Tichys Einblick
Strukturenwechsel 3

Drei Gemeinwesen – bereit für Diversität?

Utopisch? Utopien von einzelnen haben die Welt voran gebracht. Die Verwaltung des Status Quo und die Beschwörung des Status Quo Ante noch niemals. Und das ist gut so. Beitrag 3 in unserer Serie Strukturenwechsel.

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Stellen sich vor, in einem Europa der Zukunft hätten sich an einigen Stellen neue, experimentelle Gemeinwesen gebildet, die so gar nichts mit dem zu tun hätten, was wir kennen oder zu kennen glauben. Wir wollen uns drei davon näher anschauen.

I. Die Waldgeschwister

Die Waldgeschwister haben ihren Namen von der waldreichen Gegend, in der sie sich niederlassen. Sie organisieren sich in einzelnen Siedlungen, die geteilt werden, nachdem eine Kopfzahl von mehr als 150 erreicht ist. Jedes Dorf besteht aus Gemeinschafts- und Einzelunterkünften. Es besteht Gemeinschaftseigentum an allen Dingen außerhalb der eigenen vier Wände. Die Bewohner sorgen für ihre Kranken und Alten. Grundsätzlich herrscht innerhalb der Gemeinschaft freie Liebe, auch dann noch, wenn sich Paare gebildet haben. Kinder werden von der Dorfgemeinschaft gemeinsam erzogen. Ab dem Alter von 15 Jahren sind Jugendliche sexuell selbstbestimmt. Die Waldgeschwister wollen möglichst naturnah und umweltverträglich leben. Sie sind zufrieden, wenn sie das Lebensnotwendige erarbeiten. Mit anderen Dörfern findet Tauschhandel statt und des Öfteren werden auch Dinge von der Außenwelt zugekauft oder besser: zugetauscht. Die einzelnen Siedlungen werden von Dorfältesten geleitet, meist reiferen Frauen. Die Bewohner entscheiden basisdemokratisch über die Neuaufnahme von Siedlern und andere Fragen.

Carola B., Die Gründerin der Waldgeschwister und Dorfälteste der ersten Siedlung, erläutert: „Das ist unser Modell: ein Paradies ohne Wachstum. Wir wollen Gemeinschaft, nicht Freiheit. Warum findet denn der ganze Konsum, die ganzen Anschaffungen und immer mehr Wachstum und die Erhöhung des Lebensstandards statt? Weil Männer Frauen beeindrucken wollen. Warum wollen Männer Frauen beeindrucken? Weil sie mit den Frauen Sex haben wollen. Wenn sie das jetzt haben können, ohne den ganzen Stress, die ganze Hektik, die ganze Umweltzerstörung, den ganzen Konkurrenzdruck und das Verlangen, immer mehr, immer größer, immer besser zu sein, dann sind alle doch viel ausgeglichener und glücklicher. Wir Waldgeschwister können sogar sehr gut ohne Internet und Smartphones leben. Natürlich wissen wir, dass einige von uns anderswo noch ein Standbein und auch Vermögen haben. Aber wenn jemand in der Außenwelt Geld verdient, und sich dann bei uns niederlässt und einen Teil davon mitbringt und in die Gemeinschaft gibt, ist das in Ordnung. “

II. Das Fürstentum Christo

Das Fürstentum Christo nimmt ausschließlich weiße, christliche Siedler auf. Die Einwohner wählen einen Fürsten auf Lebenszeit, der eine Regierung ernennt. Fürst, Regierung und Volk können Gesetze vorschlagen, über die im Wege der direkten Demokratie entschieden wird. Das Fürstentum ist in Gemeinden unterteilt, denen eine weitgehende Autonomie zukommt und die auch für die soziale Sicherung zuständig sind, welche von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich ausfallen kann. Die Einwohner sind der Auffassung, dass in erster Linie die Familie für die soziale Absicherung zuständig ist, in zweiter Linie die Kirche und erst in dritter Linie die Gemeinde. Transferempfänger und Staatsbedienstete sind vom Abstimmungs- und Wahlrecht ausgenommen, um Interessenkonflikte zu vermeiden. Leitbild ist die traditionelle Familie mit dem Mann als Familienoberhaupt und Hauptverdiener. Abtreibungen sind nur in engen Ausnahmefällen zulässig. Familien erhalten für jedes Kind eine zusätzliche Stimme bei Wahlen und Abstimmungen. Für alle Männer besteht Wehrpflicht. Die persönlichen und wirtschaftlichen Freiheiten sind recht hoch, variieren allerdings von Gemeinde zu Gemeinde. Es wird allgemein erwartet, dass man sonntags in die Kirche geht.

Martin L., der Gründer des Fürstentums und erster Wahlmonarch, berichtet: „Die Presse beschriebt uns durchgängig als Modell von vorgestern, rassistisch und sexistisch. Aber in Wahrheit rennen die Leute uns die Bude ein. Wir können uns vor Bewerbungen kaum retten, sowohl von Familien als auch Männern und Frauen. Wir haben gar nichts gegen andere Ethnien oder Religionen, nur sollen diese in ihren eigenen Gemeinwesen glücklich werden. Wir wollen jedenfalls vermeiden, dass wir wie die Juden über 1.000 Jahre lang eine unterdrückte Minderheit sind, bevor wir auf die Idee kommen, uns in einem eigenen Staat zusammen zu tun. Wir möchten so leben, wie wir sind und wollen, dass das so bleibt. Wir haben fleißige, intelligente Leute. Deshalb können wir auch im Hochtechnologiebereich mithalten und entsprechend exportieren, was uns dann wieder einen hohen Lebensstandard sichert. Unsere Familien sind intakt, die Geburtenrate ist stabil und der Zusammenhalt in den Gemeinden gut. Den christlichen Glauben halten wir für wichtig, weil er die Gesellschaft zusammenhält. Unsere Kriminalitätsrate ist niedrig, Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen sind selten. Wir sind der Meinung, dass unsere ethnische und konfessionelle Homogenität ein Erfolgsfaktor ist.“

III. Jetsonia

Jetsonia ist eine freie Stadt, die von einem Privatunternehmen verwaltet wird. Jeder Einwohner zahlt einen festgelegten Betrag pro Jahr. Dafür stellt das Unternehmen Infrastruktur, Polizei, Feuerwehr, Notfallrettung und ein Zivilrechtssystem samt Gerichten zur Verfügung. Die Einzelheiten sind in einem Vertrag geregelt, der zwischen dem Unternehmen und jedem einzelnen Bewohner abgeschlossen wird. Dieser Vertrag kann vom Unternehmen nicht einseitig abgeändert und nach Ablauf der Probezeit auch nur dann gekündigt werden, wenn der Bewohner gegen seine vertraglichen Pflichten verstoßen hat. Streitigkeiten darüber werden vor einem unabhängigen Schiedsgericht verhandelt. Im übrigen können die Bewohner tun und lassen was sie wollen, solange sie anderen nicht schaden. Es gilt umfassende Meinungs- und Vertragsfreiheit. Es gibt keine Politik, kein Parlament und keine Zentralbank. Gegen sämtliche Eventualitäten des Lebens haben sich die Bewohner auf Wunsch privat versichert oder Selbsthilfegruppen gegründet, sei es zum Schutz vor Krankheit, Tod, Pflegebedürftigkeit oder Unfällen. Jeder kann neue Produkte und Dienstleistungen ohne Genehmigung oder Lizenz anbieten, und sich in jeder gewünschten Währung bezahlen lassen.

Der Sprecher des Unternehmens, Frank K., meint: „Dadurch, dass in Jetsonia eine minimale Regelungsdichte herrscht, konnten wir unglaubliche Innovationen hervorbringen und eine sehr hohe Produktivität erreichen. Die Menschen werden von der Politik nicht gegeneinander aufgehetzt, müssen sich nicht einmal um Politik kümmern, da diese nicht existiert. Sie müssen aber auch nicht befürchten, ständig mit neuen Regeln konfrontiert zu werden. Da Freihandel herrscht, wir somit alles günstig importieren können, und außer dem Jahresbeitrag keine Steuern zu bezahlen sind, haben auch Geringverdiener einen hohen Lebensstandard. Weil wir eine goldgedeckte Währung ohne Geldmengensteuerung haben, steigt die Kaufkraft unserer Bewohner beständig. Die Altersversorgung ist planbar und ermöglicht den Ruhestand, wann immer man das erreichte Niveau für ausreichend hält. Zu uns kann im Prinzip jeder aus der ganzen Welt kommen, der unsere Grundregeln akzeptiert. Wir schauen uns aber die Bewerber genau an, Kriminelle sowie politische oder religiöse Extremisten werden entweder gleich abgelehnt oder verlassen unsere Stadt sehr schnell wieder. Bei uns gibt es keine Umverteilung, keinen Mindestlohn und keinen Kündigungsschutz, alles wird zwischen den Beteiligten direkt ausgehandelt. Ich frage Sie: wenn wir so ein schlimmes Ausbeutersystem sind, warum kommen dann so viele Menschen aus der ganzen Welt freiwillig zu uns?“

Das sind nun drei völlig unterschiedliche Systeme des Zusammenlebens. Ihnen gemeinsam ist folgendes:

  • Erstens ist die Teilnahme daran freiwillig.
  • Zweitens haben sie im Europa von heute keine Chance auf Zulassung. Denn sie sind mit der jeweils herrschenden Rechtsordnung oder „Moral“ nicht in Einklang zu bringen.

Was wäre aber so schlimm daran, wenn sich Menschen, die das möchten, auf andere Weise organisieren, als die Mehrheit das für richtig erachtet? Ist es wirklich erstrebenswert, wenn die Welt überall gleich aussieht? Vielleicht gibt es gar kein optimales System für alle? Vielleicht nicht mal für den Einzelnen? Möglicherweise will ein junger Mensch ein paar Jahre bei den Waldgeschwistern verbringen, aus Idealismus und um sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Danach geht er nach Jetsonia, um sich eine wirtschaftliche Existenz und ein Vermögen aufzubauen. Schließlich verbringt er seinen Lebensabend im Fürstentum Christo (oder einem entsprechenden Gemeinwesen für andere Ethnien und Konfessionen), in dem er sich unter seinesgleichen wohl und geborgen fühlt.

Sind wir bereit, alle drei Modelle zuzulassen? Wenn nicht, dann sind wir das Problem für ein gedeihliches Miteinander aller Menschen, nicht Politiker, Großkonzerne oder Superreiche.

Der Schlüssel für ein friedliches Zusammenleben ist, andere nicht daran zu hindern, auf ihre eigene Weise glücklich zu werden.

Titus Gebel ist Unternehmer und promovierter Jurist. Er gründete unter anderem die Deutsche Rohstoff AG . Er möchte mit Freien Privatstädten ein völlig neues Produkt schaffen, von dem er sich bei Erfolg Ausstrahlungswirkung verspricht (freeprivatecities.com).