobsbotschaft die andere: „veraltet“, „verspätet“, „überlastet“. „Nur jeder fünfte ICE funktionsfähig“, so oder ähnlich lauten die Schlagzeilen. Zwar habe die Bahn seit dem Jahr 2016 in ihren Instandhaltungswerken deutlich mehr Züge mit Schäden repariert, heißt es in einer DB-Vorstandsvorlage. Das entspreche immerhin einer Steigerung von 45 Prozent. Doch da „der Schadenseingang im gleichen Zeitraum anstieg“, also mehr ICE-Züge mit Schäden in der Werkstatt eintrafen, erhöhte sich die Anzahl der ICEs, die mit Mängeln die Werkstatt wieder verließen, sogar um 17 Prozent.

Zu diesen Schäden zählen etwa kaputte Toiletten, Verkleidungen, Sitzplatzanzeigen und Kaffeemaschinen. So geht jeder ICE laut den Bahndokumenten mit 21 Fehlern wieder auf die Strecke. Dazu kommen organisatorische Mängel. Fahrgäste kennen die einschlägigen Ansagen: „Heute mit geänderter Wagenreihung.“

Bahnfahren statt Fliegen – wirklich?

Zum Schluss muss mit einer weiteren Politiklegende aufgeräumt werden: Die Bahn könnte noch mehr Fluggäste auf die Schiene holen, heißt es. Dafür will die GroKo Inlandsflüge künftig arg verteuern. Doch die Flugpassagiere, die nach der Fertigstellung der Schnellfahrstrecken die Zugfahrt als Alternative in Erwägung ziehen – zum Beispiel zwischen Köln und Frankfurt, Hamburg und Berlin oder seit 2018 auch zwischen Berlin und München –, hat die Bahn längst eingesammelt. So konnte sie ein Jahr nach Eröffnung der Schnellfahrstrecke Berlin–München bereits das Flugzeug als Verkehrsmittel Nummer 1 zwischen den beiden Städten ablösen.
Wer jetzt noch fliegt, tut das in der Regel, weil er in einem Zubringer für Fernflüge von den Airports Frankfurt, München und Düsseldorf sitzt. Das wird auch in Zukunft so sein. Und dann kann natürlich noch verfügt werden, dass Bundestagsabgeordnete und die Mitarbeiter der Ministerien mit Doppelstandorten nicht mehr fliegen, sondern die Bahncard 100 nutzen. Aber das rettet das Klima nicht.


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