Tichys Einblick
Der Ball ist nicht immer rund

Timo Werner und das moralische Versagen im deutschen Fußball

Der Nationalspieler Timo Werner hat ein Beispiel des moralischen Verfalls im Profifußball geliefert. Aber dieser betrifft nicht nur Spieler, Vereine und Verbandsfunktionäre, sondern auch die Medien, die in ihren Berichten wie der Politik gegenüber oft nur noch als Claqueure auftreten.

Timo Werner

imago images / Poolfoto

Profifußballer Timo Werner hat das Spiel seines Lebens verpasst. Und er hat noch sehr viel mehr versäumt.

Sein früherer Verein, Rasenballsport Leipzig, bei dem er sich zum Nationalspieler entwickelte, gewann sensationell das Viertelfinale gegen den eigentlichen Favoriten aus Spanien, Atlético Madrid, mit 2:1 samt schönen Toren. RB-Leipzig hat mit dem Einzug ins Halbfinale der Champions League in diesem Spitzenwettbewerb zum zweiten Mal Geschichte geschrieben – jetzt auch ohne seinen Top-Torjäger Timo Werner. Auf RBL wartet dort kommenden Dienstag der nächste renommierte Gegner. Paris Saint Germain tritt mit Top-Trainer Thomas Tuchel und Brasiliens Super-Spieler Neymar gegen das Leipziger Team des Red Bull Konzerns um den 33-jährigen Coach Julian Nagelsmann an. Wieder ohne Timo Werner, der ein weiteres Spiel seines Lebens und vielleicht sogar einen Spielertraum, das Champions-League-Finale, verpasst.

Torjäger Werner entschied sich für seinen neuen Arbeitgeber, den Londoner FC Chelsea, für viel mehr Geld und die Schonung seiner Beine. Statt noch die Champions League mit seinem alten Verein weiter zu spielen, verabschiedete sich der 24-jährige dank Ausstiegsklausel schon zum Ende seines Vertrages am 30. Juni aus Leipzig. Laut Bild-Zeitung für eine Ablösesumme von 53 Millionen Euro und einem Gehalt von über zehn Millionen Euro pro Saison in der Premier League. Dass das Spielen und Vorankommen in der Champions League für jeden Fußballer das größte Ziel und der größte Traum sei, entpuppt sich durch Werners Handeln immer mehr als Sprechblase.

Warum eigentlich, Herr Werner?

Es herrscht ein sittlicher Verfall im Profifußball, in dem gesellschaftliche Moral und Ehre immer mehr verkommen. Vermeintliche Vorbilder wie ein Nationalspieler Timo Werner sind keine mehr, wenn es um Geld, Vereinswechsel und ihre Interessen geht. Sie präsentieren sich als Legionäre und nicht als Patrioten. Von den hochmoralischen Fußballfunktionären des DFB, dem Bundestrainer oder der DFL oder gar den Vereinen ist meist nichts zu hören, wenn es statt ums Geld um Heimat und Gesellschaft geht.

Politisch werden Vereine nur wie Eintracht Frankfurt, wenn sie AfD-Wähler stigmatisieren, die nicht Mitglied im Club sein dürften. Oder wie jetzt der 1. FC Köln, der sich ein klassisches Eigentor schoss, als das Management beschloss, die Trikots seiner Spieler mit einer Fantasie-Silhouette von Köln zu gestalten, auf der neben dem Wahrzeichen der Stadt, dem Dom, die größte Moschee der Stadt plötzlich ebenso groß steht. Abgebildet ist ausgerechnet die reaktionäre DITIB-Moschee, die von Erdogans türkischem Religionsministerium gesteuert wird – sie steht also für das Gegenteil des von Links propagierten Postulats von Vielfalt und Weltoffenheit. Obendrein hat das Management des 1. FC Köln noch ein Vereinsmitglied öffentlich auf Twitter verhöhnt, das wegen des Moschee-Trikots ausgetreten ist. Hier moralisiert die Elite des Profifußballs auf hohem Niveau. Bei Werners sportlichen Privatinteressen hingegen halten sie den Ball flach.

Werners ärmliches Posting zum Sensations-Erfolg seines Ex-Vereins spricht Bände: „Glückwunsch Jungs!!!“ – versehen mit starkem Arm und klatschenden Händen. Mehr fällt dem Profi für seine verlassenen Kameraden nicht ein?

Es ist eine dürftige Gratulation, die wohl sein schlechtes Gewissen zeigt, und seinen moralischen Fehler nicht mehr für seinen Verein, seine Fans und Wahlheimat gespielt zu haben. Immerhin hat er in Leipzig vier Jahre erfolgreich gespielt in 157 Pflichtspielen mit 93 Toren und 40 Assists für Rasenball.

Stattdessen saß Werner beim CL-Viertelfinale zu Hause in einer Stuttgarter Sportbar, schaute auf dem Bildschirm zu, wie seine Kameraden kämpften und schonte seine Beine für den FC Chelsea – sein Kapital für den neuen Arbeitgeber. Was für ein gesellschaftliches Vorbild!

„Er hätte auch ein großer Sportler sein können“

„Natürlich tut es mir weh, dass ich jetzt nicht mithelfen kann, das ganz große Ding zu schaffen. Aber ich bin eben auch ab 1. Juli Spieler des FC Chelsea, werde von Chelsea bezahlt“, begründete der deutsche Nationalspieler mit 29 Länderspielen Wochen zuvor mit Verdrehungen wie ein Politiker seinen Abgang. 

Soso – es tut ihm weh: Dabei wollte er auf eigenen Wunsch nicht mehr in der Königsklasse für Leipzig antreten, sondern sich voll und ganz auf die Herausforderung bei den Blues konzentrieren, hieß es so schön in Presseerklärungen. Medien senden und drucken sie brav, ohne zurechtweisende Zusätze, wie zum Beispiel ständig bei Äußerungen von US-Präsident Donald Trump.

Berechtigte Kritik üben meist nur Insider außer Dienst wie der ehemalige Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga (DFL), Andreas Rettig. Er monierte im Fußball-Talk Doppelpass bei Sport1: Timo Werner sei ein klasse Spieler, „aber er hätte auch ein großer Sportler sein können, indem er das richtige Signal gesendet und die Saison mit seinem Klub zu Ende gespielt hätte.“

Rettig verlangte zurecht: „Bei den Verhandlungen hätte er auch mal den Rücken gerade machen müssen. Er hätte sagen können: ‚Passt mal auf, das ist mein Klub und dem habe ich etwas zu verdanken: Ich spiele!‘ Ich war überrascht, dass er so eine Chance wegschmeißt.“

Immerhin, der frühere Nationalspieler Stefan Effenberg kritisierte in der Sendung das Wegducken des ehemaligen Stuttgarters Werner: „Das ist ein Champions-League-Viertelfinale. Das schmeißt du doch nicht weg. Da lässt er eine große Möglichkeit liegen und lässt auch seine Kollegen ein Stück weit im Stich, mit denen er das erreicht hat.“ Der Rest der anwesenden Medien- und Funktionärsvertreter mochte da nicht mitziehen. Immer schön im Mainstream bleiben – sonst gibt’s keine Interviews oder Jobs.

Auch von der Funktionärselite des DFB kommt später kein kritisches Wort und schon gar nicht von Bundestrainer Joachim Löw.

Kritik – fast ein Totalausfall im Sportjournalismus

Zum Standard eines elektronischen Sportjournalisten gehört ja, bei jedem Interview erst einmal „herzlichen Glückwunsch“ oder „Gratulation“ zum gewonnenen Spiel und der Spielerleistung zu rufen. Meist folgen dann noch mitfühlende Fragen hinterdrein oder plattitüdenhafte Erkundigungen nach dem Geheimnis des Erfolges. Hier nur ein Beispiel wie ZDF-Reporter Boris Büchler Bayernspieler Jérôme Boateng fragt: „Jérôme Boateng. Zunächst einmal Glückwunsch zum Sieg. Was waren so die wichtigsten Aspekte bei diesem verdienten Sieg aus Ihrer Sicht in der Abwehr?“

Journalistische Distanz – Fehlanzeige. Bei der Schriftpresse sieht es oft nicht viel besser aus.

TV-Kommentatoren glänzen bei ihrer Sportberichterstattung meist nur noch durch politisch korrekte Sprechblasen. Tom Bartels bei der ARD oder Claudia Neumann vom ZDF sind solche Gründe zum Umschalten. Da wünscht sich der Zuschauer Gerhard Delling, Waldemar Hartmann, Gerd Rubenbauer, Rolf Töpperwien oder selbst Heribert „‘n Abend allerseits“ Faßbender zurück auf den Schirm.

Die einzigen, die noch halbwegs kritisch Spiele und Live-Ereignisse kommentieren, sind Radioreporter wie Edgar Endres, Armin Lehmann, Jens-Jörg Rieck, Guido Ringel, Thorsten vom Wege oder früher die Stimme des Ruhrgebiets Manfred „Manni“ Breukmann. Leider kann der TV-Konsument ihren Ton mit dem Fernsehbild wegen der Zeitverzögerung nicht kombinieren.

Der Großteil der Sport-Presse hat daher den Werner-Wechsel mit seiner Spielabsage für seinen Klub kritiklos hingenommen und ihm applaudiert. Ein Zeichen für gesellschaftliche Vorbildfunktionen von Fußballprofis und Nationalspielern will die journalistische Klasse hier plötzlich nicht mehr sehen. Zu nah ist man mit dem System des Profitums bei Spielern und Vereinen sowie deren Management verbunden. Das gilt für die bundesweiten TV-Medien, aber besonders auch für Sportjournalisten der Lokalblätter. Zu gerne möchte man vor Ort ein Info-Häppchen, ein paar Krümel vom großen Kuchen abhaben. Dafür darf man bei den Vereinen allerdings nicht als Nörgler auffallen.

Eine kritische Betrachtung des moralischen Versagens von Werner ist demzufolge auch im Lokalblatt Leipziger Volkszeitung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten. Alles andere wäre eine Überraschung – zu eng fraternisiert man mit Trainer, Spielern und Management. Kritik könnte nur von außen kommen, aber der bundesdeutsche Sportjournalismus jagt ja in Person des regelrecht fanatischen ARD-Experten Hajo Seppelt lieber noch der Urin-Probe von Russlands Präsident Wladimir Putin hinterher, um ihn des Dopings zu überführen.

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