Tichys Einblick
André D. Thess

Kritik an der Ethikkommission zum Atomausstieg: Vereinnahmung durch die Regierung

Ein Fachwissenschaftler übt harte Kritik an seinen Kollegen in der Ethikkommission "Sichere Energieversorgung": "Sie haben sich allem Anschein nach vereinnahmen lassen und das politisch erwartete Ergebnis geliefert".

IMAGO / Hans Blossey

Härter kann ein Urteil über das Versagen von Wissenschaft nicht ausfallen: »Zusammenfassend komme ich zu dem Schluss, dass die drei Professorinnen und fünf Professoren der Ethikkommission dem Leitbild unabhängiger Wissenschaft nicht gerecht geworden sind. Sie haben sich allem Anschein nach vereinnahmen lassen und das politisch erwartete Ergebnis geliefert.«

Das schreibt André D. Thess, Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart, in einem »offenen Brief an Matthias Kleiner und die Professoren der Ethikkommission Atomkraft«. Kleiner war vor zehn Jahren Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und in dieser Funktion gemeinsam mit dem früheren Bundesumweltminister Klaus Töpfer Vorsitzender der Kommission. Darin vertreten waren außerdem als Wissenschaftler: der Soziologe Ulrich Beck von der LMU München, der Mikrobiologe Jörg Hacker von der Universität Würzburg, der Forst- und Bodenwissenschaftler Reinhard Hüttl von der BTU Cottbus, die Philosophin Weyma Lübbe von der Universität Regensburg, die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin Lucia Reisch von der Copenhagen Business School, der Soziologe und Risikoforscher Ortwin Renn von der Universität Stuttgart sowie die Politikwissenschaftlerin Miranda Schreurs von der TU München. Die saßen zusammen in dem 17-köpfigen Gremium namens »Ethikkommission«, das eine Rechtfertigung für den Atomausstieg lieferte. Den beschloss der Bundestag bekanntlich daraufhin am 30. Juni 2011.

Matthias Kleiner, TU Dortmund, stand damals als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für »die Stimme der Wissenschaft« (Thess) in jener Ethikkommission. Dessen Worte bei der öffentlichen Vorstellung des Abschlussberichts: »Wir haben unsere Arbeit in diesen zwei Monaten in aller Unabhängigkeit getan […] das möchte ich zu Beginn deutlich hervorheben und an dieser Stelle auch meinen Dank insbesondere für diese Unabhängigkeit, die wir genossen haben, an die Bundesregierung, die Bundeskanzlerin sagen.«

Das ist zwar jetzt genau zehn Jahren her. Aber für Thess ist es nicht zu spät, um darüber nun eine Diskussion über die tatsächliche Unabhängigkeit von Wissenschaft zu entfachen.

Thess will in seinem offenen Brief nicht die Frage »Atomausstieg – richtig oder falsch« erörtern, sondern fragt, ob die acht Professoren tatsächlich unabhängig votiert haben und damit dem Vertrauen gerecht geworden seien, »welches die Gesellschaft beamteten Hochschullehrern auf Lebenszeit schenkt«.

Denn jene merkwürdige Empfehlung der damaligen Ethikkommission ist immer noch eine der erstaunlichsten Vorgänge rund um die Energiewende. Auf dieses Votum stützte sich bekanntlich die Politik bei ihrem deutschen Sonderweg »Atomausstieg«.

In sechs an Kleiner gerichteten Thesen fasst Thess seine Kritik zusammen:

1. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium verfügte nicht über hinreichende Fachkompetenz, um die Risiken eines Verbleibs in der Kernenergie gegenüber denen eines Ausstiegs umfassend und sachgerecht abzuwägen.«

Es war seinerzeit tatsächlich verblüffend, dass sich in der Ethikkommission kein Kraftwerkstechniker und kein Fachmann befand, der sich mit der Energieversorgung eines Industrielandes auskennt. Der hätte womöglich nur gestört, indem er auf physikalische Tatsachen hingewiesen hätte. Schwer wiegt auch die nächste These:

2. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium hat eine Aufgabenstellung mit politisch vorgegebenem Untersuchungsergebnis anscheinend widerspruchslos entgegengenommen.«

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Bundeskanzlerin Merkel, der damalige Bundeswirtschaftsminister Brüderle und der damalige Bundesumweltminister Röttgen formulierten die Aufgabe der Ethikkommission so, dass die nur noch über das Wie zu befinden hatte, nicht aber, ob eine Energiewende möglich und sinnvoll ist. »Wie kann ich den Ausstieg mit Augenmaß so vollziehen, dass der Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien ein praktikabler ist, ein vernünftiger ist, und wie kann ich vermeiden, dass zum Beispiel durch den Import von Kernenergie nach Deutschland Risiken eingegangen werden, die vielleicht höher zu bewerten sind als die Risiken bei der Produktion von Kernenergie-Strom im Lande?«

Unabhängige Professoren hätten diese Aufgabenstellung (»Begründen Sie die Notwendigkeit des Atomsausstieges!«) abgelehnt.

3. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium hat nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die politische Vorgabe durch ein Sondervotum zu einer ergebnisoffenen Aufgabe auszuweiten und die Risiken von Kernenergieausstieg versus Kernenergieverbleib aus ganzheitlicher Perspektive fachgerecht abzuwägen.«

Merkwürdig war damals die Einstimmigkeit des Votums der Professoren, die Thess heute anprangert. Wissenschaft lebt vom Diskurs, Aufgabe der Ethikkommission wäre gewesen, ein gesellschaftliches Meinungsbild von allen Seiten unparteiisch darzustellen.

4. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium hat den internationalen Stand der Wissenschaft unberücksichtigt gelassen und dadurch einem nationalen Alleingang Deutschlands Vorschub geleistet.«

Die Professoren in der Ethikkommission haben, so Thess, den falschen Eindruck erweckt, Wissenschaftler in aller Welt lehnten Atomenergie ab. Dagegen erweist sich heute der deutsche Weg als Sonderweg, für den die Professoren keine sachliche Begründung geliefert hätten.

5. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium hat anscheinend versäumt, bei der Formulierung des Abschlussberichts eine klare Trennung von Fakten und Meinungen durchzusetzen.«

Thess weist darauf hin, dass glaubwürdige und unabhängige Wissenschaftler klar zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlichen Werturteilen trennen würden. Das haben die Professoren der Ethikkommission nicht getan.

6. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium hat einem Dokument zugestimmt, dessen Präsentationsform den Grundsätzen wissenschaftlichen Politikberatung nicht gerecht wird.«

Denn Wissenschaft müsse klar zwischen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen und Handlungsempfehlungen trennen. Das ist in der Ethikkommission nicht geschehen. Vielmehr betonen die Professoren: »Die Energiewende muss gestaltet werden« und unterscheiden nicht zwischen Fragestellung, Voraussetzungen, Methoden, Ergebnissen, Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Sie appellieren unter dem Begriff »Gemeinschaftswerk Energiezukunft Deutschlands« an Verbundenheit und Eintracht, anstatt Fakten herauszuarbeiten.

 

Mit Professor Thess hat nun endlich ein unabhängiger Wissenschaftler eine Diskussion über die Unabhängigkeit von Wissenschaft angestoßen. Er erinnert nicht zuletzt an den Beamtenstatus, der allen Professoren intellektuelle Freiheit und Unabhängigkeit von politischen Vorgaben ermöglicht. Häufig genug ist davon nichts mehr zu bemerken. Das Scheitern von Atomausstieg und Energiewende machen deutlich: Wenn Wissenschaft meint, politisch zu werden, muss sie scheitern. TE berichtet weiter.