Tichys Einblick
Zeitenwende

Macron, Kurz und Co. – die neuen Napoleoniden?

Wenn die Schwesterorganisation der Union gerade noch den Rückhalt von jedem zehnten Franzosen hinter sich weiß, ist dieses für die Führungspartei des deutschen Ancien Régime trotz aktuell beharrlich zunehmender Prognosewerte ein Menetekel.

Emmanuel Macron speaks to students at Humboldt University on January 10, 2017 in Berlin.

© Sean Gallup/Getty Images

Als im Spätsommer des Jahres 1799 die französische Revolution, als bürgerlich-liberale Erneuerungsbewegung des Königreichs gestartet und über den Staatsterror des Maximilien de Robespierre erst von einem halbwegs demokratisch eingesetzten Direktorium und dann von einem totalitären Triumvirat geleitet, endgültig an die Wand gefahren war, suchten die Totengräber Frankreichs nach einem Mann, der in ihrem Auftrag den Karren aus dem Dreck ziehen sollte, ohne dabei eigene politische Ambitionen zu entwickeln.

Von der Revolution zu Napoleon

Nach einigem Hin und Her fiel ihre Wahl auf den damals 30-jährigen Napoleon Bonaparte, erfolgreicher Militär und Sproß einer niederen Adelsfamilie des italienisch geprägten, 1769 mit militärischer Gewalt von Frankreich übernommenen Korsikas. Mittels von Oben unterstütztem Staatsstreich griff sich der knapp 170 Zentimeter messende, nur scheinbar „kleine“ Korse am 9. November 1799 die Macht und setzte sich am 2. Dezember 1804, abgesegnet durch den herbeizitierten Papst Pius VII, selbst die Kaiserkrone aufs Haupt. Das geschundene Volk fiel in eine kollektive Begeisterung, eroberte mit seinem Führer fast ganz Europa, um erst in Russland und dann in Waterloo mit dem Kaiser in den Untergang zu gehen.

Napoleon, der den Tod Hunderttausender zu verantworten hat, war ein klassischer Diktator. Er ließ politische Gegner ermorden, missliebige Konkurrenten kaltstellen, nach heutigem Verständnis völkerrechtswidrige Überfälle auf Nachbarstaaten durchführen. Gleichzeitig aber schuf er mit seinem Reformeifer Grundlagen für den modernen Verfassungs- und Rechtsstaat, die, wie der „Code Civil“ (auch „Code Napoleon“), bis heute die europäische Rechtsauffassung prägen und letztlich dem bis 1870 von offenen und verdeckten Staatsstreichen geprägten Franzosenreich die Grundlage schufen, auf denen die auch heutige Fünfte Republik fußt.

Wie immer man die Persönlichkeit Napoleons beurteilen mag: Der damals junge Mann beendete mit seinem Staatsstreich faktisch das im Chaos untergegangene 18. Jahrhundert, wies den das 19. Jahrhundert prägenden Weg in den demokratisch organisierten Nationalstaat der europäischen Völker. Das Ancien Régime der absolutistisch herrschenden Monarchen von Gottes Gnaden sollte nach den Erfahrungen mit dem Korsen in den nachfolgenden rund 50 Jahren abschließend zu Grabe getragen werden. Die Völker Europas emanzipierten sich, stellten ihre verkrusteten Systeme auf neue Beine und legten so den Grundstein für den zivilisatorischen Anspruch, mit dem sie bis zum Ende des Jahrhunderts so ziemlich jede Region der Welt beherrschen sollten.

Die unbemerkte Revolution der Gegenwart

Heute, im Jahr 2017 und damit 218 Jahre später, zeigen sich nicht nur in Frankreich Entwicklungen, die in gewisser Weise an jene unruhigen Tage der untergehenden französischen Revolution erinnern. Mit dem heute 39-jährigen Emmanuel Macron schart sich das Volk der Franzosen scheinbar wie einst hinter einem jungen Mann, dessen Herkunft und Ursprung wenig Anlass boten, ihn an der Spitze des Frankenreichs zu sehen. Und doch entfacht dieser Macron ein öffentliches Feuerwerk, welches den Eindruck erweckt, die Franzosen seien es kollektiv leid, von blassen Technokraten wie François Hollande oder selbstverliebten Taschenausgaben der einstigen Sonnenkönige wie Nicolas Sarkozy in das gesellschaftliche Chaos geführt zu werden.

Nach dem Durchmarsch des von den Medien mit dem Oxymoron „linksliberal“ belegten Sohnes aus gutsituiertem Bürgerhaus bei den Präsidentschaftswahlen scheint ihm nun die absolute Parlamentsmehrheit seiner von ihm gegründeten Bewegung „En Marche“ nicht mehr zu nehmen zu sein.

Tatsächlich zwar entschied sich für diese Organisation, deren inhaltliche Ausrichtung derzeit ebenso rätselhaft ist wie ihr Personaltableau, beim ersten Durchgang der Parlamentswahlen mit 15,7 Prozent der wahlberechtigten Franzosen gerade einmal nur jeder sechste Franzose für den Jungstar. Doch der unaufhaltsam wirkende Siegeszug der Macronisierung Frankreichs ließ mit 51,4 Prozent mehr als jeden zweiten Franzosen dem politischen Geschehen irritiert den Rücken kehren und schuf dank Wahlrecht dennoch eine komfortable Mehrheit. Die letztverbliebenen Anhänger des „Ancien Régime“ der über Jahrzehnte dominierenden Sozialisten und Konservativen waren derart verzagt, dass die linke Staatspartei gerade noch auf die Unterstützung von 4,6 Prozent der Franzosen hoffen konnte. Die konservativen Bürgerlichen als künftig größte Oppositionspartei aus dem Lager der Reichsverweser brachten es immerhin noch auf 10,5 Prozent, während Macrons Präsidentschaftskonkurrenz vom „Front National“ mit 6,4 Prozent zwar die Sozialisten überflügelte, aber letztlich in der Bevölkerung ebenso ohne nachhaltigen Rückhalt ist wie die Kommunisten mit 5,4 Prozent. Gänzlich marginalisiert wurden die Grünen: Gerade noch zwei von einhundert Franzosen mochten sich für die Produkte des europäischen Nachkriegswohlstandes begeistern.

Die Etablierten jubeln

Allerorten und allem voran in Deutschland folgte auf diesen revolutionären Durchmarsch eines weitgehend unbeschriebenen Blattes große Freude. Doch tatsächlichen Grund zum Jubeln gibt es zumindest nicht für die deutschen Staatsparteien.

Wenn über die Hälfte der Wahlberechtigten einer zur Grundsatzentscheidung über den künftigen Kurs der Republik hochstilisierten Wahl fernbleiben, sollte die Frage nach dem Warum vor allen anderen stehen.

Wenn die Schwesterorganisation der Union gerade noch den Rückhalt von jedem zehnten Franzosen hinter sich weiß, ist dieses für die Führungspartei des deutschen Ancien Régime trotz aktuell beharrlich zunehmender Prognosewerte ein Menetekel.

Wie sich die schon mehr als peinliche Anbiederung eines Martin Schulz an den Totengräber seiner sozialistischen Schwesterpartei erklären lässt – eines Mannes, der selbst auf dem besten Wege ist, selbst zum François Hollande der deutschen Sozialisten zu werden – bedarf vermutlich tiefenpsychologischer Einblicke, die irgend etwas mit Strohhalmen und Ertrinken zu tun haben.

Zeugen einer Zeitenwende?

Jenseits dessen könnten wir derzeit Zeugen einer Zeitenwende sein. Die Macron-Begeisterung hat viele Facetten – und sie lassen für jene, die in den vergangenen rund 70 Jahren die Geschicke der Staaten Europas in den Händen hielten, wenig Gutes ahnen.

Interview
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Wenn ein nach wie vor inhaltlich nur schwer einzuschätzender Mann wie Macron unerwartet wie mancher YouTube-Heroe zum Politstar erwächst und ihn das Volk – gleich ob aus Frustration oder infolge tiefgreifender Entpolitisierung – mit fast schon absoluter Machtfülle ausstattet, dann erinnert dieses durchaus an jene Machtergreifung des jungen Napoleon. Das Totalversagen der Alten gebiert den Wunsch nach radikaler Neuerung. Und so hat das, was wir derzeit in Frankreich erleben, durchaus den Charakter eines legalisierten Staatsstreichs. Das pluralistische, multipolare Experiment der sozialistisch geprägten, nachbürgerlichen Epoche neigt sich ihrem Ende zu. Die Vertreter des Ancien Régime – gleich ob links oder rechts gestrickt – werden vor die Tür der politischen Verantwortung gefegt mit einer Radikalität des Wunsches nach Neuerung, der selbst vor dem Pfahl im Fleische der Etablierten, Marine Le Pen, nicht halt macht. Warum auch: Wie François Hollande und François Fillon, den letzten beiden Flaggschiffen des Ancien Régime, ist auch sie ein fester Bestandteil des Systems, welches nicht mehr gewollt wird. Das Neue – was immer es auch konkret sein wird – überrollte sie alle.
Ein österreichischer Macron?

Eine ähnliche Entwicklung könnte sich auch in Österreich anbahnen. Mit dem erst 30-jährigen Sebastian Kurz hat dort ein junger Wilder mit der ÖVP einen Restbestand des verkrusteten Régime gekapert, krempelt ihn um und schneidet ihn auf seine Person zurecht. Wie Macron reitet Kurz auf der Welle der radikalen Neuerung – will die alten Zöpfe abschneiden und nicht nur die Politik der Alpenrepublik, sondern Europas neu ausrichten. Sollte ihm das Kunststück seines französischen Pendants ebenfalls gelingen, könnte auch sein Erfolg an jene Epoche der napoleonischen Machtübernahme erinnern.

Die Welle der jungen Napoleoniden, die derzeit in Europa nicht mehr zu übersehen ist, dokumentiert jenseits dessen, dass derzeit niemand wirklich sagen kann, wohin sie inhaltlich und politisch führen wird, den Überdruss des Volkes mit der Politik der „Alten“. Es sind nicht nur die Gesichter, die viele nicht mehr sehen wollen – es ist vor allem die Lähmung des politischen Prozesses und die Unfähigkeit zur politischen Vision, die den demokratischen Napoleonismus von heute erst möglich gemacht hat.

Kinder der 68er

Macron und Kurz sind Kinder jener Generation, die mit ihrer Revolution durch die Institutionen das Europa des 19. Jahrhunderts nebst seinen Werten der Aufklärung an die Wand gefahren hat. So sehr die politische Linke auch Macron bejubeln mag – mit allem, was er bislang an inhaltlichen Zielen hat durchblicken lassen, ist er die Inkarnation des Anti-68ers. Sollte er es ernst meinen mit den von ihm angestrebten Umwälzungen der sozialistischen Wohltaten der französischen Staatswirtschaft, ist er der Gegenentwurf zu jenen, die immer noch unverdrossen vom Schreckgespenst des Wirtschaftsliberalismus sprechen. Beide, Macron wie Kurz, stehen statt dessen für die Abkehr vom Über-Individualismus zu Lasten der gesellschaftlichen Mitte und der selbstkasteienden Mea-Culpa-Ideologie der selbsternannten Progressiven.

Das macht sie attraktiv für jene, die von den 68ern und deren geistige Gängelung durch die Geister von Vorgestern lösen wollen. Es macht sie attraktiv für eine Generation, die in der postindustriellen Gesellschaft der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geboren wurde – und für die das Ziel eines einigen Europas freier, nicht bürokratisch gegängelter Europäer nicht zur Disposition steht. Das unterscheidet beide nicht nur von den globalisierenden Anhängern der europäischen Selbstaufgabe, sondern auch von jenen, die sich aus dem Ancient Régime heraus an neuen alten Nationalismen orientieren.

Die Überwindung des marxistisch-kollektivisten Experiments

So stehen diese neuen Napoleoniden in gewisser Weise auch für eine Neo-Bürgerlichkeit, die das marxistisch-kollektivistische Experiment des 19. und 20. Jahrhunderts zu überwinden sucht. Denn tatsächlich geht es ihnen nur scheinbar um „Reformen“ des Bestehenden, welche sich bislang am Ende immer wieder als eine ständig neu aufgelegte Manifestation des Überholten erwiesen haben. Ihnen geht es darum, die Politik ihrer Länder ebenso wie die Europas auf neue, auf zukunftsfähige Beine zu stellen, in denen ihre Generation unbelastet die Werte und Ziele bestimmt.

Ob dieser Aufbruch einer neuen Mitte, der gegenwärtig von Macron zelebriert wird, und dem Kurz in Österreich bei entsprechender Unterstützung zu folgen geneigt sein könnte, am Ende tatsächlich eine Neubesinnung auf die Werte des christlich-aufgeklärten Europas bringt, muss derzeit dahingestellt bleiben. Zu wenig konturiert ist noch das, was tatsächlich am Ende des Weges stehen soll. Offen ist auch, ob die neuen Napoleoniden wie ihr Vorgänger am Ende zwar nachhaltige Neuerungen hinterlassen – und dennoch Gescheiterte sein werden. Denn wer in einem Alter zwischen 30 und 40 Jahren an die Spitze einer Gesellschaft gelangt, der könnte selbst den Mechanismen der Macht unterliegen und aus der Dynamik seines Starts eine weitere Schicht des alles erstickenden Mehltaus über die Gesellschaft legen – so wie es ihm die 68er vorgelebt haben.

Das Ergebnis ist offen

Wohin auch immer der Weg der neuen, unverbrauchten Politikergeneration führen mag – als fast schon revolutionärer Aufstand gegen „das Alte“ dokumentiert er den Willen einer wachsenden Zahl von Bürgern, sich nicht mehr dem Diktat der Nachkriegsgeneration unterwerfen zu wollen.

Blicken wir zurück auf die Geschichte, dann prägten radikale Umbrüche in Frankreich immer wieder die Entwicklungen auch in den europäischen Nachbarländern. Und so ist der Bruch, den die Franzosen derzeit mit ihrem Ancient Régime der Fünften Republik vollziehen, ein Menetekel für Deutschland.

Mag Merkel mangels Alternative im Herbst noch ein letztes Mal zum Kanzler gewählt werden – sobald in Deutschland ein Macron oder ein Kurz ihren Willen zur Macht bekunden, kann der Überdruss auch hier schnell sein Ventil in einer deutlichen Abkehr vom Etablierten finden. Zwar ist in Deutschland, das schon immer ein paar Jahre hinter den politischen Entwicklungen der Nachbarn hinterher hinkte, bislang weit und breit niemand aus der Macron-Kurz-Generation zu erkennen, der die Alten das Fürchten lehren könnte. Doch noch vor zwei Jahren hätte niemand einem Sebastian Kurz zugetraut, aus der altehrwürdigen ÖVP einen maßgeschneiderten Kurz-Wahlverein zu machen – und noch vor einem Jahr wäre jeder, der Macron als künftigen Präsidenten mit absoluter Parlamentsmacht vorausgesagt hätte, zum irregeleiteten Phantasten erklärt worden.

Offenbar aber ist in den Ländern Westeuropas die Zeit reif für die Überwindung des manifestierten Irrwegs der Altvorderen aus der 68er-Revolution. Sollte die Dynamik und der Wille anhalten, sich in eine andere, wenn auch ungewisse Zukunft zu begeben, dann wird er in absehbarer Zeit auch Deutschland und selbst das immer noch verzweifelt an seinem früheren Selbstverständnis festhaltende Großbritannien ergreifen.

Die Geschichte Napoleons hat uns gelehrt, dass sich am Ende gescheiterter Revolutionen scheinbar aus dem Nichts Personen finden, die neue Ordnungen schaffen. Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts kann die neuen Napoleoniden gelehrt haben, diese Ordnung anders als Napoleon auf friedlichem Wege und gemeinsam zu erreichen. Insofern ist es bei allen Vorbehalten gegenüber dem, was daraus entstehen wird, nicht auszuschließen, dass wir derzeit in Europa eine Wiedergeburt der vom kleinbürgerlichen Proletariat vernichteten Werte und damit das Entstehen eines neuen europäischen Selbstbewusstseins erleben – getragen von einer Generation, die nicht länger bereit ist, sich mit dem perpetuierten Beharren in der Vergangenheit und ideologischen Denkverboten ihre Zukunft und den Stolz auf ihre Länder und ihre zivilisatorischen Traditionen zerstören zu lassen.